Spätlese

Vor reichlich zwei Jahren schrieb ich in einer Rezension über „Die linke Versuchung. Wohin steuert die SPD?“ von Elke und Wolfgang Leonhard, „dass die Regierung Schröder […] eine der gravierendsten wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik zu verantworten hat – die Steuerfreistellung der Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften.“ (Blättchen, 15 / 2009) Stimuliert durch diese Entscheidung hatten vor allem Großbanken und führende Versicherungskonzerne ihre seit Jahrzehnten gehaltenen und zum Teil Milliarden schweren Aktienbeteiligungen an Industrieunternehmen wie auch untereinander abgestoßen und für die dadurch realisierten Einnahmen nicht eine D-Mark an Steuern entrichtet.
Meine Kritik im Hinblick auf eine der zentralen Behauptungen, mit denen die rot-grüne Bundesregierung ihre Entscheidung seinerzeit der Öffentlichkeit verkauft hatte, nämlich damit Investitionsspielräume für neue Arbeitsplätze schaffen zu wollen, lautete: „Nicht nur hat die […] intendierte massenhafte Schaffung neuer Arbeitsplätze nicht stattgefunden, viel mehr wurden dem wuchernden Kasino-Kapitalismus, der die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise verursacht hat, so zig zusätzliche Milliarden zugeleitet.“
Die Leonhards hatten diesen wie auch andere höchst zweifelhafte Sachverhalte und „Errungenschaften“ aus der Zeit der Schröder-Regierung in ihrem Buch geflissentlich ausgeklammert, dafür jedoch unwidersprochen einen namhaften Sozialdemokraten zitiert, der da meinte, die SPD sei „eine Partei, die weiß, wie Wirtschaft funktioniert“.
Mit dem von mir verwendeten Begriff „Fehlentscheidung“ für die Steuerfreistellung von Veräußerungsgewinnen lag ich, wie ich heute weiß, insofern falsch, als wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen üblicherweise aus Inkompetenz, aus Naivität oder auch aufgrund falscher Erwartungen, bisweilen auch wider besseres Wissen getroffen werden. Wenn mit der damaligen Entscheidung der Regierung Schröder jedoch von vorn herein etwas ganz anderes bezweckt worden ist, wenn nämlich ein Geschenk an das Großkapital – aus welchen Motiven auch immer – die eigentlich Absicht war und das politische PR-Brimborium drumherum nur dazu diente, diesem Kern der Sache ein dem Wähler möglichst risikolos zu vermittelndes Mäntelchen umzuhängen, dann hat es sich im eigentlichen Sinne des Wortes nicht um eine Fehlentscheidung gehandelt. Dann war die Entscheidung vielmehr ein (neben Hartz und Riester) weiterer vorsätzlicher Bruch mit sozialdemokratischen Zielen, Werten und Traditionen, dessen volkswirtschaftlicher Schaden vorsätzlich (oder mindestens billigend) in Kauf genommen wurde.
Dass es sich mit der damaligen Entscheidung des rot-grünen Kabinetts genau darum gehandelt hat, offenbarte vor einiger Zeit ein Beitrag des SPD-Insiders Michael Naumann in der FAZ.* Naumann war zum Zeitpunkt der Ereignisse Staatsminister im Bundeskanzleramt, hernach Herausgeber und Chefredakteur der ZEIT und ist heute Chefredakteur des Cicero.
Naumann beginnt mit einer Anekdote: „Es geschah Ende 1999 während einer vorweihnachtlichen Sitzung des rot-grünen Bundeskabinetts im alten Staatsratsgebäude der ehemaligen DDR […]. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte an jenem Mittwochmorgen in einer einspaltigen Meldung auf der ersten Seite darauf hingewiesen, dass sich in Hans Eichels großvolumiger Steuerreform ein Geschenk der besonderen Art verberge: Der Verzicht auf die bisherige Art der Körperschaftssteuer würde den deutschen Banken und Versicherungen Einnahmen von mehr als 23,6 Milliarden Euro in die Bilanzen spülen. Die gewaltige Summe würde dem Fiskus spätestens im Jahr 2002 fehlen (und so kam es auch). Mit dieser Dotation hätte die DDR noch viele Jahre lang überlebt.“ Damit nicht genug: „Die Regelung hatte obendrein rückwirkenden Charakter. Die Unternehmen durften bereits mit vierzig Prozent versteuerte, aber einbehaltene Gewinne der Jahre 1999 und 2000 im Nachhinein mit lediglich 25 Prozent versteuern – und Rückforderungen an den Fiskus stellen: rund 400 Millionen Euro zu ihren Gunsten.“
Als die FAZ-Meldung – das entsprechende Reformgesetz hatte das Kabinett kurz zuvor widerspruchslos passiert – in der Regierungsrunde zur Sprache kam, fragte laut Naumann der damalige Finanzminister Hans Eichel, aus dessen Haus das Gesetz stammte, „ob das denn stimme“. Was folgte, war Schmierentheater aller erster Güte. „Hans Eichel wandte sich seinem sozialdemokratischen Staatssekretär Heribert Zitzelsberger zu. Der saß am Katzentisch hinter der Kabinettsrunde und bestätigte die erstaunliche Meldung, als hätte es sein Minister nicht gewusst. Aber“, so Naumann, „der wusste es – und sein Kanzler wusste es auch.“ Der besondere Charme des Vorgangs lag nicht zuletzt darin, dass der „ehemalige Steuerabteilungsleiter der Bayer AG Zitzelsberger […] der eigentliche Urheber dieser […] strategischen Großmutsregelung (war). Nicht nur die Minister, auch die meisten Berliner Wirtschaftskorrespondenten hatten die Pressemitteilung des Finanzministers zur Steuerreform auf Seite zwölf überlesen: ‚Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen, die eine Kapitalgesellschaft an einer anderen Kapitalgesellschaft hält, sind nicht steuerpflichtig.’“
Der nachfolgenden Bewertung Michael Naumanns ist nichts hinzuzufügen: „Eine ‚linke’ Regierung subventionierte also das deutsche Großkapital. Im politischen Überbau herrschte offenbar eine Art Potlatsch-Stimmung: Wer die meisten Steuergeschenke mitbringt, gewinnt. […] Womöglich steckte hinter der großzügigen Geste nichts anderes als der klassische Habitus der SPD, den konservativen Kräften und Wählern der Gesellschaft zu beweisen, dass man, einmal an der Regierung, keineswegs die gute, alte Umverteilungstruppe sei, sondern, im Gegenteil, eine wirtschaftsnahe Partei, die das Vertrauen des Kapitals verdiene. Nicht anders verhielt sich die SPD seit Willy Brandt in Fragen der inneren Sicherheit […].“
Zu den Auswirkungen der damaligen Steuergeschenke – auch eine Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 43 Prozent geht auf das Konto von Rot-Grün – konstatiert Naumann, dass sie „zur weiteren Spreizung der Einkommensverhältnisse in Deutschland“ geführt haben: „Zehn Prozent der Haushalte mit den höchsten Einnahmen haben inzwischen elfmal so viel Geld wie die zehn Prozent am unteren Ende der Gesellschaftsskala. Drastischer gesagt: Zehn Prozent der Deutschen verfügen über 56 Prozent des privaten Eigentums.“
Und – hat das Großkapital diesen finanziellen Segen wenigstens honoriert? Naumanns Bilanz: „Wenig später sollte sich […] herausstellen, dass derlei freundliche, standort- und finanzpolitische Gaben für die Wirtschaft kein politisches Geschäft auf Gegenseitigkeit darstellten. Deren Parteispenden flossen, wie üblich, zur CDU. Ihre Verbandsvertreter, ob Henkel, Rogowski oder Hundt, hatten auch derlei ‚linke’ Zuwendungen schon verbucht und vergessen […].“ Fast tragikomisch – oder?
Bliebe abschließend die Frage zu stellen, ob die Führung der SPD aus dieser Etappe ihrer Parteigeschichte wenigstens gelernt hat und ob infolgedessen Vergleichbares künftig nicht mehr zu befürchten ist. Das muss leider bezweifelt werden, wie allein ein Blick auf die Phalanx der derzeit möglichen künftigen Kanzlerkandidaten der SPD zeigt:
- Siegmar Gabriel – der sich und seine Vorgänger an der Parteispitze mit flotten Sprüchen wie dem folgenden zu exkulpieren sucht: „Im letzten Jahrzehnt war jede Partei infiziert vom Neoliberalismus.“ Was soll man von diesem Mann halten, da schon das nicht stimmt?
- Frank-Walter Steinmeier, zu Zeiten der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder, so Michael Naumann, der „heimliche Amtschef der Regierung“ und also federführend an all den hier angesprochenen Weichenstellungen und Entscheidungen beteiligt.
- Peer Steinbrück, von Alt-Kanzler Helmut Schmidt und vom Spiegel mit der nahezu kürzest denkbaren Empfehlung geadelt – „Der kann es“. Aber genau der konnte es (und wollte es wohl auch) nicht – als zuständiger Bundesminister während der Finanzkrise von 2008 und danach, nämlich den Krisenursachen an die Wurzel gehen. Nicht allein, aber auch nicht zuletzt wegen Steinbrück & Co. steckt das westliche Wirtschafts- und Finanzsystem heute in einer noch tieferen Krise.
Da kann ein sehr verhalten optimistisches Fazit eigentlich nur lauten: Es wird ja nichts so heiß gegessen, wie … Oder – noch ist der nächste Kanzlerkandidat der SPD ja nicht gekürt.

* – Der Beitrag erschien bereits am 22.08.2011, ging mir als nicht regelmäßigem Leser der FAZ aber erst jüngst auf Umwegen zu.