Von Sagbarkeit, Sichtbarkeit und Prozessen der Rassisierung.
Im Januar 2013 zirkulieren zwei Debatten durch die deutschen Medien. Diejenige um die sogenannte Textmodernisierung von Kinderbuchklassikern, in denen u.a. das Wort „Neger“ ersetzt werden soll, und die Sexismusdebatte um männliche Politiker(zirkel) und „Herrenwitze“. Aktualisiert werden nicht nur alte Bilder, Wörter und Vorstellungen, aktualisiert wird dabei auch das laute Getöse der Anti-political-correctness-Fraktion, jener Diskursbeherrscher, die sich plötzlich mit der 'Gefahr' ihrer Normenthebung konfrontiert sehen. Die – weitgehend getrennt geführten – Debatten um Rassismus und Sexismus bilden Kreuzungspunkte. Was sie teilen, sind unter anderem die folgenden Fragen:
Wer ist Opfer? Wer ist Täter? Sind das eindeutige Positionen? Was wird gesagt, von wem, wem wird Gehör geschenkt, was wird übersehen, überhört? Und: Was bedeutet es, von neu vs. alt zu sprechen? Was heißt es, wenn wir sagen, hier spricht die Vergangenheit? Oder: Rassismus und Sexismus wiederholen sich? Was heißt Textmodernisierung, was bedeutet es, von Datierung zu sprechen, wie und wo findet Geschichtsschreibung statt, und welche Rolle spielen (Kinder-)Geschichten darin? Und schließlich: Wie hängen Sehen und Sprechen zusammen? Sehen wir, was wir benennen, oder sehen wir nur, was benannt ist? Oder läuft es genau umgekehrt?
Wissen (von, also über etwas) entsteht in einem historisch bedingten Zusammenspiel von Sichtbarem und Sagbarem, in dem sich beide gegenseitig in Anspruch nehmen, umklammern, Diskursivität und Evidenzen erzeugen, aber dennoch heterogen bleiben. Die Frage, wie genau Sichtbarkeit und Sagbarkeit korrelieren, ist damit zu allererst eine politische.
„Kinder, das sind keine Neger!“, belehrte die Wochenzeitung Die Zeit und behauptete damit, sie könne in der Tat differenzieren, genauer vorführen: die Verkettung zwischen den Menschen mit schwarzer Hautfarbe oder Schwarzer Identität und dem N-Wort trennen, die rassistische Verkettung zwischen Signifikat und Signifikant aufbrechen. Nicht: „Kinder, es gibt keine Neger“, sondern DAS sind keine „Neger“. Wie so viele andere publizistischen Organe, die sich um den Spracherhalt sorgen und Zensur wittern, argumentiert Die Zeit also bemüht dekonstruktiv und zugleich besorgt um die geschichtliche Korrektheit. „Neger“, das sei ein historisch zu platzierendes Wort, das zu Zeiten der Entstehung der Bücher von Ottfried Preußler, Astrid Lindgren und Michael Ende, nicht nur nicht problematisch gewesen sein soll, es habe auch damals schlicht nicht signifiziert, also niemanden wirklich gemeint. So schreibt Özlem Topcu in einem an sich luziden Text ebenfalls in der Zeit, dass es damals, als Astrid Lindgren das erste Pippi Langstrumpf-Buch schrieb, noch keine Schwarzen Schweden gegeben habe. Und: nicht Lindgren sei rassistisch gewesen, sondern die Welt, in der sie lebte. Das klingt ein bisschen nach Freud’scher Teekessel-Logik: es gab Rassismus, aber keine nationalen/lokalen Objekte des Rassismus und innerhalb der Bedingung Rassismus war man zwar Teil, aber nicht beteiligt? Ich will Topcu hier nicht diskreditieren, vielmehr exemplarisch die Widersprüche in ihrem Text produktiv machen, gerade weil sie sich gegen das „Stellt euch nicht so an“ anschreibt: „Weiße dürfen nicht bestimmen, wann Schwarze sich gekränkt fühlen dürfen“, so der Untertitel ihres Textes. Als Einstieg wählt Topcu eine Szene aus Quentin Tarantinos neuem Film Django Unchained (auch so ein Debattenherd...). Sie beginnt ihren Text also mit einem (Film)Bild, dem N-Wort und der Verschränkung von Sagbarkeit und Sichtbarkeit. Der gerade befreite Ex-Sklave Django Freeman reitet durch eine Stadt, die Menschen auf den Straßen glotzen: „Die haben noch nie einen Nigger auf ’nem Pferd gesehen.“ (Django) „Im Moment starren auch hierzulande sehr viele weiße Menschen“, so Topcu, und meint damit das Reden bzw. Nicht-Sprechen-Wollen über Rassismus und den Konnex von Sprache und V/Erkennungsdiensten. Sie ruft damit die „Epidermisierung“ auf, die Frantz Fanon so prägnant in Schwarze Haut, weiße Masken analysiert hat: „Mama schau doch, der Neger da, ich hab' Angst!“, so die viel zitierte Szene, mit der Fanon den Prozess der Rassisierung beschreibt, der aus zahlreichen weißen Anekdoten und Details konstruiert ist. Erzählungen, die das Kind zitiert, Kinderspiele wie „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann“. Und den Kinderbuchsprachkritik-Kritiker_innen sei entgegnet: Selbstverständlich sehen wir so, wie wir gelernt haben zu sehen „im Klassenzimmer unserer Gesellschaft“ (Sander Gilman). Und selbstverständlich kann in diesem Klassenzimmer auch anders und anderes gelehrt werden. Auch Topcu beendet ihren Text mit der Aufforderung, „Minderheiten“ könnten „[s]ich ungefragt in die Debatten [...] drängen, beispielsweise. Und neue Bücher [...] schreiben, für eine neue Zeit.“ In der Frage der Zeit(lichkeit) liegt jedoch ein grundsätzliches Missverständnis, nicht nur bei Topcu: Anstatt die Notwendigkeit, die jeweiligen Verschränkungen von Sichtbarkeit und Sagbarkeit in einer je zu erfassenden ‚Archäologie der Gegenwart’ zu analysieren, geht sie von der Art Fortschrittslogik aus, die die dynamische Relation von Gegenwart und Vergangenheit nicht anerkennen kann. So gäbe es erst heute „sprechfähige“ „Dazugezogene“. Jene also, die, so Topcu, selber bestimmen wollen, welche rassistischen Anrufungen sie nicht hören (oder lesen) wollen. Schwarze Haut, weiße Masken erschien im französischen Original 1952, Die kleine Hexe 1957, der erste der drei Pippi Langstrumpf- Bände auf Deutsch 1950. Topcu verbleibt dem historisch spezifischen deutschen Gefüge verhaftet, in der zwar die Analyse von Rassismus heute zutreffenderweise mit Migration verknüpft wird, diese aber stets erst ab 1955 gedacht (also mit dem Abschluss des ersten sogenannten Anwerbeabkommens und damit dem offiziellen – und nicht realen – Beginn der sog. Gastarbeitermigration) und die Geschichte des Kolonialismus ausgeblendet wird. Kurz: die Rassismusanalysen wurden erweitert (auch um den Begriff selbst; lange genug war nur von Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit die Rede), aber Schwarze Deutsche werden immer noch nach ihrer Herkunft gefragt. Topcu wiederholt so letztlich jene Zeitlichkeit, die die Rede vom „Migrationshintergrund“ nie loszuwerden beabsichtigt, und sie wiederholt mindestens problematische Vorstellungen von einer Art Zeit-Bestandsschutz, die auch die Sprachschützer und Anti-political-correctness-Agitatoren, „die nie auch nur aus der Entfernung von einem dekolonisierenden Gedanken angeweht wurden“ (Diedrich Diederichsen) vertreten und damit eben nicht erkennen können, dass Geschichte „kein Befund [ist], sondern ein Verhältnis zwischen zwei Variablen.“ (Burkhard Müller).
Antirassismus ist kein Sprechakt (Sara Ahmed). Und Sprachanpassungen sind nie absolut und sie sind nicht abschließend. Ein Kinderbuch ohne das N-Wort macht daraus noch lange kein Paradebeispiel für Antirassismus. Aber: Was wäre das, ein antirassistisches Buch? Ein Buch, das nicht rassistisch ist, oder ein Buch, das Rassismus kritisch analysiert? Was hat es mit dem Ursprung der Kinder- und Jugendliteratur im Auftrag moralischer Erbauung und Aufklärung in dieser Hinsicht auf sich? Müsste es nicht eher um eine Neuanordnung jenes Wissens gehen, das Sehen und Sagen korreliert? Die Verschaltung von Sagbarkeit und Sichtbarkeit, die so zentral ist für den Prozess der Rassisierung, ist und bleibt in Verhandlung. Denn: Nicht nur das „audio-visuelle Archiv ist disjunktiv“ (Gilles Deleuze), auch das gesprochene, geschriebene, erzählte.
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 28, Frühling 2013, „Critical Correctness“.