Es war die größte Konferenz, die von der Bundesrepublik je ausgerichtet wurde. 1.000 Teilnehmer aus 85 Ländern und 15 internationalen Organisationen berieten am 5. Dezember dieses Jahres in Bonn über das weitere Schicksal von Afghanistan. Allein 60 Außenminister hatten sich angemeldet, darunter die zuständigen Minister der (mit Ausnahme Pakistans) wichtigsten Staaten des regionalen Umfelds wie China, Indien, Iran, Russland, Türkei sowie der meisten NATO-Länder. Der Petersberg war zu klein für diesen Ansturm. Dort gab es vor genau zehn Jahren schon einmal eine Konferenz zu Afghanistan – damals noch voller Hoffnung und Euphorie nach dem Sieg über Al Kaida und die Taliban.
Doch die Erwartungen der Konferenz von 2001 wurden nicht erfüllt, von den Festlegungen nur wenig umgesetzt. Statt eines stabilen Friedens kamen die Taliban und die Warlords wieder zurück und verwickelten die internationalen Truppen in einen für sie aussichtslosen Kampf. Die vermeintlichen Befreier wurden für große Teile der Bevölkerung zu Invasoren und Besatzern. Statt Demokratie etablierte sich unter der Präsidentschaft von Karsai ein korruptes und bürokratisches System. Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit nahmen zu. Natürlich gab es auch Fortschritte. Nicht alle Provinzen werden gleichermaßen von den Taliban beherrscht oder terrorisiert. Es wurden Krankenhäuser gebaut, Schulen und Straßen. Aber in den Krankenhäusern fehlen die Ärzte, in die Schulen werden aus Angst vor Repressionen kaum noch Mädchen geschickt und auf den Straßen im Lande kann man nicht fahren – zumindest nicht als Ausländer –, weil sie von den Taliban oder privaten Milizen überwacht werden. Milliarden von Euro und Dollar an Hilfsmitteln verschwanden spurlos in privaten Kanälen und stabilisierten die Stagnation für Wirtschaft und Politik. Kontinuierlich hat sich in den letzten zehn Jahren die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert. Die Zahl der Kriegsopfer bei Kombattanten und Zivilbevölkerung stieg fortlaufend an. Eine wahrhaft ernüchternde Bilanz!
Das war die Ausgangssituation für die jetzige Konferenz, die die Hoffnung auf eine durchgreifende Lösung von vornherein in Grenzen hielt. Aber es sollten zumindest die beteiligten Parteien und Akteure sowie alle hilfswilligen Kräfte der Welt an einen Tisch gebracht werden. Im Vorfeld der Konferenz wurde jedoch bald klar, dass die vielleicht wichtigsten Akteure nicht daran teilnehmen würden: die Taliban und andere Widerstandskämpfer. Es fanden sich keine Ansprechpartner, die dazu bereit gewesen wären. Kurz vor der Konferenz schied dann noch mit Pakistan ein weiterer Schlüsselpartner für eine konstruktive Lösung aus. Die USA hatten einen pakistanischen Militärposten bombardiert und dabei zwei Dutzend pakistanische Soldaten getötet. Man kann Pakistan die Protesthaltung nicht übel nehmen – selbst wenn es offen blieb, ob die Aktion ein Irrtum oder Absicht gewesen sein sollte. Es machte nur deutlich, dass mit Afghanistan allein eine Lösung nicht möglich ist.
Das Ergebnis der Konferenz war dann auch so mager, dass sich die großen Medien geradezu schämten, darüber zu berichten. Eigentlich gab es auch gar nichts zu vermelden, was nicht schon vor der Konferenz vermeldet worden war. Nach einem Tag war die ganze Konferenz auch wieder aus dem Blick der medialen Öffentlichkeit verschwunden. Es lohnt sich dennoch, ein paar Worte darüber zu verlieren – zumindest unter dem Aspekt, worauf wir uns in Zukunft einzustellen haben.
Die Abschlusserklärung enthält drei Grundaussagen. Erstens: Die internationale Gemeinschaft sichert Afghanistan bis mindestens 2024 weitere Hilfe zu. Zweitens: Die Regierung in Kabul verpflichtet sich als Gegenleistung dafür zu demokratischen Reformen und zur Korruptionsbekämpfung. Drittens: Der Abzug der Kampftruppen bis 2014 wird bekräftigt; bis dahin werde Afghanistan selbst die Sicherheitsverantwortung übernehmen. Die Vereinbarungen sind so vage und unverbindlich, dass zumindest Skepsis angesagt ist, ob sie von beiden Seiten realisierbar und ernst gemeint sind.
Da sind zunächst die versprochenen Hilfsleistungen. Konkrete finanzielle Zusagen wurden in Bonn nicht gemacht. Zu diesem Thema soll es 2012 in Tokio eine eigenständige Geberkonferenz geben. Der afghanische Finanzminister Omar Sachilwal bezifferte am Rande der Konferenz schon mal einen Finanzbedarf von sieben Milliarden Dollar, die jährlich für Entwicklung und Sicherheit von der internationale Gemeinschaft zu erbringen sind. Es scheint fraglich, ob diese Summe reicht. Schon gegenwärtig kosten die 300.000 afghanischen Soldaten und Polizisten sechs bis acht Milliarden Dollar jährlich. Die Zahl der Sicherheitskräfte soll aber bis 2014 auf über 350.000 Mann ansteigen. Angesichts der weltweiten Finanz- und Währungskrise dürfte es schwierig werden, die benötigten Mittel aufzubringen – insbesondere für die zivilen Entwicklungsprojekte.
Die zweite Grundaussage der Konferenz betrifft den Reformprozess im Lande. Hierbei haben sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die afghanische Zentralregierung schon in den vergangenen zehn Jahren versagt. Der Westen hat sich auf die militärische Auseinandersetzung konzentriert und Karsai auf die Festigung seiner Macht. Der Aufbau einer effektiven Verwaltung beginnt faktisch bei Null. Die Haltung des Westens war geprägt von einem tiefen Unverständnis des Funktionierens der afghanischen Gesellschaft und von Illusionen über einen Export der parlamentarischen Demokratie. Insofern wurde es zehn Jahre lang versäumt, geeignete Formen zur Einbindung der afghanischen Bevölkerung in die Umgestaltung ihres Landes zu schaffen. Die Regierung Karsai hat sich als unfähig erwiesen, die afghanische Zivilgesellschaft einzubeziehen. Sie hat deren Entwicklung eher behindert als gefördert. Dabei liegt hier die entscheidende Hoffnung für den Transformationsprozess des Landes. Und hier gab es auch das eigentlich neue Signal der Konferenz. Erstmals traten Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft mit einem eigenständigen Programm vor den internationalen Regierungsvertretern auf. Die Stärkung dieser Kräfte sollte im Zentrum der weiteren internationalen Hilfe für den Reformprozess des Landes stehen.
Die dritte Grundaussage bezieht sich auf die Übernahme der vollen Sicherheitsverantwortung durch Afghanistan selbst und den Abzug der ausländischen Truppen. Genauer gesagt geht es lediglich um die sogenannten Kampftruppen. Nach neuesten Aussagen aus dem NATO-Hauptquartier in Brüssel sollen auch nach 2014 noch mindestens 15.000 Soldaten im Lande bleiben. Und dazu dürften letztlich auch deutsche Soldaten gehören. Nicht gerechnet sind hierbei die sogenannten „privaten Vertragsnehmer“, also Söldnertruppen, von denen es in Afghanistan bereits mehr als 100.000 geben soll. Einen Abzugsplan gibt es noch nicht. Verteidigungsminister de Maizière bekräftigte erst vor wenigen Tagen, dass ein Abzug nur dann erfolge, „wenn die Lage es zulässt“. Alles ist möglich. Außerdem haben sich die USA bereits im November von der Loya Jirga, der afghanischen Stammesversammlung, mit Unterstützung Karsais langfristig die Aufrechterhaltung von vier Militärstützpunkten zusichern lassen. Auch ihre Militärbasen in Kirgistan und anderen zentralasiatischen Republiken wollen die USA bestehen lassen. Wahrscheinlich werden Deutschland und Frankreich ihre militärischen Umschlagplätze in Usbekistan und Tadschikistan über das Jahr 2014 hinaus erhalten wollen. Dabei geht es keineswegs nur um Afghanistan, sondern um die Wahrung politischer und ökonomischer Interessen in der Region insgesamt. Die Androhung und Anwendung von Gewalt wird also weitergehen – von beiden Seiten. Von den USA und ihren Verbündeten mit Drohnen und „Spezialkräften“, von den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen mit Anschlägen alter und neuer Art. Von den Kämpfen zwischen den verfeindeten Gruppen innerhalb Afghanistans ganz abgesehen. Die kriegsmüde westliche Welt wird es vielleicht nicht mehr wahrnehmen wollen.
Es besteht also kein Grund, sich die Ergebnisse der Konferenz schön zu reden und die regierungsoffizielle Selbstzufriedenheit zu teilen. Eine nachhaltig positive Entwicklung ist nicht in Sicht. Vielleicht wäre ein labiles inneres Gleichgewicht schon ein Erfolg. Aber auch dazu bedarf es gewaltiger Anstrengungen, die vor allem in der Region selbst zu bewältigen sind. Das Schlüsselproblem für die Stabilisierung und Entwicklung Afghanistans ist eine Lösung der zwischenstaatlichen Konflikte in der Region, insbesondere eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Pakistan und Afghanistan sowie zwischen Pakistan und Indien. Dazu bedarf es umfangreicher vertrauensbildender Maßnahmen zwischen den Ländern selbst. Die NATO ist hierfür sicher nicht der geeignete Vermittlungspartner. Vielleicht können die „Istanbul-Initiative“ der Türkei oder die Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOC), die alle Akteure als Mitglieder oder Beobachter verbindet, einen aktiven Beitrag dazu leisten. Vor allem aber dürfen die Vereinten Nationen sich nicht aus ihrer Verantwortung drängen lassen.