Außer den Neunmalklugen sehen sich alle Beteiligten, Befürworter wie Gegner der Irakinvasion, durch Krieg und Kriegsfolgen mit unvorhergesehenen Fragen konfrontiert. ...
... Einfach zur Normalität zurückzukehren ist nicht möglich. Alle Seiten wissen das, auch wenn sie jetzt business as usual simulieren.
Anpassen oder "Maulhalten" sind derzeit en vogue. Das ist die unvermeidliche Konsequenz der Prügelpädagogik, mit der Washington unter Bush II auf Kritik reagiert. Aber so lässt sich das Konfliktknäuel nicht lösen, und schon gar nicht die atlantische Kooperation reparieren. Oder soll sie auf der Basis demonstrativer Unterwerfung neu begründet werden?
Zugegeben: Angesichts des Zustands der Weltordnung und ihrer Institutionen, ihrer versagenden Konfliktbewältigungskompetenz erscheint die Idee, die USA sollten als Hegemonialmacht eines unipolaren Weltsystems leisten, was das multipolare UN-System bisher nicht zu leisten vermochte, nicht von vornherein abwegig1. Fragt sich nur, ob die USA, unter Bush II oder sonst wem, tatsächlich willens und in der Lage sind, die ihnen angesonnene Weltordnungsrolle zu spielen. (Nach Bush I hat man das Wort "neue Weltordnung" lange nicht mehr gehört). Wenn ja, bleibt die zweite Frage, ob ein unipolares Ordnungssystem der Komplexität der modernen, wenn nicht multipolaren, so doch multikulturellen Welt gerecht zu werden vermag. Wenn beide Fragen mit Nein beantwortet werden müssen, bleibt dennoch die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem selbsternannten, aber failing hegemon - und sie bleibt außergewöhnlich komplex.
Sicher muss man einem Akteur, der sich anschickt, das internationale System aus den Angeln zu heben, in den Arm fallen ... Wenn man das kann! Sicher sollten die Betroffenen - im Fall einer durchgeknallten Hegemonialmacht schlicht "der Rest der Welt" - sich zusammentun, um gegenzusteuern. Aber wenn nicht nur jeder einzelne, sondern alle zusammen sich zu schwach fühlen? Oder das Interesse, sich bilateral mit der Hyperpuissance zu arrangieren, allgemein stärker ist und leichter zu befriedigen scheint als die Herausbildung einer Gegenkoalition?
Europa ist, gerade wegen seiner politischen und kulturellen Nähe zu den USA und der wirtschaftlichen Interdependenz, stärker und anders gefordert als etwa China, auch Russland, oder die islamische Welt.
Europa verdankt Amerika viel, und es braucht Amerika auch in Zukunft zum Ausgleich innerer Ungleichgewichte. Zugleich richten sich in aller Welt, auch in Amerika selbst, Erwartungen auf Europa: Die EU steht für eine andere Modernität, eine andere Entwicklungslogik innerhalb des westlichdemokratischen und marktwirtschaftlichen Systems. Es liegt in ihrem existenziellen Eigeninteresse, Fehlentwicklungen auf der anderen Seite des Atlantik entgegenzuwirken. (Aber auch in ihrer Macht? Auf wirtschaftlichem Gebiet ganz offenkundig. Hier hat Brüssel sich schon wiederholt gegen Washington durchsetzen können.) Andererseits liegt es im aufgeklärten Eigeninteresse Amerikas, dass Europa "funktioniert" und nicht in das selbstzerstörerische Gegeneinander der Vergangenheit zurückfällt. Wenn ein Don Rumsfeld und neokonservative Extremisten Gefallen an einer Spaltung der Europäer finden, so stehen dem viele Amerikaner gegenüber, in deren Hoffnungen auf eine Korrektur der Fehlentwicklungen im eigenen Land Europa - eine selbstbewusste Union - eine wichtige Rolle spielt.
Dabei steht natürlich außer Zweifel, dass letztlich nur die Amerikaner selbst sich von den Extremisten befreien können, die mit der Amtsübertragung an Bush jun. an die Schalthebel der Macht gelangten. Wenn Amerika nicht selbst zur Besinnung kommt, können andere, auch die Europäer, den Schaden nur einzugrenzen versuchen.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Kerneuropa-Gedan-ke? Manche sehen in ihm vor allem eine Missachtung der EU-Neumitglieder. Aber ohne die französisch-deutsche Kooperation gäbe es die Gemeinschaft, in die die "Neuen" drängen, ja überhaupt nicht. Deren Mentor Großbritannien hat seinerzeit der EWG zunächst die Gegengründung EFTA entgegengestellt; beigetreten ist es erst, als das Vorpreschen der Sechs Erfolg hatte. Auch Spanien gehört zu den späteren Profiteuren dieser kerneuropäischen Initiative, ebenso wie Portugal und andere, und auch die neuesten Neu-Euro-päer hoffen ja, in den Genuss der gleichen Entwicklungsdynamik zu kommen. Angesichts der bisherigen Avantgardefunktion Kerneuropas und deren offenkundiger Abhängigkeit vom deutsch-französischen "Kerneskern" erstaunt es, wenn viele heute nicht die Unterzeichner der Ergebenheitsadresse an Präsident Bush, sondern die Kerneuropäer der Illoyalität oder europaschädlichen Verhaltens bezichtigen.
Allmacht und Inkompetenz
Doch abgesehen von der Frage, ob es wünschbar sei: Können die Europäer es sich überhaupt leisten, auf amerikanischen Druck mit Gegendruck zu reagieren? Der Topos von der unvergleich-lichen Macht der Vereinigten Staaten in der heutigen Welt dominiert nach wie vor die Debatten. Aber wie stark ist the lone superpower wirklich?
Die Performanz während der letzten Kriege - Kosovo, Afghanistan, Irak - macht im Ergebnis durchaus keinen überwältigenden Eindruck. Amerikas Stärke reicht offenkundig, trotz beispielloser materiell-technischer Überlegenheit auf militärischem Gebiet, nicht einmal ansatzweise dazu aus, die teils beanspruchte, teils von außen angetragene Leviathan-Rolle auszufüllen.
Wo blieb die - in ihrer amtlichen Militärstrategie festgeschriebene - Fähigkeit der Vereinigten Staaten, "zweieinhalb" Kriege in verschiedenen Weltteilen gleichzeitig führen zu können. Zwei große Kriege und einen kleineren Regionalkonflikt ... Es mag auf ideologische Fixierungen der Pentagon-Füh-rung um Rumsfeld und Wolfowitz zurückzuführen sein, aber gegenwärtig drängt sich der Eindruck auf, der Bestand einsatzbereiter US-Kampftrup-pen reiche nicht einmal zur effizienten Besetzung eines flächen-und bevölkerungsmäßig so relativ kleinen Landes wie des Irak aus. Man kann die kriegsmüden Soldatinnen und Soldaten der 3. Infanteriedivision nur bedauern, die immer noch auf ihre Ablösung warten müssen ...
Dass die militärisch-materielle Präpotenz der Vereinigten Staaten zumindest im Pentagon und unter den außenpolitisch tonangebenden Ideologen ausgesprochen verdummende Wirkungen zeigt, demonstriert die eklatante Schwäche der "Hypermacht" bei buchstäblich allem, was die militärischen Drehbücher nicht vorsehen oder übersehen: Jeder Guerillavorfall brachte bereits während des Vormarschs, obwohl die GIs kaum in reguläre Kampfhandlungen verwickelt wurden, die ganze Operation ins Stocken - weil die "postheroische" Truppe auf jeden Eigenverlust am Rande der Hysterie, also meist völlig unverhältnismäßig und daher politisch kontraproduktiv reagiert.
Die "moralische" Verwundbarkeit dieser Militärmacht zeigt sich mittlerweile in zermürbender Permanenz, denn seit Präsident Bush im Mai den Krieg für erfolgreich beendet erklärte, sterben im besetzten Irak weiter, fast täglich, alliierte Soldatinnen und Soldaten (laut CNN vom 11. August kamen bis "Kriegsende" 139 Angehörige der Koalitionsstreitkräfte zu Tode und seither weitere 168). Und die öffentliche Meinung der Vereinigten Staaten zeigt bereits spür- und messbar Wirkung.
Die unvergleichliche Überlegenheit der zumindest militärisch stärksten Macht der Weltgeschichte scheitert an der Aufgabe, Bagdad nach den Bomben wieder bewohnbar zu machen, also mit Strom und Wasser zu versorgen, das Telefonnetz wiederherzustellen, Müll und Abwässer zu entsorgen ... Sie scheitert bereits in den ersten Tagen der Besatzung, weil sie Plünderungen nicht verhindern kann oder will. Was sie militärisch - wie im Sandkasten - gewonnen hat, verliert sie binnen Tagen und Wochen angesichts der verblüffenden Unfähigkeit, die Aufgaben des wirklichen Lebens zu lösen, also den eigentlichen "Ernstfall" zu bewältigen: die Mühen des Alltags.
Über die Genialität der Militärplaner lässt sich streiten, doch die Gedankenlosigkeit, Motivationsschwäche und Schwerfälligkeit, mit der Washington - unter den Augen der Welt - den Wiederaufbau angeht, spricht für sich. Der Kontrast zu den kriegslegitimierenden Neuordnungs- und Demokratisierungsversprechen für die gesamte Region verblüfft; nach der Diskrepanz zwischen Zerstörungs- und Wiederaufbauenergie schon in Afghanistan hätte man im Fall Irak ein wenig mehr Problembewusstsein der Befreier erwartet.
Die zu Tage tretende Schwäche der Hyperpuissance ist vielschichtig. Bemerkenswert, dass sie selbst militärisch zu Buche schlägt, denn eine Kriegführungsfähigkeit, die so extrem von der Minimierung der Eigenverluste abhängt, dass sie im Zweifel immer wieder auf Kosten der Begünstigten, der zu Befreienden, zu Demokratisierenden, mit der freien Marktwirtschaft zu Beglückenden geht - eine solche Kriegführungsfähigkeit kann kaum überzeugen; sie zerstört einfach zu viel von dem, was sie gewinnen helfen soll.
Nimmt man den Anspruch ernst, weltweit zu Gunsten dieser oder jener Werte intervenieren zu können, so dürften Afghanistan und Irak den Nachweis erbracht haben, dass er, wenn überhaupt, bis auf weiteres nicht umsetzbar ist, sei es weil die Kräfte, die Motivation oder der internationale Rückhalt fehlen, sei es schlicht der politische Wille. Jüngstes Beispiel: Liberia.
Jenseits des militärischen Bereichs, wo die materiell-technische Überlegenheit der USA unbestreitbar bleibt, aber doch eben selbst als militärische überraschend schnell an ihre Grenzen stößt, springen die Schwächen des "allmächtigen" Hegemonen ins Auge: die Unfähigkeit, sich seinen Krieg in der UNO oder auch nur im atlantischen Lager unstrittig legitimieren zu lassen; die Isolation in bzw. gegenüber globalen Institutionen und deren Mehrheiten, verbunden mit der Aufspaltung traditioneller Allianzen und der Entfremdung selbst engster Verbündeter; die Kläglichkeit der Ersatz-Koalitionen und -Alliierten (ein von Albanien bis Usbekistan wild zusammengewürfeltes Staatenalphabet an der Grenze der Groteske) und die Zwanghaftigkeit, mit der die Supermacht dennoch immer wieder solche Schein-Verstärkung und -Legitimierung zu präsentieren versucht; schließlich die selbstauferlegte Blindheit, die Abschottung gegenüber dem Erfahrungsvorsprung der vermeintlich Schwachen und Bescheideneren (UNO, EU, OSZE) und die wahrscheinlich nicht zuletzt hieraus erwachsende Schwäche bei der (Wieder-)Herstellung elementarer staatlicher und sozialer Institutionen und Regelungen (bezeichnenderweise gehörte der Hohn über die nation building-Ambitionen der Demokraten und Internationalisten zu den Wahlkampfschlagern George W. Bushs gegen Al Gore); hinzukommen Schwächen wie der fehlende "lange Atem" für Aufbauprojekte, die den jeweils nächsten Wahlkampf überleben müssten, und insbesondere die unübersehbar fehlende Bereitschaft, die Folgekosten und Folgeprobleme einer militärischen Konfliktlösungsstrategie zu tragen - oder auch nur die Verantwortung für das Zustandekommen einer effektiven, nicht allein zu Legitimationszwecken fingierten Wiederaufbau-Koalition auf sich zu nehmen.
Bange machen gilt nicht
Fazit: Die militärische Übermacht der USA bleibt nur so lange als Basis politischer Hegemonialansprüche nutzbar, wie andere Akteure, insbesondere die EU, die engen Grenzen ihrer Anwendbarkeit übersehen bzw. sich - aus welchen Gründen auch immer - sehenden Auges auf die amerikanische Selbstüberhöhung einlassen.
Dass Washington sich - Zuckerbrot hin, Peitsche her - nicht einmal einen Feldzug gegen den isolierten und perhorreszierten Saddam Hussein legitimieren zu lassen vermochte, sollte etwaige Zweifel nachhaltig entkräftet haben: Gegen andere Demokratien, gegen die EU-Staaten oder Japan lässt sich die überlegene Militärmacht der USA nicht einsetzen - selbst nicht in dem schwer vorstellbaren Fall inneramerikanischer Mehrheiten für einen solchen Versuch, moralischen und womöglich ökonomischen Selbstmord zu begehen.
Folglich taugt die amerikanische Überrüstung auch nicht dazu, sich Europäer oder Japaner gefügig zu machen
- es sei denn, diese sind sich ihrer (mili-tärischen) Unangreifbarkeit, ihrer Art überlegener Macht nicht bewusst, weil ihnen die geistige Unabhängigkeit fehlt, sich von Fehlentwicklungen des amerikanischen Modells abzusetzen; oder sie verfallen gar dem fatalen Irr-tum, ebenfalls auf den Primat militärischer Stärke zu setzen und zu versuchen, den amerikanischen Vorsprung zu verkürzen, obwohl sie diesen - bei klarem Verstand - weder einholen können noch wollen. Doch schon der Versuch, auf dem gleichen Wege zu folgen und aufzuholen, ginge auf Kosten der eigentlichen Stärken des westeuropäischen Modells, darunter der ökonomischen Ebenbürtigkeit.
Blairs Großbritannien lernt gerade the hard way, wie es einem gehen kann, wenn man seine politischen Prioritäten den amerikanischen unterordnet und beispielsweise die britische Rüstungsindustrie vertrauensvoll der Pentagon-Klientel anvertraut: Die letztere hat jetzt freien Zugriff auf alles Know-how der Briten, während diese sich in den nunmehr amerikanisch kontrollierten Sektoren der Branche mit knallharten US-Geheimhaltungspraktiken konfrontiert sehen.
Der Europäische Union selbst oder anderen Mitgliedstaaten derselben, auch den "Alteuropäern" des Pralinengipfels, dürfte es nicht wesentlich anders ergehen, wenn sie auf das Penta-gon-Paradigma einschwenken und ihre Sicherheit künftig prioritär (oder auch nur wesentlich stärker als bislang) militärisch zu definieren versuchen. So wie die rüstungswirtschaftlichen und "geis-tig-moralischen" Kräfteverhältnisse zwischen Washington und Brüssel oder Paris/Berlin aussehen, dürfte bei einem solchen Paradigmenwechsel eher wachsende Abhängigkeit von amerikanischen Rüstungsinteressenten, -technologien und -lieferanten sowie von den politischen Vorgaben des Military-Industrial Complex (Dwight D. Eisenhower) herauskommen als mehr sicherheitspolitische Handlungsfreiheit für die europäische Seite. Die erstrebte Fähigkeit, mit Amerika "auf gleicher Augenhöhe" verkehren zu können, kommt auf diesem Wege gewiss nicht zustande.
1 Vgl. dazu in den "Blättern" zuletzt Sibylle Tönnies, Ist das Völkerrecht noch zu retten? (7/2003, S. 778-781), oder etwa meine Überlegungen zuKarl Otto Hondrichs "Lehrmeister Krieg" (1992) in den Heften 3 und 4/1992, S. 366-376 und 426435.