Wer verriet die Sowjetunion?

Die Erfahrung lehrt, dass der gefährlichste Augenblick
für eine schlechte Regierung der ist,
wo sie sich zu reformieren beginnt.
Alexis de Tocqueville

Die zentrale Frage, um die dieses Buch kreist, wird in seinem Titel gestellt und ziemlich am Schluss der „Beweisführung“ nochmals ausführlicher so formuliert: „Wer war […] der Hauptakteur bei der Zerrüttung der Sowjetunion? Wer trägt die Schuld an all dem Übel, das mit schrecklicher Gewalt über das Volk hereingebrochen ist?“ Und um es gleich vorwegzunehmen – der Autor, Jegor Ligatschow, langjähriger Spitzenfunktionär der KPdSU und von 1985 bis 1987, also in der Anfangsphase der Perestroika, in Partei und Staat nächst Michail Gorbatschow, dem neuen Generalsekretär, zweiter Mann sowie dessen Mitstreiter und Vertrauter, dann aber einer seiner prominentesten Gegenspieler, drückt sich nicht um eine klare Antwort: „Gorbatschow.“ Weil jedoch das Titanenwerk, die Zerstörung der Sowjetgesellschaft und ihres Staates, für einen allein wohl doch nicht zu wuppen gewesen wäre, stellt er ihm eine Art advocatus diaboli zur Seite, Alexander Jakowlew. Der war – wie Ligatschow – Politbüromitglied und gehörte somit ebenfalls zum innersten Kreis der Macht. Jakowlew ist ein eigenes Kapitel gewidmet, betitelt „Die graue Eminenz“, und darin trifft Ligatschow die Feststellung: „In vielen prinzipiell wichtigen […] Situationen […] gewann letzten Endes Jakowlews Standpunkt die Oberhand.“.
Ligatschow, der nach 1987 von den Parteigängern Gorbatschows und nicht zuletzt von westlichen Medien zunehmend mit dem Etikett des konservativen Reformgegners und -blockierers versehen wurde, war kein intellektuell unterbelichteter Apparatschick, der nicht erkannt hätte, dass sich die UdSSR seit Ende der 70er Jahre auf einen toten Punkt zubewegte und sich in einer bereits sehr kritischen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung befand, die durch Stagnation gekennzeichnet war und in der die wissenschaftlich-technische und die wirtschaftliche Entwicklung der UdSSR gegenüber dem Westen stark abfielen. Bürokratie, Trägheit und Korruption führten das Zepter. Ligatschow hielt daher einen „Prozess der Selbstreinigung unserer Gesellschaft“ für erforderlich und gehörte bereits zu den Parteigängern von Juri Andropow, in dessen Zeit als Generalsekretär (1982-1984) Reformanstöße möglich schienen. Er unterstützte den Gorbatschowschen Schwenk zu Glasnost und Perestroika ab 1985. Dabei hielt Ligatschow das sowjetische System, daran lässt er keinen Zweifel, für grundsätzlich reformierbar und für ebenso grundsätzlich erhaltenswert, inklusive des Machtmonopols der KPdSU.
Nicht klar ersichtlich wird allerdings, welche konkreten konzeptionellen Vorstellungen er zu einer Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft sowie zu deren operativer Umsetzung hatten, und dazu, wie weit die Perestroika dabei gehen sollte. In dieser Hinsicht bleibt Ligatschow vage-blumig – bei Formulierungen wie „Erneuerung des Sozialismus“ und „Befreiung von den Zwängen, die die Gesellschaft fesselten“. Allerdings gibt es mehr als nur Indizien dafür, dass er die Grenzen für notwendige Veränderungen relativ eng sah. Oder wie anders soll man verstehen, dass der Autor immer wieder das Gute im Schlechten findet oder zugunsten des ersteren die Schattenseiten unterschlägt oder die finstersten Kapitel der sowjetischen Geschichte euphemistisch bagatellisiert? So seien zwar in der Vergangenheit „die Wahlen der […] ,Volksdeputierten’ stark formalisiert gewesen“, aber das hieße ja nicht, dass es „keine würdigen Volksvertreter gegeben hätte“. An anderer Stelle singt er ein Loblied auf die „kollektive Führung“ an der Spitze der KPdSU. Die hat es aber real mindestens seit Stalins Machtübernahme zu keinem Zeitpunkt gegeben; im Gegenteil – der Generalssekretär war stets mit einer geradezu absolutistischen Machtfülle, auch gegenüber seinen Politbürokollegen, ausgestattet. Und die Periode des besonders blutigen Terrors in den 30er Jahren subsummiert Ligatschow unter „Nöte, die die älteren Generationen zu tragen hatten“.
In der Qunitessenz tut man Ligatschow wahrscheinlich nicht Unrecht, wenn man ihm ein begrenztes Reformbestreben mit dem Ziel attestiert, besonders grobe Entartungen der sowjetischen Gesellschaft unter strengster zentraler Steuerung durch das Machtzentrum zu beseitigen, ohne das System als solches anzutasten. Ob von einer derartigen Linie im Endeffekt mehr als nur kosmetische Korrekturen zu erwarten gewesen wären, bleibt eine offene Fragen, da Ligatschow und seine „Fraktion“ sich bekanntlich nicht durchsetzen konnten.
Was sich aus Ligatschows Sicht stattdessen unter der Führung Gorbatschows vollzog, liest sich folgendermaßen: „An die Stelle der ursprünglichen korrumpierten Elemente traten geradezu augenblicklich […] noch üblere, allseits korrumpierte Kräfte, die dann die Bestrebungen zur Gesundung […] abwürgten.“ Die Frage, ob nicht genau dies eine geradezu zwangsläufige Folge von 70 Jahren innenpolitischer Fehlentwicklung, Repression und Privilegienwirtschaft sowie der dadurch entstandenen Machtstrukturen mit ihren Mechanismen und Kadern war, stellt sich für Ligatschow gar nicht. Auch dies markiert seine Grenzen.
Die hindern ihn allerdings nicht daran, mit zahlreichen Beispielen zu belegen, dass Gorbatschow und seine Entourage den Gesamtprozess der Perestroika ohne eine entsprechend durchdachte Gesellschaftskonzeption in Gang gesetzt hatten und vor allem ab 1987 immer wieder Veränderungen im politischen und im wirtschaftlichen Bereich anstießen – ohne klare Zielvorstellungen, ohne auch nur sichtbar nach Antworten auf die damit aufgeworfenen Fragen zu suchen. Und auf andere Entwicklungen wie die aufkommenden nationalistischen und separatistischen Strömungen in diversen Sowjetrepubliken wurde zu spät, mit den falschen Mitteln, was die Vorgänge weiter anheizte, und letztlich überaus erfolglos reagiert. Damit wurde, Ligatschow zitiert die Kritik eines Teilnehmers am II. Kongress der Volksdeputierten der UdSSR Ende 1989, „die Ampel auf grün für den Zerfall der Sowjetunion“ gestellt.
Ligatschow beklagt in diesem Zusammenhang einen zunehmenden und zunehmend durchgehenden Mangel an Führung durch Gorbatschow und seine Mannschaft und reiht Beobachtungen und Sachverhalte – vor allem zu den damaligen Vorgängen in Georgien und in Litauen – aneinander, mit denen er den Eindruck vermittelt, dass in einer sich dem gesellschaftlichen Chaos nähernden Gesamtentwicklung die Führung jedoch nicht einfach verloren ging, sondern freiwillig, ja vorsätzlich aus der Hand gegeben wurde, um einerseits den Parteiapparat zu desorientieren beziehungsweise zu lähmen und andererseits den gesellschaftlichen Prozessen, die zur Erosion der Führungsrolle der KPdSU sowie der zentralen Staatsmacht führten, freien Lauf zu lassen.
Verantwortlich dafür macht Ligatschow nicht zuletzt ein gravierendes persönliches Manko des damaligen Generalsekretärs: „Gorbatschow stellte in seinen Reden seine Position zu dieser oder jener Frage dar, kämpfte aber in der Realität nicht für ihre Verwirklichung.“ Dafür, dass dies zutrifft, gibt es nun allerdings Bestätigungen und Belege auch außerhalb von Darstellungen, wie Ligatschow sie hier vorgelegt hat. Ein Beispiel aus dem internationalen Bereich: Am 21. September 1990 machte Oskar Lafontaine in einem Gespräch zwischen einer unter seiner Leitung stehenden SPD-Delegation und Gorbatschow in Moskau auf die sich abzeichnende Diskriminierung ehemaliger SED-Mitglieder in der Bundesrepublik aufmerksam, die er strikt ablehnte. Gorbatschow erwiderte, dass „eine ,Hexenjagd’ […] einen sehr ungünstigen Eindruck (in der UdSSR – Anmerkung W.S.) hervorrufen“ würde, und die SPD-Vertreter unterstrichen: „Es wäre wichtig, sich damit an den Kanzler zu wenden […].“ Gorbatschow richtete daraufhin ein entsprechendes Schreiben an Helmut Kohl, das wenige Tage später in Bonn überreicht wurde. Darin wandte sich Gorbatschow gegen „die bereits begonnene Verfolgung von Mitgliedern der SED und ihrer Führung im Geiste eines primitiven Antikommunismus“. Die Bundesregierung reagierte weder offiziell noch innenpolitisch. Und Gorbatschow seinerseits kam nie wieder auf dieses Thema zurück, auch nicht bei seinem nächsten direkten Zusammentreffen mit Kohl am 9. November 1990.
Der tragende Ton der Darstellung Ligatschows ist einer der Trauer, gepaart mit unterdrücktem Zorn – da ist kein Platz, auch noch das Tragikomische, zum Teil Groteske, nicht selten Widersprüchliche und Undialektische so mancher Passagen der eigenen Darstellung zu empfinden. Die betreffenden Stellen wiederum sind besonders erhellend für den Leser, wenn er wissen will, mit was für einem zoon politicon er es bei diesem Autor zu tun hat.
Was bleibt nach Ligatschows Lektüre als Fazit für die sowjetischen Jahre von 1985 bis 1991? Gorbatschow und seine Mannschaft wie auch ihre innenpolitischen Antipoden lagen, was ihre Ziele anbetraf, zweifelsohne weit auseinander, aber eine Eigenheit einte sie möglicherweise doch, die böse Zungen vielleicht als typisch sowjetisch bezeichnen würden und die einer der maßgeblichen Akteure im postsowjetischen Russland, Viktor Tschernomyrdin, einmal trefflich so formuliert hat: „Wir wollten nur das Beste, aber dann kam alles wie immer.“

P.S.: Nachtrag für Verschwörungstheoretiker – man kann Ligatschows Buch natürlich auch als Eins-zu-eins-Beleg für folgendes Geständnis Gorbatschows verstehen: „Das Ziel meines ganzen Lebens war die Vernichtung des Kommunismus, dieser unerträglichen Diktatur gegen die Menschen. Von meiner Frau, die diese Notwendigkeit noch eher als ich erkannte, wurde ich dabei voll und ganz unterstützt. Gerade um dieses Ziel zu erreichen, nutzte ich meine Stellung in der Partei und im Lande. Eben zu diesem Zweck drängte mich meine Frau die ganze Zeit dazu, immer höhere Positionen im Lande einzunehmen. Als ich mich persönlich mit dem Westen bekannt gemacht hatte, verstand ich, daß ich von dem gestellten Ziel nicht ablassen durfte. Um dieses zu erreichen, mußte ich die ganze Führung der KPdSU und der UdSSR ersetzen, und ebenso die Führung in allen sozialistischen Ländern. Mein Ideal war in jener Zeit der Weg der sozialdemokratischen Länder … Die Welt wird ohne den Kommunismus besser aussehen. Nach dem Jahr 2000 wird eine Epoche des Friedens und allgemeinen Blüte anbrechen.“
Wo Gorbatschow das gestanden hat? 1999 an der amerikanischen Universität in Ankara. Wer das dokumentiert? Unter anderem der Publizist Klaus Huhn in seiner Schrift „Wahrheiten über Gorbatschow“ (edition ost, Berlin 2009). Dort ist als Quelle allerdings nur – dies aber wörtlich – angegeben: „zit. aus der Austrittserklärung des Kommunisten Gossweiler aus der PDS am 25.1.2001“.
Bloß der Vollständigkeit halber: Google kennt keine amerikanische Universität in Ankara.

Jegor Ligatschow: Wer verriet die Sowjetunion, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2012, 320 Seiten, 16,95 Euro.