Auf der „Spur des Bösen“

„Pathologischer Massenmörder“ und „unerklärliche“ Tat?

Die Meldung per Handy war eindeutig, knapp, militärisch: „Breivik. Kommandant. Organisiert in der antikommunistischen Widerstandsbewegung gegen die Islamisierung. Operation durchgeführt und will sich Delta ergeben.“1

Anders Behring Breivik meldet so per Handy das Ende seiner „Operation“ auf der norwegischen Insel Utoya, nachdem er 69 Teilnehmer eines Jugendlagers der regierenden sozialdemokratischen Partei liquidiert hatte.

„Delta“ ist der Name der Elite-Polizeieinheit, die ihn ohne jede Gegenwehr festnahm. Nur Stunden zuvor war in der Osloer Innenstadt eine von ihm gezündete Bombe unmittelbar gegenüber dem Regierungssitz hoch gegangen. Dabei starben acht Menschen.

Breiviks Massaker schockte nicht nur das ganze Land. Rund um den Globus fragte man sich, wie und warum so etwas Außergewöhnliches in solch einem „friedlichen Land“ passieren konnte. Die Zahl der zu dem Massaker erschienenen Beiträge in den Massenmedien ist kaum zählbar, geschweige denn systematisch auswertbar. Die Suchmaschine google wirft auf das Stichwort Breivik allein 54900000 Hinweise aus. (Stand vom 3.9.11)

 

Vorsicht vor diagnostischen und politischen „Schnellschüssen“

In einem ersten spontanen Kommentar hatte ich auf dem Weg zu meiner Praxis für die DKP Wochenzeitung „unsere zeit“ noch im Zug geschrieben: „Kein ´Psychopath“ sondern ´Spitze des „Eisberges.“

Es könne nicht darum gehen einen weiteren ferndiagnostischen Schnellschuss zu landen und dem Verhalten von echten und selbsternannten „Experten“ nachzueifern, die schon feste Erklärungen bei der Hand haben, mit denen sie den antikommunistischen und antiislamischen Massenmörder von Norwegen im Hauruck-Verfahren zum „schwerstgestörten Psychopathen“ erklärten.2

Dabei werde ich auch 2 Monate später bleiben.

Es sind genügend norwegische und wahrscheinlich auch ausländische Wissenschaftler(innen) mit der Beurteilung der Persönlichkeit dieses Menschen beschäftigt. Deren Arbeiten und Ergebnisse bleiben abzuwarten. Das wird noch eine Zeit dauern und die Ergebnisse werden erst bei der Gerichtsverhandlung vorgestellt und danach kritisch zu bewerten sein. Vorläufig abschließend sagte ich in meinem Kommentar:

„Deshalb überlassen wir besser das Thema ‚Psychopath’ den bevorstehenden psychiatrischen Untersuchungen und halten wir uns an die klaren eigenen Aussagen des Täters.“

Ich lasse also damit offen, ob Breivik ein „Psychopath“ im klinischen Sinne ist oder nicht. Ich nehme unkommentiert hin, dass für seinen Verteidiger Geir Lippestad sofort feststand. „Mein Mandant ist geisteskrank.“ Was soll er als sein Verteidiger sonst sagen?

Ich kommentiere auch nicht fachlich Professor Norbert Nedopil, Leiter der Forensischen Psychiatrie der Universität München,  und dessen rasche Antwort: „Ich gehe nicht davon aus, dass der Attentäter Wahnvorstellungen hat. Die meisten Menschen, auch die meisten Mörder, haben keine Wahnvorstellungen. Die Regel ist, dass die Menschen keine Wahnvorstellungen haben.“

Was soll er sonst sagen, wenn informationssüchtige Journalisten ihn um eine schnelle „Fach-Diagnose“ drängen?

Zumindest hängte der Kollege diesem ferndiagnostischen Schnellschuss doch noch ein „Aber“ an. Er wolle „einen Vorbehalt“ formulieren: Er habe nicht mit Breivik gesprochen, ob dieser „psychotisch“, also geisteskrank sei, könnte er mit Gewissheit nur nach einem ausführlichen Gespräch mit Breivik feststellen. „Aber weil die überwiegende Zahl der Menschen nicht krank ist, würde ich das bei dem Attentäter bezweifeln.“3

Ich stutze bei der Bemerkung des Kollegen, der mit „einem (!) Gespräch“ bereits ein endgültiges Urteil glaubt fällen zu können. Es ist m. E. nicht realistisch; zu meinen, man könne aufgrund nur eines einzigen Gespräches erkennen, ob ein Mensch wie Breivik „verrückt“ ist.

 

Anforderungen an die seriöse Analyse von Tat und Täter

Ich kann nur andeuten, in welche Richtung die Kolleginnen und Kollegen wahrscheinlich explorieren und sicherlich mit Hilfe aufwendiger Testbatterien und ausführlicher Gespräche zur Antwort auf die Frage kommen: „Was ist das nur für ein Mensch. Wie konnte er nur so etwas tun?“

Womöglich werden sie zunächst ein Standardprogramm der Diagnostik, bestehend aus einer Kombination von tiefenpsychologischen, verhaltenspsychologischen womöglich auch neuropsychologischen Tests durchführen. Sie werden sein Verhalten in diversen Testsituation dokumentieren, filmen und analysieren. Sie werden verschiedene Situationen unter „Laborbedingungen“ mit ihm durchspielen, um seiner Persönlichkeit mit all ihren Verwerfungen auf die Spur zu kommen.

Ich gehe davon aus, dass die hinzugezogenen wissenschaftlichen Kapazitäten aus Forensik und Kriminalpsychologie und -psychiatrie nach bestem Wissen arbeiten werden. Vielleicht sind einige wenige „Mediensüchtige“ darunter; aber es wird insgesamt eine sorgfältige Arbeit zu erwarten sein.

In meinem ersten Kommentar deutete ich Untersuchungsrichtungen an: Sein ausgemachtes Einzelgängertum könnte auf „frühkindliche Störungen“, seine kaltblütige, selbstherrliche Arroganz als „Narzissmus“, seine Freudenschreie, die er beim Erschießen der Jugendlichen ausgestoßen haben soll, auf Bestialität, Amoralität, Asozialität und allerschwerste „Persönlichkeitsstörung, kombiniert mit einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“ interpretiert werden und dergleichen mehr.

Sein krasses Omnipotenzgefühl, das ihn dazu geführt hatte, am 11. Juni – laut „Süddeutscher Zeitung“ – von „Gott“ nicht nur einen „Rat“ sondern „Gefolgschaft“ zu fordern, könnte auf den ersten Blick ebenfalls Irre-Sein nahe legen, wenn er laut Tagebuch schrieb: „Ich habe Gott erklärt, dass er dafür sorgen muss, dass die Krieger, die für den Erhalt des europäischen Christentums kämpfen, obsiegen müssen. Es sei denn, er wünscht, dass die Marxistisch-Islamische Allianz … das Europäische Christentum vernichtet.

Es werden mit Sicherheit vor wie nach dem Prozess zahlreiche psychiatrische Konsilien und große Foren durchgeführt werden, auf denen die Wissenschaftler versuchen werden zu gemeinsamen Bewertung zu kommen.

 

Zu den gängigen „Modellen“ aggressiven Verhaltens

Mord, sozialpathologisches Verhalten, – gar in dieser exzessiven Größenordnung, lässt sich sicherlich leichter mit einigen sozialpsychologischen Schemata beurteilen, wenn  man vom Einzelfall abstrahiert. Eine Typologisierung kann sinnvoll sein, sie kann einen Orientierungsrahmen bieten.

Schauen wir uns einige solcher Modelle aggressiv- pathologischen Verhaltens an. Die gängigsten Erklärungsansätze für aggressives Verhalten sind:

a) Aggressionen als Form triebhaften und instinkthaften Verhaltens

b)Aggressionen als Ergebnis von Lernprozessen

c)Aggressionen als Verbindung von instinktgeleiteten Handlungen und erlerntem Verhalten.

Das aus der Psychoanalyse abgeleitete erste Modell geht aus von einem inneren Konflikt zwischen dem Lebensinstinkt „eros“ und dem auf Destruktion ausgerichteten Todestrieb „thanatos“, der das Subjekt in eine solche Spannung versetzt, das es dadurch zerstört werden kann. Nach außen gerichtete Aggressivität kann dann eine reinigende „kathartische“ Wirkung erhalten, indem sie diese gefährliche Spannung auflöst.

Wegen ihrer empirischen Nichtüberprüfbarkeit besitzt diese orthodoxe psychoanalytische Aggressionskonzeption gegenwärtig keine bedeutende Rolle in der modernen Aggressionsforschung.

Eine davon abgeleitete Variante ist das sog. „hydraulische Energiemodell“ nach Konrad. Lorenz , dem berühmten Verhaltensforscher der 50ger/70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Danach ist aggressives Verhalten eine durch natürliche Selektion entstandene Verhaltensdisposition, die der Arterhaltung dient. Aggressives Verhalten ist nützlich für die Erweiterung des eigenen Territoriums und nützt der Ernährung einer größeren Nachkommenschaft. Aggressive Führungskämpfe dienen in der Fauna einer natürlichen Auslese der stärksten und gesündesten Leittiere. Angeborene Schlüsselreize sorgen wie bei einem Dampfkessel dann für eine Art Erregungsabfuhr. Damit diese nicht eruptionsartig und zu zerstörerisch wirkt, müsse in bestimmten Abständen eine „kontrollierte Dampfabfuhr“ in sozial angemessener Form erfolgen.

Die schematische Gleichsetzung physikalischer Prozesse (Dampfdruck) mit innerpsychischen Erregungszuständen und die nahtlose Übertragung von tierischem auf menschliches Verhalten führten dazu, dass auch dieses Modell mehrheitlich von Psychologen/ Psychiatern als nicht-wissenschaftlich haltbar angesehen wird. Auch wenn das sprichwörtlich gewordene „Dampfablassen“ in weiten Kreisen als verständliches und populäres Bild akzeptiert wird.

Das Gegenstück zu diesen eher instinktgesteuerten Modell der Aggressivität besteht im Modell der ursprünglich bereits 1939 von der sog. „Yale-Gruppe“, einer 5-köpfigen Autorengruppe, deren bekannteste Namen J. Dollard, D. H. Mowrer und R-.T. Sears waren, entwickelt wurde. Ihre „Frustrations-Aggressions-Hypothese“ besagt, dass Aggression eine Folge von Frustration ist. Sie muss sich nicht gegen den Auslöser der Frustration richten, kann auch Ersatzobjekte wählen.

Da in diesem Schema die Frage des unterschiedlichen Verhaltens verschiedener Individuen auf dieselben Frustrationsquellen nicht erklärt werden kann, kam es zu einer Modifizierung dieses Modells. Aggressionen sind nicht „automatisch“ die Folge von Frustrationen, sondern nur eine „dominante Reaktionstendenz“.

Da aber auch hier wiederum nicht erklärbar wird, warum die eine Person aggressiv reagiert, während die andere nicht, wurde auch dieses Modell noch einmal “verfeinert“.  L. Berkowitz entwickelte in den 60er/70er Jahren die Vorstellung, dass zwischen Frustration und Aggression eine vermittelnde Instanz eingeschaltet ist, ein Zustand innerer „Erregung“, in Form von „Ärger“, die jedoch eines aggressiven „Hinweisreizes“ als weiteren Auslösers bedarf. Dieser Hinweisreiz besteht aus individuell „erlernten“, d.h. konditionierten, Reizen, die nicht für jedermann gleich sind. So ist z.B. eine Waffe nicht für jeden Menschen in jeder Situation ein bedrohlicher „Hinweisreiz“. Es gehört auch eine als aggressiv oder aversiv und feindselig eingestufte Person dazu. Ob es dann auch zu einer aggressiven Handlung kommt, hängt zusätzlich von der Einschätzung der „Folgekosten“ einer solchen Handlung ab.

Auch bei diesem Erklärungsmodell von Aggressivität bleiben viele offene Fragen bestehen. So wird nicht schlüssig erklärbar, unter welchen Voraussetzungen eine solche Bereitschaft zur Aggressivität nicht nur ausgelöst, sondern auch zu einem sich wiederholenden Verhaltensmuster der betroffenen Person wird. Wie verläuft die sog. „Habituation“, die Gewöhnung an das Abrufen aggressiver Verhaltensweisen und deren Automatisierung. Schon gar nicht ist damit die Frage nach aggressionsfördernden- bzw. aggressionshemmenden Faktoren beantwortet.

Deutlich wird aber dadurch immerhin, dass Aggressivität ein Form erlernten _ und nicht „angeborenen“ Verhaltens ist: Dieses wird dann abgerufen, wenn es dafür eine sog. “positive Verstärkung“ , einen Gewinn, gibt oder wenn das zu erwartende Strafverhalten als so gering eingestuft wird, dass der Vorteil des aggressiven Tuns überwiegt.

Dabei spielt das soziale Umfeld und das soziale Muster im Sinne des „social modelling“ eine bedeutende Rolle. Das Lernen von Verhaltensmustern setzt voraus, dass es ein solches beobachtbares Modell bereits gibt, an dem „gelernt“ werden kann. Das aggressive Verhalten findet Nachahmer, wenn deutlich wird, das der Aggressive dafür einen Gewinn einstreicht, dass er „belohnt“ wird. Kinder ahmen dabei nicht nur das Verhalten von realen oder imitierten Verhaltensformen bei Menschen nach, sondern auch Comic-Figuren fungieren als Modelle.

Im Fall Breivik ist für mich nicht erkennbar, ob es ein solches frühes „Modelling“ gab. Rein äußerlich lebte er in einer unauffälligen Familie der schwedischen Mittelklasse. Er war aber ein Scheidungskind, ob und was er in diesem Zusammenhang an eventuellen Gewalterfahrungen erlebt hatte, ist der Öffentlichkeit nicht bekannt. Er wuchs bei Mutter und Stiefvater auf. Eine Bekannte der Familie erklärte gegenüber dem „Spiegel“: „Er war zu ruhig. Und er war sehr, sehr allein. Immer.“

Es ist müßig, ohne weitere Informationen über diese Aussage zu spekulieren.

 

„Macht-durch-Zwang“- Modell

Schon das im Internet anzusehende Video spricht für eine klare, gut strukturierte und professionell auf- und vorbereitete Aktion – ein Dummkopf und Medienlaie und Wirrkopf spricht hier nicht. Alles ist präzise und klar.

Der so gut und rational vorgehende Massenmörder – an dessen Einzelgängertum man bei der umfangreichen und vieljährigen Vorbereitung und der hohen Professionalität nicht glauben kann, hatte sich mit erschreckender Logik vorgenommen, die Nachwuchselite der norwegischen „Marxisten und Kommunisten“ zu liquidieren.

„Aggressivität“ bedeutet aus Sicht der Psychologie nicht eine „ungezügelte“ überbordenden Emotionalität mit einer nur spontan und heftig folgenden Handlung. Aggressivität kann auch völlig kalt, gezielt und hoch organisiert ausgelebt werden.

In diesem Zusammenhang wird von Aggressivität als einer „sozial interaktionalen Theorie der Ausübung von Zwang“ (social interactionist theory of coercive actions) gesprochen. Im Rahmen der sog. „Rational choice theory“ wird Aggressivität als Mittel der Ausführung einer „Macht-durch-Zwang-Maßnahme“ angesehen.4

Aggressivität wird bewusst nach Abwägung von Für und Wider eingesetzt; dabei geht es um drei allgemeine Hauptziele:

1. Kontrolle über andere erzwingen

2. Wiederherstellung von „Gerechtigkeit“ (im Sinne des Aggressors)

3. Behauptung oder Schutz der eigenen Identität.

Die Intensität der Zwangsausübung bleibt einem rationalen Kalkül vorbehalten und wird entschieden nach

• der erwarteten Wahrscheinlichkeit, mit der ein anvisiertes Ziel durch diese Stärke von Zwang erreichbar wird,

• dem Wert, der dem anvisierten Ziel beigemessen wird,

• von der geschätzten Kosten-Nutzen-Relation, die bei Abwägung verschiedener Handlungsoptionen erkennbar wird.

Stroebe/ Hewstone/Stephenson schreiben dazu in ihrem Lehrbuch Sozialpsychologie:

„Generell folgt also die Ausübung einer Macht-durch-Zwang-Maßnahme auf einen rationalen Prozess oder wird von diesem begleitet. Dabei kann der rationale Anteil unterschiedlich ausgeprägt sein im Hinblick auf den Umfang und die Komplexität der Gedanken, er kann stark oder auch schwach sein, besonders wenn die Situation sehr emotional ist oder schnelle Entscheidungen gefällt werden müssen. Aber eine rationale Entscheidung ist das grundlegende Prinzip: Je nachdem welches der 3 oben genannten Ziel durch Macht-durch Zwang angestrebt wird, gewinnen die entsprechenden Maßnahmen unterschiedliches Gewicht: Wenn das Ziel im Erreichen eines positiven Ausganges liegt, mag das Nachgeben („compliance“) der Zielperson das angestrebte Ergebnis sein; wenn aber das Ziel darin besteht, Gerechtigkeit wiederherzustellen oder Identität zu behaupten, mag das Ziel eine Schädigung oder Verletzung der Zielperson sein“. 5

Breivik erfüllt nahezu lehrbuchartig diese Modellbedingungen.

Vom Nutzen eines „biopsychosozialen Untersuchungsansatzes:

Die für mich als Marxisten weitaus bedeutsamere Frage ist nicht diese einzelne Person und deren (womöglich) „deformierte Persönlichkeitsstruktur“. Hier fangen ja bereits die Probleme an. Was versteht „man“ unter „Persönlichkeit“? Was heißt denn in diesem konkreten Fall überhaupt „pathologisch“? Welche Rolle spielt das ja künstlich aus Daten zusammengezimmerte Merkmal „Struktur“ im Verhältnis zu eher situativen, auf („kritische“) Lebensereignisse hin orientierende Modelle menschlichen Verhaltens? Welche Rolle spielt das sich temporär ändernde biographische Erleben? Welche Rolle spielen soziale Faktoren in Gegenwart und Vergangenheit des Täters.

Und schließlich: Welche Rolle spielt das entscheidende „Momentum“, die ganz spezifische vielleicht nur einmal im Leben eintretende individuelle „Auslösesituation“.

Wer glaubt in einem (!) Gespräch einen Menschen so klar erfassen zu können, der irrt.

Das sage ich vor dem Hintergrund eines recht frischen eigenen beruflichen Dramas, bei dem ein von mir behandelter Patient nur

4 Wochen nach Therapieschluss seine Frau erstach. Die Therapie war nach allen formalen Merkmalen und Standards „erfolgreich“ verlaufen. Bis auf ein für mich nicht konkret formulierbares Unbehagen, das ich mit dem Satz dokumentierte: „Ich kann dem Patienten die positive Therapiebilanz nicht glauben.“ Aber was nützte dieses unspezifische Gefühl?  Menschen reagieren oft aus einem Motivbündel heraus, aus teils sogar recht konträren Erkenntnissen, Kognitionen und Emotionen.

Das eindimensionale Erklärungsmodell mit der schnellen Diagnose „Pathologie“ funktioniert nicht. Für mich stellt sich deshalb die Frage, welche Rolle bei der Untersuchung Breiviks das Wissen um die dialektische Einheit von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren spielen wird, die menschliches Verhalten in einem sehr komplizierten Geflecht von Interdependenzen beeinflussen.

Der Mensch, sowohl als Gattung und auch als Individuum, muss als eine solche „biopsychosoziale Einheit“ angesehen werden. Zumindest müssten die Untersuchungen Breiviks von diesem in den letzten Jahren der DDR dort wie auch in den USA und der BRD diskutierten und entwickelten paradigmatischen Ansatz ausgehen, wenn man nicht ein einseitiges Bild von diesem dramatischen Ereignis in Oslo und auch auf der Insel Utöya bekommen will.

Aus den bisher bekanntgewordenen ersten Verlautbarungen über Gespräche mit dem Täter lässt sich dies noch nicht eindeutig erkennen. Es gibt nur Hinweise.

 

 

Das Modell des liquidatorischen Anti-Marxismus und Anti-Islamismus:
die Rolle des Politischen

„Er, Gott muss (!) sicherstellen, dass ich Erfolg habe mit meiner Mission, und dazu beitragen, Tausende andere revolutionäre Konservative/Nationalisten, Antikommunisten und Antiislamisten in der europäischen Welt zu inspirieren.“ So gab die Süddeutsche Zeitung Breiviks Ziel wieder.

Breivik ist also ein politisch (!) motivierter Massenmörder mit einem außerordentlichen Sendungsbewusstsein. In seiner 1500 (!) Seiten langen Erklärung „2083 Eine Europäische Erklärung der Unabhängigkeit“ erklärte das langjährige Mitglied (offiziell von 1999 – 2006) der rechten norwegischen „Fortschrittspartei“– mit zweijähriger verantwortlicher Funktion in deren Jugendverband –, sein in sich logisches und stimmiges politisches Motiv.

Er erklärt darin vor allem Kommunisten und Marxisten zu Wegbereitern des „Multikulturalismus“.

Er ruft deshalb zu einem neuen Kreuzzug auf: gegen Kommunisten, gegen Islamisten, gegen alle, die nicht so „norwegisch“ denken wie er.

Es ist nicht zutreffend, dass – wie der „Spiegel“ in seiner langen Titelgeschichte „Die Spur des Bösen“ zu Breivik schreibt, er nur „kompiliert, fabuliert“ und „seltsames Zeug“ schreibt.6

Dass er im April 2002 in London an einer „Neugründung des Templerordens“ teilgenommen haben will, liegt absolut in der Logik seiner Geschichts- und Politikkonzeption. Er übernimmt auf stimmige Weise organisatorisch, personell und programmatisch das historische Vorbild der Kreuzfahrer. Daran ist nichts „wirr“.

Auch Papst Benedikt XVI. war bekanntlich in seiner „Regensburger Rede“, in der er den Islam und Mohammed verurteilt hatte, weit in die mittelalterliche Geschichte zurückgegangen, indem er als Zeugen seines verächtlichen Urteils den byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos, * 27. Juni 1350; † 21. Juli 1425, zitierte. Benedikts provozierender Vergleich wurde auch nicht als Ausdruck von „Irre-Sein“ bewertet, sondern als bewusste kalkulierte religionspolitische Konfrontation mit einer etwas „verunglückten“ Wortwahl. Die „Regensburger Rede“ wäre demnach für Breivik auch keine schlechte Quelle gewesen.

Das umfangreiche Breivik – Dokument enthält mehr als nur „wirre Erklärungen“, die er für sein Verbrechen „zusammengeklaubt hat“, wie es der Kommentator des Spiegel meint. Der Bezug auf Programm und Outfit der Tempelritter, als deren geistiger Nachfahre sich Breivik sieht, ist kein Ausfluss „irren“ Denkens, wenn man die Geschichte und die Botschaft der Kreuzritter ihrer Legenden und Märchen entkleidet.

Breiviks Gewissheit, auserwählt zu sein und einen Vernichtungsfeldzug gegen einen weltanschaulichen Feind führen zu müssen ist keinesfalls so singulär, wie es viele Kommentartoren suggerierten. Das Kreuzrittertum war historisch auf Massenliquidation des „Feindes“ ausgelegt.

Papst Urban II. rief auf der Synode von Clermont im Jahre 1095 mit folgenden Worten zum ersten Kreuzzug und zum Vernichtungskrieg gegen den Islam auf: „Denn die Türken, ein persisches Volk, haben sie (gemeint sind die Christen im damaligen Palästina und Vorderasien- HPB) angegriffen, wie viele von Euch bereits wissen, und sind bis zu jenem Teil des Mittelmeers, den man den Arm des heiligen Georg nennt, auf römisches Territorium vorgedrungen. Sie haben immer mehr Länder der Christen an sich gerissen, sie haben bereits siebenmal in ebenso vielen Schlachten besiegt, viele getötet oder gefangengenommen, haben Kirchen zerstört und haben Gottes Königreich verwüstet. Wenn Ihr ihnen gestattet, noch viel länger weiterzumachen, werden sie Gottes gläubiges Volk auf weiter Flur unterwerfen.

Und deshalb ermahne ich, nein, nicht ich, ermahnt Gott Euch als inständige Herolde Christi mit aufrechter Bitte, Männer jeglichen Standes, ganz gleich welchen, Ritter wie Fußkämpfer, reiche und arme, wiederholt aufzufordern, diese wertlose Rasse in unseren Ländern auszurotten und den christlichen Bewohnern rechtzeitig zu helfen.“7

Der für diese Aufruf zur Ausrottung des (weltanschaulichen) Feindes zitierte Kronzeuge war die höchste aller Autoritäten: der Gott der Christen selbst. Mit dem Kampfruf „Deus lo vult“ - Gott will es – wurden in den folgenden Jahrhunderten alle nur vorstellbaren Grausamkeiten und Massaker im Kampf zur Rückgewinnung des „Heiligen Landes“ legitimiert.

Wer wollte als Christ sich dieser doch  „gottgewollten“ Logik entziehen? Waren die Kreuzzügler deshalb alle „Irre“? Sicherlich nicht.

Genau so „rational“, in sich stimmig und zugleich mörderisch war der Kommissar-Befehl Hitlers vor dem Angriff auf die Sowjetunion. Die „politische Elite innerhalb des feindlichen Heeres“, der Roten Armee, musste und sollte sofort und gnadenlos liquidiert werden. Ohne Urteil, ohne Prozess, sofort bei Gefangennahme, ohne zu zögern und ohne Ausnahme.

Nicht anders die Vorgehensweise von Breivik. Es ist eine in sich stimmige brutale Konsequenz, die er mit aller Raffinesse und Kaltschnäuzigkeit realisierte. Ein Psychopath? Dann wäre auch Hitler ein solcher gewesen.

Oder einer der engsten Komplizen des „Führers“, Heinrich Himmler, der vor ausgewählten SS-Führern seine Mördertruppe dafür lobte, dass sie alle bei ihren Massenmorden charakterlich „sauber“ geblieben seien.

Doch es gibt noch andere Modellfiguren, die Breivik innerlich vielleicht noch näher standen als Hitler und Himmler. Breivik mag eigenbrödtlerisch und über viele Strecken seines Lebens ein „Einzelgänger“ gewesen sein. Er lebte aber nicht als Einsiedler. Er hatte organisatorische Verbindungen und Bindungen an rechtsradikale bis neofaschistische Organisationen und Strukturen. Zwar mag seine mehrere Jahre anhaltende Mitgliedschaft in der als „rechtspopulistisch“ verharmlosten ausländerfeindlichen „Fortschrittspartei“ tatsächlich irgendwann formal gekappt worden sein, damit blieb er aber dennoch offenbar Teil eines international gut vernetzten Systems von Rechtsradikalen und Neonazis, die nicht mit den traditionellen neofaschistischen „Alt-Parteien“ gleichgesetzt werden können. Und die das auch gar nicht wollen.

Der von Breivik als sein „Mentor“ genannte Brite Paul Ray, der jetzt jegliche Beziehung zu dem geständigen Attentäter bestreitet; gehört zu den Gründern der islamfeindlichen „English Defense League“ (Englische Verteidigungsliga). In seinem „Manifest“ erwähnte Breivik unter dem Pseudonym „Richard“ einen Briten, „der mein Mentor wurde“. Dieser Mentor ist Ray. Er unterhält einen Webblog unter dem Namen (Richard) „Löwenherz“ und fungiert als Chef der Bewegung der „Tempelritter“. Breivik will der Gründung der Bewegung im Jahr 2002 in London beigewohnt haben. Warum sollte er, der offenbar über nicht nur oberflächliche Kenntnisse über diese Struktur besaß, sich dies ausgedacht haben?

Welche weiteren organisatorischen Verknüpfungen aus der Nazi-Szene es um Breivik gibt, werden die Nachforschungen – hoffentlich auch von Antifaschisten - sicherlich noch an den Tag bringen. Es gibt klare Hinweise, dass Breivik auch zu deutschen Nazis Kontakte unterhielt.

Die Reaktionen der französischen Ultrarechten aus der Bewegung des Jean Marie Le Pen und seiner Tochter und Nachfolgerin Marine verdeutlichen, wie sehr Breivik eine in das Gesamtsystem dieser europäischen Neonazis integrierte Person ist. Das klammheimliche Einvernehmen mit dem Massaker auf Utöya – zumindest mit den diesen Massenmord legitimierenden Denkmustern – ist nicht übersehbar.

J. M. Le Pen bezeichnete die Morde von Oslo und Utöya lediglich als „Unfälle“. Er meinte, „viel schwerer“ wöge die „Naivität“ der norwegischen Regierung und der „multikulturellen Eliten“ gegenüber de „Kolonialisierung Europas“ durch Einwanderer aus der dritten Welt und vor allem durch Muslime.

Darauf habe auch „dieses Individuum in seinem mörderischen Wahn“ nur aufmerksam machen wollen. 8

Ein „Psychopath“?

Nein, ein bis zum bitteren Ende „konsequenter“ Anti-Kommunist und Anti-Islamist.

Ein „verirrter“ Einzelgänger?

Nein, er ist nur die Spitze eines Eisberges.

 

Grenzen und Dilemma bisheriger marxistischer Aggressionstheorie und - forschung

Das in der Tradition der „Yale Group“ stehenden Erklärungsmodell von Aggressivität und aggressivem Verhalten kommt am ehesten dem von marxistischen Psychologen und Philosophen entwickelten Verständnis von Aggressivität und Aggressionshandlungen entgegen – auch wenn dies vor 1989 in den sozialistischen Ländern noch nicht zu einem wirklich stringenten und empirisch untermauerten Forschungsansatz geführt hatte.

Zumindest wurde aber in dem von führenden DDR-Psychologen erarbeiteten „Wörterbuch der Psychologie“ eine Untersuchungsrichtung formuliert:

„In der psychologischen Erforschung des A. (Aggressionsverhaltens – HPB) scheint es ratsam, mit einem Modell zu operieren, das zwei miteinander an jedem Punkt verbundene Kette von Prozesselementen enthält: eine mehr außengesteuerte, bestehend aus Ereigniswahrnehmung, Betroffenheit, Bedeutungserfassung, handlungsrichtender Motivation, Handlungsauswahl, Wirkungsantizipation, instrumentellem Aggressionshandeln, Ergebnisbewertung, und eine mehr innengesteuerte, bestehend aus kognitiver Erregung, gesamtorganismischer Aktivation, Aversionsgefühl, Emotion bzw. Affekt, expressiver Aggression, Bewertung der erreichten Erregungsladung. In beiden Prozessketten sind auch das nichtaggressive verhalten als Entscheidungsmöglichkeit und Rückkoppelungen vorzusehen.“9

Diese sich mit einigen globalen Aussagen begnügende Charakterisierung drückte ein grundsätzliches Dilemma der marxistischen Aggressionstheorie und-forschung aus.

Die Frage der Aggressivität wurde innerhalb der marxistischen Philosophie und Psychologie –zumindest in der DDR – als eine primär soziale bzw. politische Fragestellung betrachtet. In dem zweibändigen Standardwerk „Philosophisches Wörterbuch“ von G. Klaus und M. Buhr wurde einerseits eine kluge und gut informierte Beurteilung der verschiedenen bürgerlichen Aggressionstheorien vorgenommen. Mit bis heute gut nachvollziehbaren Argumenten wurde die jeweiligen in der BRD und in den USA entwickelten Konzepte auf ihren materialistischen und wissenschaftlichen Gehalt beurteilt und überprüft, wodurch eine Fülle von Anregungen für die Erarbeitung einer eigenen marxistisch fundierten Aggressionstheorie und -forschung hätten gelegt werden können.

Doch offenbar wurde dies zu der damaligen Zeit nicht für notwendig betrachtet. Klaus und Buhr schrieben nämlich:

„Das Problem der Aggression wird vom Marxismus nur auf der Ebene der gesellschaftlichen Erscheinungen untersucht. Mit den damit nicht verbundenen Fragen der tierischen und individuell- menschlichen Aggression befasst sich der Marxismus nur insoweit, als daraus weltanschaulich relevante, falsche oder richtige Thesen abgeleitet werden. Der Marxismus hält so eine einheitliche und monokausale Theorie der qualitativ völlig verschiedenen, nur mit dem gleichen Wort ‚Aggression’ belegten Verhaltensweisen für inhaltlich und methodisch falsch.

Hinsichtlich der gesellschaftlichen Aggression geht der Marxismus von den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft, der Archäologie, der Ethnographie und anderer Gesellschaftswissenschaften aus.“

Aber nur wenige Absätze weiter wird erkennbar, dass die Autoren offenbar doch ihrer eigenen Argumentation nicht wirklich zu 100 Prozent folgen können. Sie sprechenden den bürgerlichen, nicht-marxistischen Aggressionsmodellen nicht pauschal jegliche Bedeutung ab. Sie enden aber bei einer wissenschaftlich doch grundsätzlich verengten Sichtweise auf die marxistische Konzeption des Menschen und der marxistischen Theorie der menschlichen Persönlichkeit, die erst ab Mitte der 80ger Jahre im Zusammenhang mit der sehr gründlichen, interdisziplinär konzipierten Grundlagenforschung der „bio-psychosozialen Einheit Mensch“ einen inhaltlichen und organisatorischen Rahmen an der Akademie der Wissenschaften der DDR und der Humboldt-Universität bekam. Das Ende der DDR hat diesen hoffnungsvollen Ansatz leider zunichte gemacht.10

Bei Klaus/Buhr ist also zu lesen: „Bei allen biologisch vorhandenen Dispositionen zu individueller Aggressivität, bei aller Berechtigung von Argumenten der Frustrationstheoretiker: da der Mensch primär ein gesellschaftliches Lebewesen ist und die Gesetze seines Zusammenlebens, also die gesellschaftlichen Gesetze, alle Formen auch seines individuellen Lebens, selbst seines biologischen Status, tiefgehend und nachhaltig beeinflussen, muss der Kampf gegen aggressives Verhalten auch des Individuums, ohne andere Behandlungsmethoden zu vernachlässigen, primär gesellschaftlich geführt werden.“11

Das hat in dieser Verabsolutierung des Sozialen eine nur wenig erkenntnisgewinnende Funktion und hilft nicht die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft, die komplexen Vernetzungen und Widersprüche zwischen Biologischem, Sozialem und Psychischem zu verstehen.

Unnötigerweise brachten Marxisten sich selbst mit dieser Orientierung um einen wichtigen Beitrag, den sie in der Erforschung auch der „dunklen Seiten“ der Menschen hätten leisten können.

Breivik ist über den Fakt seines Massenmordes und der Trauer, die so viele Familienangehörigen und Freunde über die Toten und die Traumatisierten empfinden, hinaus eine Mahnung für marxistische Wissenschaft und Wissenschaftler(innen) das auf allen Gebieten zu tun, was die Begründer des Marxismus, Marx, Engels, Lenin, vormachten: den Dingen wissenschaftlich auf den Grund gehen, Fragen zu stellen und die „konkrete Analyse der konkreten Situation“ wichtiger zu nehmen als Vorurteile und, theoretische Verengung und geistige „Verbotsschilder“.

 

 

1          Neues Deutschland vom 4.8.2011, S. 5: Attentäter Breivik ergab sich telefonisch

2          H.-P. Brenner. Kein „Psychopath“, sondern „Spitze des Eisbergs“; unsere zeit vom 27.07.11, S, 2

3          http://www.derwesten.de/nachrichten/panorama/

Psychiater-Breivik-war-nicht-geisteskrank-id4918396.html

4          J.T. Tedeschi / R.B. Felson (21994): Violence, Aggression and Coercive Actions. Washington, DC. American Psychological Association

5          W: Stroebe / M. Hewstone / G. M.Stephenson (1997): Sozialpsychologie. Ei Einführung. Berlin / Heidelberg /New York, S. 446

6          „SPIEGEL“ Nr. 31/2011, S. 72

7          Zit. n. : www.manfredhiebl.de/urban.htm

8          Vergl. „Neues Deutschland“ vom 4.8. 2011, S. 8

9          Autorenkollektiv: Wörterbuch Psychologie, Köln 1986 (4. Auflage); S. 15

10       Vergl. dazu meine 2002 bei Pahl-Rugenstein (Nachf.) in Bonn erschienene Dissertation“ Marxistische Persönlichkeitstheorie und die ´bio-psychosoziale Einheit Mensch`. Studie zur Entwicklung des Menschenbildes in der DDR“

11       G. Klaus / M.Buhr: Philosophisches Wörterbuch Band 1, Leipzig 1974, S. 49