Auf der Suche nach dem verlorenen (Zeit-)gefühl

 

In einem Interview formulierte Hal Foster 2004 seine Kritik an einem Trend in der aktuellen Kunst, den er ironisch als „the trouble of walking into art“[i] bezeichnete. Erste Spuren dieser Entwicklung meinte er dort, waren jedoch bereits im Minimalismus der 1960er Jahre anzutreffen, als sich Körper und Raum zu signifikanten Größen für die Kunst zu entwickeln begannen. Seitdem haben Künstler_innen konstant vor Ort themenbezogen gearbeitet. Foster bezog sich in diesem Interview besonders auf die Arbeiten des dänischen Künstlers Olafur Eliasson. Dieser hatte 2003 The Weather Project in der Tate Modern realisiert. Eliasson konzipierte für das Museum eine Sonne, die den gesamten Raum ausleuchtete, wodurch dieser etwas Sakrales erhielt, und die Besucherinnen und Besucher sich auf den Boden legten, um die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen. Foster machte sich über die sonnenanbetenden Besucher_innen zunächst lustig, um am Ende des Gesprächs dem Projekt jedoch noch etwas Positives abgewinnen zu können. Es zeige nämlich, wie sehr der Künstler einen immersiven Sog erzeuge, der dem Wunsch der Besucher_innen nach Überwältigung entgegenkomme. Die Arbeit könne prototypisch für die Absicht des Künstlers gelten, alle Sinne der Besucher_innen mit einzubeziehen und gleichzeitig das Denken auszuschalten: „Leg dich hin und sei still![ii]
Doch die Sonne von Olafur Eliasson steht nicht nur für eine neue immersive Kunst, sondern wird durch den angestellten Vergleich mit William Turners Sonnenuntergang in einen historischen Kontext von Wahrnehmung und der Geschichte ihrer technischen Manipulation positioniert. Vor allem Jonathan Crary, der in den Techniken des Betrachters die Entdeckung des Körpers als Basis der menschlichen Wahrnehmung aufzeigte, hat seine Analyse explizit in Beziehung zu den Projekten von Eliasson gestellt. Doch bringe dieser, so Crary, im Unterschied zu den visuellen Experimenten des 19. Jahrhunderts basale Parameter ins Schwanken und stelle die Unterscheidung von betrachtendem Subjekt und Objekt medientechnisch in Frage.[iii]
Heute werden Medientechnologien als Atmosphäre und Bestandteil eines medienökologischen Systems beschrieben. Die medientechnischen Entwicklungen stellen uns vor die Herausforderung, die Differenz von medial und nichtmedial neu zu überdenken bzw. zu lernen, mit ihrer zunehmenden Ununterscheidbarkeit umzugehen.

Elementar werden
Alexander R. Galloway und Eugene Thacker beschreiben in ihrem Band The Exploit, wie das Inhumane der neuen Netzwerke das Humane zukünftig bestimmen wird und uns zwingen werde, so etwas wie eine Art Klimatologie des Denkens zu entwickeln.[iv] Medientechnologien werden elementar, das heißt, die technische Durchdringung von Gesellschaft und ‚Natur’ lässt die traditionellen Dichotomien von Natur und Kultur, Mensch und Tier, Körper und Geist real werden. Als Gilles Deleuze und Félix Guattari in den Tausend Plateaus vom „devenir autre“ geschrieben haben, vom Frau- und Tierwerden und anderem, haben sie dabei immer betont, dass das Werden real ist, nicht jedoch das Tier oder die Frau.[v] Sie haben also eine imaginäre Dimension nie aufgegeben und die psychoanalytisch als grundlegende Funktion erachtete Phantasie letztlich nie in Frage gestellt. Mit der Entwicklung virtueller Welten wurde der Anspruch erhoben, Phantasiewelten als reale anzubieten, in die die Userinnen und User tatsächlich eintreten. In meinem Band Vom Begehren nach dem Affekt[vi] habe ich zahlreiche Medienkunst-Beispiele besprochen, die mit einer derartigen virtuellen-affektiven Dimension operieren bzw. spekulieren.
Hier können die Projekte PainStation und LegShocker (der Gruppe fur) und der Emotion‘s Defibrillator (von Tobias Grewenig) genannt werden. Es handelt sich dabei um Maschinen und Software-Programme, die Schmerz zufügen, wenn beim Spielen Fehler gemacht werden, oder die die digitale Apparatur auf ihre physiologische Basis reduzieren, um deren Wirksamkeit umso greller zu demonstrieren. Auffällig ist, dass der auditiven Dimension bis heute nach wie vor wenig Beachtung zukommt, obwohl es auf der Hand zu liegen scheint, dass Affekt – Sound – Hören/Körper eine tiefe Verbindung unterhalten. Als Ausnahme zu nennen sind hier Digital Aesthetics[vii] von Sean Cubitt sowie Klang (ohne) Körper von Michael Harenberg und Daniel Weissberg[viii]. Für Cubitt tritt der akustisch in Beschlag genommene Raum des zeitgenössischen Kinos in Konkurrenz zum doppelseitigen Realitätsanspruch des Mediums. Durch die Perfektionierung der Soundtechnologie und der Organisation auditiver Daten im Raum erhalte das Bild einen Gegenspieler. Dieser Gegenspieler ist der Ton und sein Schallraum. Digitale Soundtechnologie erhält bei Cubitt den Status einer Raumkunst, die zwischen das alte Bündnis der filmischen Apparatur und seiner Herstellung von Realitätszeichen tritt. Der Kino-Hör-Raum bildet die Schnittstelle zwischen der medialen Virtualität des Leinwandgeschehens und der vom Tongeschehen komplett eingenommenen Realität des Zuhörerkörpers. Im Band Klang (ohne) Körper gehen die Autoren hingegen der Frage nach, was die „universelle Verfügbarkeit entkörperlichter synthetischer Klänge“ bedeutet, was es heißt, dass der bis ins 20. Jahrhundert hinein geltende Zusammenschluss von Musik und Bewegung sich gelöst hat und sich stattdessen neue Zusammenschlüsse beobachten lassen, wobei der Klang bzw. Sound eine quasi autonome Rolle einnimmt und zum Mitspieler wird. Es bilden sich „zwischen Phänomenen ästhetischer Simulation und solchen der Virtualität hybride Zwischenräume heraus, in denen das Verhältnis von An- und Abwesenheit, Macht und Fantasie, dem musikalischen Handwerk und der geistigen Medialität der Künste und ihrer spezifischen Ästhetiken grundlegend neu ausgelotet wird.“[ix]

Intervall und Affekt
Intervall und Affekt sind über die Zeit miteinander verknüpft. In dieser Zeit passiert nichts, sagen die einen, oder zu viel, sagen die anderen. René Descartes sprach erstmals von Bewegungen des Körpers, die die Seele nicht kontrollieren kann. Gottfried Wilhelm Leibniz hat diese „petites perceptions“ als etwas bestimmt, die nur die Schwelle der bewussten Wahrnehmung nicht überschreiten. Auch Baruch de Spinoza hatte Materie, Bewegung und Geist (im Sinne eines immateriellen Seins) als eine graduelle Abstufung verstanden und die unterschiedlichen Materialitätsgrade und -dichten aus der Kreuzung der Achsen Bewegung und Intensität abgeleitet. In seiner Spinoza-Lektüre führt Gilles Deleuze hierzu aus, dass jedes Ding sich durch seine Länge und seine Weite, also durch seine Längen- und Breitengrade bestimmt. Unter der Länge eines Körpers sind dabei die Verhältnisse von Schnelligkeit und Langsamkeit, von Ruhe und Bewegung zwischen den Teilchen zu verstehen, und die Weite umfasst die Gesamtheit der Affekte, das heißt alle intensiven Zustände.[x]
„Es gibt“, wird Henri Bergson kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts diesen Gedanken gegen die Strömungen seiner Zeit aufgreifend schreiben, „keine Wahrnehmung, die sich nicht in Bewegung fortsetzt”.[xi]  Und wiederum etwas später, parallel zur kybernetischen Weiterführung der cartesischen mechanistischen Auffassung, wird Maurice Merleau-Ponty Bewegung nicht nur als Primäres setzen, sondern Bewegung mit Sinn gleichsetzen und sie als dasjenige bezeichnen, wodurch das Sein sich enthüllt.
Es ist heute nun nicht zufällig, dass in der Diskussion um mediale Räume, um rahmenlose Bilder und affektive Strategien Bewegung als Zeit / in der Zeit eine neue Aufmerksamkeit erfährt. Es ist kein Zufall, dass Kunstpraxen wie Tanz und Musik besonderes Interesse auf sich ziehen, da sie mit bewegten Körpern in Zeit und Raum und mit Techniken der Körpermanipulation operieren, die sowohl die Robotnik als auch die Neurosciences besonders fasziniert: Wahrnehmung – Bewegung – Affekt.
Henri Bergson bestimmte die Zeit zwischen Reiz und Reaktion als Empfindungszone, Empfindung als Aufschub, Verzögerung. In diese schreibt sich das Zuviel des Affektiven ein, eine Potentialität, die auf eine Zukunft ausgerichtet ist, in der die Vergangenheit mit aufgehoben ist, oder wie Brian Massumi es einmal formuliert hat: “(P)astnesses opening onto a future, but with no present to speak of. For the present is lost with the missing half-second, passing too quickly to be perceived, too quickly, actually, to have happened.”[xii]

Als Hertha Sturm Mitte der 1970er Jahre die „fehlende halbe Sekunde“ in ihren Untersuchungen von Fernsehschauenden Kindern feststellte, reagierte man auf dieses Ergebnis gleichgültig. Derart empirisch ausgerichtete medienpädagogische Forschungen waren in jener Zeit eher verpönt bzw. das Interesse galt stärker ideologiekritischen und psychoanalytischen Theorien. Doch heute scheint die fehlende halbe Sekunde genau jene Zone/Dauer zu markieren, die für Fragen nach Medientechnologien, Kunst, Wirkung und Gehirn und ihren affektiven Bezüglichkeiten interessant sind.
Sturm hatte ‚gemessen’, dass Kinder auf traurige Filmsequenzen im ersten Moment fröhlich und auf fröhliche traurig reagierten. Grund wäre eben die fehlende halbe Sekunde, in der nichts passiert, zumindest nichts, was sich messen ließ. Massumi begegnet dieser fehlenden ½ Sekunde Mitte der 1990er Jahre und wird sie mit dem Intervall, wie von Deleuze in seinen Kinobüchern eingeführt, gleichsetzen. Deleuze hatte dort mit Rückgriff auf Bergson die Differenz zwischen dem einen Bild und der Bewegung zum nächsten Bild als Intervall aufgegriffen, um dieses als die Zone des Affekts zu bestimmen. Dieser zeige nämlich eine Bewegung an, die noch nicht Aktion ist. „Der Affekt ist das, was das Intervall in Beschlag nimmt, ohne es zu füllen oder gar auszufüllen. Er taucht plötzlich in einem Indeterminationszentrum auf, das heißt in einem Subjekt. [...] Es gibt also eine Beziehung des Affekts zur Bewegung im allgemeinen, [...] aber gerade hier, im Affekt, hört die Bewegung auf.“[xiii]Während Deleuze das Intervall durch den Affekt als offenes Moment aufrecht hielt, sind heute überall Bestrebungen zu beobachten, diese fehlende Zeitspanne als neue Interventionsplattform zu betrachten. So lässt sich eine Verbindung von biologischen und informationstheoretischen Ansätzen feststellen, die sich über die ‚Zeit’ und über das ‚Leben als Zeit’ und dessen ‚originärer Verspätung’ aufspannt. Dabei kommt dem Affekt als wiederentdeckte ontologische Basis (bereits Spinoza hat die Affekte als Basis einer Ontologie in seiner Ethik reklamiert) die Funktion zu, als das Medium dieser neuen Verbindung von Leben und Technik zu agieren – als jene Dauer zwischen dem ‚noch-nicht’ und ‚schon-gewesen’, wie Brian Massumi das Intervall des Affekts einmal umschrieben hat.
Aus der Entdeckung einer verlorenen Zeitspanne, die ihre Konsequenzen in die verschiedensten Richtungen aussendet, ist heute eine mächtige Ökonomie geworden, an der die unterschiedlichsten Disziplinen und gesellschaftlichen Segmente partizipieren.

Die fehlende halbe Sekunde und der Affekt sind  längst in den Laboren der Neurosciences angelangt, um dort als „short delay“[xiv] (Benjamin Libet) und „affective cognition“[xv] (John Protevi) die Genese von somatischen Markern bio-kulturell  zu bestimmen.

Aus den troubles von Hal Foster, die eine Kunst hervorruft, in die man eintaucht, sind heute medientechnische Formate geworden, die sich dadurch auszeichnen, dass sie keinerlei Rahmen und Begrenzung mehr anerkennen.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 30, „What a feeling!“


Marie-Luise Angerer ist Professorin für Medien- und Kulturwissenschaften an der Kunsthochschule für Medien Köln. Sie lebt in Berlin.

 

 

 

 

 

 



[i] Hal Foster: „Polemics, Postmodernism, Immersion, Militarized Space”, in: Journal of Visual Culture December 2004, Vol. 3 (3), S. 320–335.

[ii] Stefan Kaufer: „Leg dich hin und sei still. Olafur Eliasson hat in der Galerie Tate Modern in London ein überwältigendes Szenario installiert“, in: Frankfurter Rundschau online, letzter Zugriff 04.01.2004.

[iii] Vgl. Jonathan Crary: „Your colour memory: Illuminations of the Unforeseen”, in: www.olafureliasson.net/publ_text/texts.html, letzter Zugriff 05.05.2006.

[iv] Alexander R. Galloway,  Eugene Thacker: The Exploit. A Theory of Nerworks, Minneapolis/London 2007, S. 157.

[v] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (1980), Berlin 1992.

[vi] Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich/Berlin 2007, S. 34ff.

[vii] Sean Cubitt: Digital Aesthetics, London/New York 1998.

[viii] Michael Harenberg, Daniel Weissberg (Hg.): Klang (ohne) Körper. Spuren und Potenziale des Körpers in der elektronischen Musik, Bielefeld 2010.

[ix] Ebda., S. 9.

[x] Gilles Deleuze: Spinoza, Berlin 1988, S. 165.

[xi] Henri Bergson: Materie und Gedächtnis (1896), Hamburg 1991, S. 84f.

[xii] Brian Massumi: „The Autonomy of Affect”, in: Paul Paton (Hg.): Deleuze. A Critical Reader, Cambridge (Mass.) 1996, S. 217–239, hier: S. 224.

[xiii] Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M. 1989, S. 96f.

[xiv] http://www.consciousentities.com/libet.htm, letzter Zugriff am 02.11.2011.

[xv] John Protevi: „Ontology, Biology, and History of Affect“, in: Levi Bryant, Nick Srnicek and Graham Harman (eds): The Speculative Turn. Continental Materialism and Realism, Melbourne 2011, S. 393-405.