Aufmerksame Zeitungsleser und Fernsehzuschauer haben es schon längst bemerkt: Die Marine ist hoch im Kurs. Das seit Jahren gepflegte Image eines Export orientierten Deutschlands und dessen „maritimer Abhängigkeit“ soll sich endlich in auch in seiner maritimen Stärke präsentieren. Die „Absicherung“ von Handelsrouten und der „Schutz vor Piraten“ sind fest stehende Argumentationsfiguren geworden und verleiten dazu, militärische Lösungen für selbst fabrizierte Probleme zu bevorzugen.
Doch die deutsche Marinerüstung ist nicht ohne Kontext: Weltweit erlebt der Marineschiffbau eine Renaissance. Große und kleine Flotten werden ausgebaut und an die Erfordernisse angepasst. Der schiere Rückgang an Schiffen oder Kampfeinheiten hier und der Ausbau der Anzahl bei anderen Staaten suggeriert dabei eine „Umgewichtung“, die bei genauerer Betrachtung eine Luftnummer ist. Die Reduzierung der Einheiten vor allem in Europa und den USA geht einher mit der technischen Hochrüstung der verbliebenen. Statt pauschal von einer „Abrüstung“ müsste präziser von einer „quantitativen Abrüstung“ bei gleichzeitiger „qualitativer Aufrüstung“ die Rede sein. Auch der zahlenmäßig enorme Aufwuchs zum Beispiel in China ist unter gleichen Gesichtspunkten eher ein moderater Zuwachs. Wer vom Anwachsen einer Übermacht spricht, will nur selbst mehr Waffen haben.
Der Kampf um die Meere sollte nicht geleugnet werden, aber es ist kein Wettbewerb ums größte Schiff oder die Menge an Waffen, sondern um Einfluss. Die deutsche Handelsflotte ist eine der leistungsfähigsten der Welt und eine vorgestellte europäische Handelsflotte würde mit Abstand jede Statistik anführen. Deutschlands Containerschiffsflotte ist die größte der Welt, und von den weltweit 4.677 Schiffen in diesem Segment sind allein 2.460 in europäischem Besitz. Je nach Statistik werden über das Meer 80 bis 90 Prozent des Welthandels abgewickelt. Handelsrouten sind oftmals verstopfte Autobahnen, und Choke-points wie die Straße von Malakka oder der Ärmelkanal sind Nadelöhre der Weltwirtschaft. Die oft genannte gesteigerte Rolle des Meeres als Rohstofflieferant durch Offshore-Plattformen oder jüngst als Standort von Windkraftanlagen ist nicht nur ein „Umweltproblem“, es ist auch eines der Verteilung. Die Abgrenzung der 200-Meilen-Zonen, die den Meeranrainern als exklusive Wirtschaftszonen zur Verfügung stehen, ist weltweit umstritten und bildet schon heute ein erhebliches Konfliktpotential. Der Streit um den Zugriff der meist in Kontinentalsockeln verborgenen Öl- und Gasschätze ist besonders sichtbar am Beispiel China (Senkaku / Spratly). Neue Rohstoffquellen jenseits dieser 200-meilen-Zone werden in den nächsten Jahren erschlossen werden können (technisch vor allem von westlichen Industrienationen). Zugespitzt sollte also von einem Wettstreit um die Vorherrschaft über das Meer und den Meeresboden als Wirtschaftsraum die Rede sein.
Die Aufrüstung in Ostasien, allen voran China, kann man in diesem Kontext sehen. China baut seine Handelsflotte kontinuierlich aus und versucht so von der Abhängigkeit unter anderem von europäischen Reedern los zu kommen. Im militärischen Bereich ist ein anhaltender Ausbau zu beobachten. Neue Fregattentypen, große Landungsboote und Versorgungsschiffe haben den Einsatzradius der chinesischen Marine stetig vergrößert. Neue U-Boot-Klassen ermöglichen es der chinesischen Marine, tief in den Pazifischen Ozean vorzustoßen. Alte Schiffe wird man in Zukunft abschaffen und, wie der Westen heute, darauf setzen, dass der Fähigkeitszuwachs bei den neuen die Reduktion der Einheiten abfängt. Chinas Argumente für diese Aufrüstung sind ganz analog zu den deutschen – eine „gesteigerte Verantwortung“ gegenüber dem Frieden in der Welt, der „Schutz“ der eigenen Bürger und der Handelsrouten. Auch die Gegner scheinen dieselben: Terroristen, Umweltsünder, Piraten. Es kommt mit dem „Schutzbedürfnis des chinesischen Territoriums und seiner Integrität“ allerdings ein Element hinzu, das erschreckend ist. Das Säbelrasseln, das bei der Diskussion um die Inseln Senkaku und Spratly schon seit 40 Jahren als Begleitmusik zu jedem Kommentar zu hören ist, nimmt zu und wird angesichts der maritimen Aufrüstung glaubwürdiger. Die Aussicht, dass ein chinesischer Flugzeugträger eines Tages die territorialen Ansprüche der Volksrepublik im südchinesischen Meer absichert, ist ein beängstigendes Szenario.
Und genau dieses Szenario ruft einen Selbstschutzinstinkt bei den unmittelbaren Anrainern hervor, der sich in Waffenkäufen zu beruhigen sucht. Insbesondere Vietnam verstärkt seine „Küstenverteidigung“ und baut seine Marine mit Zukäufen in Russland aus. Auch in Japan ist der chinesische Flottenausbau Argument in der Debatte um den Ausbau der Seestreitkräfte. Japans fortschrittliche Verfassung, die in ihrem Artikel 9 nur Selbstverteidigungskräfte vorsieht und zum Beispiel die Indienststellung von Flugzeugträgern (als „offensive Waffe“) verbietet, kommt angesichts einer chinesischen „Bedrohung“ unter Druck. Dabei ist dies nur ein Aspekt, ein zweiter ist die von den USA vorgetragene Forderung, Japan möge sich entsprechend seiner wirtschaftlichen Macht auch an „Sicherheitsaufgaben“ weltweit beteiligen.
Chinas Rivalität mit Japan, sein aggressives Auftreten im Südchinesischen Meer und die anhaltende Aufrüstung bleiben auch in Indien nicht unbeobachtet. Dort sind ebenfalls massive Aufrüstungsbemühungen im Gange. Zwei Flugzeugträger, neue Atom-U-Boote und die technische Verbesserung von Waffensystemen werden die indische Flotte einsatzfähiger denn je machen. Indien kontert mit diesen Anschaffungen sowohl die gesteigerte Präsenz chinesischer Schiffe im indischen Ozean wie auch die Waffenkäufe des Nachbarn Pakistan, der seine neuen Fregatten in China ordert. In dem gleichen Maße, wie China sich glaubt aus einer amerikanischen Umklammerung und Eindämmung im westlichen Pazifik befreien zu müssen, versucht Indien dies mit einer gespürten Umklammerung chinesischer Verbände im Norden und nun auch noch zur See. Chinas wirtschaftliches Vordringen in Zentralasien und seine engen Verbindungen mit Pakistan im Militärbereich reichen aus, dies als Bedrohung wahrzunehmen. Eines steht schon fest: Die Perzeptionen gegenseitiger Bedrohung werden in Ostasien und Südostasien weitere Aufrüstungsspiralen auslösen.
Befeuert wird diese Aufrüstung nicht zuletzt durch europäische Firmen, die Schiffe und Systeme liefern. Und so ergibt sich das skurrile Bild von europäischen Regierung, die der Rüstungsindustrie Exporthilfen zusagen um dann mit dem Finger auf eine „neue Bedrohung“ durch erstarkende Flotten anderswo weisen, um die eigenen Beschaffungsvorstellungen zu rechtfertigen: Ein Perpetuum mobile der Aufrüstung.
Das diese Aufrüstungsspiralen die Wahrscheinlichkeit bewaffneter Konflikte fördern und so letztlich genau das Gegenteil von Sicherheit, bedarf schon fast keiner Erwähnung. Ein mehr an „Sicherheit“ durch ein mehr an Waffen zu erlangen, funktioniert nicht. Am Beispiel des Marineeinsatzes vor dem Horn von Afrika, wo Handelsschiffe von Fregatte „beschützt“ werden (sollen), zeigt sich, dass das Symptom „Piraterie“ verstärkt, statt abgemildert wird. Das von westlicher Machtpolitik ausgelöste Problem „Piraterie“ ist nicht militärisch zu lösen – es bedarf einer zivilen Lösung an Land, die die Ursachen der Piraterie angeht. Darüber hinaus ist zu beobachten, wie sich Militärs Begründungen für ein massives militärisches Vorgehen in Somalia zurechtlegen, das sich dann nicht mehr im Eskortieren von Handelsschiffen erschöpft, sondern ein Krieg gegen die Bevölkerung Somalias sein wird.