Vom Ungeist der Offensive

 

Spätestens die Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass es historische Lektionen gibt, deren Verinnerlichung permanent, weil von jeder nachwachsenden politischen und militärischen Elite aufs Neue verweigert wird. Dazu zählt, dass aggressiv eingesetzte militärische Gewalt in der Regel ein komplett untaugliches Mittel ist, anderen Staaten und Völkern den eigenen politischen Willen aufzuzwingen, regime change entweder zu verhindern oder herbeizuführen.
Diese Lektion hätte in den Rückzugskriegen der Kolonialmächte von Indonesien über Indochina bis nach Afrika (Kenia, Angola, Mocambique und andere) ebenso gelernt werden können wie aus dem Südvietnam-Debakel der USA und dem der Sowjetunion am Hindukusch. Zwar ist es in den letzten Jahren durch massive Militärinterventionen gelungen, die Regime der Taliban in Afghanistan, Saddam Husseins im Irak und Gaddafis in Libyen zu beseitigen, aber die dortigen (allesamt noch höchst prekären) Resultate ernsthaft zum Beweis des Gegenteils im Hinblick auf die genannte Lektion zu bemühen, dürfte schwer fallen. In den drei Fällen ist lediglich – wie auch schon häufig zuvor – Teufel mit Beelzebub ausgetrieben worden.
Dass die Annahme der Lektion durch Militärs verweigert wird, ist ursächlich wahrscheinlich überwiegend auf professionellen Selbsterhaltungstrieb mit dadurch bedingter zerebraler Lernblockade zurückzuführen. Das aber die den Militärs vorsitzenden Politiker immer noch und immer wieder deren Verweigerungshaltung teilen, das resultiert augenscheinlich daher, dass das Bestreben und der Wille, Macht auszuüben und andere zu beherrschen, nicht auszurotten sind – und dass zugleich die menschliche Dummheit offensichtlich tatsächlich zu den zwei Dingen gehört, die unendlich sind. Das meinte zumindest Albert Einstein und benannte als zweites das Universum. Aber bei dem war sich der Vater der Relativitätstheorie ja bekanntlich „noch nicht ganz sicher“.
Angesichts dieser Sachlage sind empirisch argumentierende oder wissenschaftlich analysierende Beweisführungen im Hinblick auf die Unsinnigkeit oder auch nur die äußerst geringe Effizienz militärischer Aggressionen zwar möglich, aber so sinnlos wie Heizsonnen in der Sahara um die Mittagszeit. Trotzdem – und im Unterschied zu letzteren – sind solche Beweisführungen höchst ehrenwerte Unterfangen, denn Staatsvölker bestehen ja gottseidank nicht nur aus Politikern und Militärs, weswegen denen allein das gesellschaftliche Terrain keinesfalls überlassen werden darf. Und dann gibt es ja auch noch andere Lehren wie die vom steten Tropfen, deren Rolle in der Geschichte – vor allem à la long – nicht unterschätzt werden sollte. Insofern ist die Schrift des auch Blättchen-Autors Lutz Unterseher, auf die hier aufmerksam gemacht werden soll, möglicherweise ein subversives Kabinettstückchen par excellence (in Sachen steter Tropfen) – ist sie doch als Band zwei in der Reihe Human Security erschienen, die von der „Helmut-Schmidt-Universität – Universität der Bundeswehr“ herausgegeben wird. Unterseher beabsichtigt nämlich nichts Geringeres als „eine sachliche Polemik […] gegen den Geist des Angriffes, der so vielen Nationen Unglück gebracht hat“. Und er setzt gleich zu Beginn noch eins drauf: Vor einigen Jahren habe ihn „ein hochmögender deutscher Politikwissenschaftler“ gebeten, zu einem Sammelband etwas Militärtheoretisches beizutragen, und er habe in diesem Kontext den Begriff der Verteidigung, wie ihn Clausewitz gebrauchte, in Bezug zu dem des Angriffs zum Gegenstand seiner Ausführungen gemacht. Daraufhin meinte der Politikwissenschaftler, im Zuge der Endredaktion als Herausgeber, „meine Diskussion mit dem bündigen Spruch ,Angriff ist die beste Verteidigung‘ zusammenfassen zu dürfen. Ich erblasste und verbat mir den unwillkommenen Einschub.“ Angriff ist die beste Verteidigung sei „deutsche Stammtischweisheit“.
Von diesen Ausgangspunkten her unternimmt Unterseher eine kleine, aber feine tour d’horizon durch die Militärtheorie (Sun Tze, Carl von Clausewitz, Basil Henry Liddell Hart) und -geschichte, wobei der Schwerpunkt in letztgenannter Hinsicht auf dem 20. Jahrhundert liegt und vom Dardanellen-Debakel der Briten im Ersten Weltkrieg bis zum Scheitern Israels im Libanonkrieg von 2006 reicht. Die strategische deutsche Schlappe in der Luftschlacht um England im Sommer/Herbst 1940 wird ebenso analysiert wie die operativ-strategische der Alliierten in der größten jemals durchgeführten Luftlandeoperation im September 1944 – abgesetzt wurden 20.000 Fallschirmjäger und 15.000 weitere Soldaten in Frachtgleitern –, deren heroisierte Verfilmung „Die Brücke von Arnheim“ (1977) später nur wenig von den tatsächlichen Ereignissen ahnen ließ.
Apropos Luftlandung: Das ist zugleich, wie Unterseher herausarbeitet, ein schönes Beispiel für die ganz spezifische Lernfähigkeit von Militärs (siehe dazu auch P.S.) und für die Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht durch übergeordnete Politiker. Seit Arnheim hat es keine großen Luftlande-Unternehmen gegen verteidigtes Gebiet mehr gegeben. Trotzdem unterhalten die USA, Russland und China dafür immer noch Kräfte im Umfang jeweils mehrerer Divisionsäquivalente.
Ein Einzelfall? Nicht ganz. Die letzte große amphibische Landungsoperation etwa war die der USA bei Incheon im Korea-Krieg (1950-1953). Trotzdem unterhält das US-Militär mit dem Marinecorps unverändert eine eigene vierte Teilstreitkraft speziell für derartige Operationen. Die ist mit einer Mannschaftsstärke von über 200.000 Soldatinnen und Soldaten größer als die gesamte Bundeswehr. Der Autor stuft diese Kapazität unter dem Blickwinkel seiner Kritik der Offensive denn auch klar als eine Hypertrophie ein, „die überhaupt nicht gebraucht wird“ und zugleich als „Symbol offensiver Machtprojektion und globalen Dominanzanspruchs“. Und was diese Teilstreitkraft praktisch darstellt – eine Killertruppe, die darauf gedrillt wird, jeden Befehl auszuführen und keinen zu hinterfragen –, das hat Stanley Kubrick in „Full Metal Jacket“ ja bereits 1987 gezeigt.

P.S.: Anzunehmen, dass historische Lektionen künftig besser gelernt werden könnten, besteht leider keine Veranlassung. Im Gegenteil – in der jüngsten Ausgabe von Foreign Affairs hat Karl Eikenberry dargelegt, „why the Afghan surge (die Aufstockung der US-Interventionsstreitkräfte um 30.000 Mann durch Obama in seiner ersten Amtszeit – W.S.) was destined for failure from the beginning“. Dezidiert werden dabei Parallelen zwischen der amerikanischen Niederlage in Vietnam und der Intervention in Afghanistan aufgezeigt. Lautet deswegen aber die Schlussfolgerung, auf wiederum gescheitertes Instrumentarium künftig zu verzichten? Weit gefehlt: Der Autor empfiehlt lediglich, vor der nächsten Intervention zur Aufstandsbekämpfung „a rigorous and transparent debate about its ends and its means“ zu führen. Also – alles wie gehabt. (Karl Eikenberry war US-Befehlshaber in Afghanistan von 2005 bis 2007 und US-Botschafter in Kabul von 2009 bis 2011.)

Lutz Unterseher: Tiefschläge: Dem Feind in den weichen Unterleib. Zur Kritik militärischer Bedrohung gegnerischen Hinterlandes, Lit Verlag, Münster 2013, 140 Seiten, 24,90 Euro.