„Vater Staat“ und die Rückkehr des „STAMOKAP“

„Vater Staat“ und die Rückkehr des „STAMOKAP“
Hans-Peter Brenner
 
Peer Steinbrück: „Generell muss man wohl sagen, dass gewisse Teile der marxistischen Theorie doch nicht so verkehrt sind.
SPIEGEL: Und das aus Ihrem Munde?“
(SPIEGEL, 29.09.08)
 
Die Nachrichtensendungen und Zeitungen überschlagen sich geradezu mit neuen Fakten über den „Finanz-Tsunami“, der jetzt auch das europäische Währungssystem überrollt und zu einer immer größeren Gefahr auch für die „Realwirtschaft“ zu werden droht. Nicht nur die Boulevardpresse ergeht sich in Spekulation darüber, ob jetzt auch „wir“ mit „unseren“ Sparkonten und Lebens- und Altersversicherungen betroffen sind. Auch die „seriöse“ Presse hat ganz auf Katastrophenberichte umgestellt.

Angesichts der schier unglaublichen Summen, mit denen nationale Regierungen „Rettungsaktionen“ starten, ist das auch nicht überraschend. Nur einige markante Zahlen:
• Mit der größten deutschen Staatshilfe, die es je gegeben hat – einer Bundes-Bürgschaft von insgesamt 35 Milliarden Euro - soll der Konkurs des Baufinanzierers „Hypo Real Estate“ abgewendet werden.
• Die britische Regierung rettet mit einer Kreditzusage über 63 Milliarden Euro die Immobilienbank Bradford & Binley.
• Die drei Benelux-Staaten stellen 11,2 Milliarden Euro bereit, um die niederländisch-belgische Fortis-Finanzgruppe vor dem Kollaps zu bewahren. Sie übernehmen
49 % Anteile an den jeweiligen Fortis-Niederlassungen.
• Auch die französisch-belgische Dexia-Bank wird nur Dank einer staatlichen Kapitalerhöhung in Höhe von 6,4 Milliarden Euro kurz vor dem Zusammenbruch gerettet.
• Die angeschlagene drittgrößte Bank Islands, Glitnir, wird über Nacht verstaatlicht. Der isländische Staat übernimmt 75% der Anteile für einen Kapitalzuschuss von 600 Mio Euro.
• Der irische Staat gibt eine Garantieerklärung für die Spareinlagen aller irischen Banken in Höhe von 400 Mrd. Euro. Das ist fast das Dreifache des irischen Bruttosozialprodukts.
• Mit einer 700 Mrd. Dollar Garantie für die insolventen Hypothekenbanken will auch in den USA der Staat zu einer gigantischen „Rettungsaktion“ antreten.

„Kernschmelze“ des Kapitalismus

Der hoch entwickelte „Casino- oder Raubtier-“ Kapitalismus, dessen Propagandisten sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten damit gebrüstet hatten, dass die „Gesetze des Marktes“ alles „von selbst richten“, ist in einer Sackgasse gelandet, aus der er aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden kann.

Auf der politökonomischen Bühne erscheint jetzt deshalb eine fast schon vergessene historische Figur, der kapitalistische „Vater Staat“, als aktiver Regulator der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Der Staat als Banker tritt an die Stelle der bisherigen Hauptakteure, der nationalen und multinationalen Finanzkonglomerationen.

Damit stellt sich für Marxisten die Frage nach einer erneuerten Aktualität der Existenz des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Und nicht nur sie stellen sich diese Frage. Schon wird in flotten Kommentaren das „Ende des „Neo-Liberalismus“ verkündet und die Rückkehr des „ökonomisch aktiven“ Staates gefeiert.

Manch einer der seriösen bürgerlichen Kommentatoren verkündet jetzt sogar die fast kommunistisch und revolutionär anmutenden Losung „Verstaatlicht alle Banken“ – so z. B. der „FR“-Kommentator R. von Heusinger (FR 30.9.08): In der Kernschmelze des kapitalistischen Systems wird klar, dass Banken nie private Unternehmer sein können. Sie sind immer quasi-öffentlich und müssen deshalb streng reguliert werden.“

„Kernschmelze“ des kapitalistischen Systems. Wer so etwas sagt, wäre nach dem Ende des realen Sozialismus in Europa und der UdSSR in den 90er Jahren für verrückt erklärt worden. Heute bekommt er dafür weder einen Ordnungsruf seitens der Chefredaktion, geschweige denn ein Schreib- oder Berufsverbot, wie es vor 1989 fällig gewesen wäre.

Aber handelt es sich nicht in Wirklichkeit um den „normalen“ Kapitalismus, der im Moment eigentlich nur das tut, was der moderne Kapitalismus in seinem monopolistischen Stadium in unschöner Regelmäßigkeit häufig zu tun pflegt? Übernimmt nicht der Staat einfach nur wieder seine Rolle als „ideeller Gesamtkapitalist“, wie es schon Marx so schön literarisch und dennoch wissenschaftlich exakt formulierte?

Kommt es bloß zu einem „come back“ des staatsmonopolistischen Kapitalismus“ und der „STAMOKAP“ Theorie ?

Lenin und die „SMK“-Theorie

 Lange war es still um den „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ und um die „STAMOKAP – Theorie“ gewesen. Für das Internet-Lexikon „Wikipedia“ war sie bereits nur noch eine historische Reminiszenz an die Theoriedebatten der 70er Jahre. Damals hatte die auf die Leninsche Imperialismus-Analyse zurückgehende Theorie internationale Wellen geschlagen. Doch seit Jahren wurde kaum noch darüber diskutiert.  

Im Verlauf des 1. Weltkrieges hatte Lenin einen neuen qualitativen ökonomischen und politischen Mechanismus im monopolistischen Stadium des Kapitalismus = Imperialismus erfasst. Im Mai 1917 brachte er diese neue Entwicklung auf die folgende Formel: „Der monopolistische Kapitalismus verwandelt sich in staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine Reihe von Ländern gehen unter dem Druck der Verhältnisse zur öffentlichen Regulierung der Produktion und der Verteilung über. ... Bei Aufrechterhaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln gehen alle diese Schritte in Richtung einer größeren Monopolisierung und größeren Verstaatlichung der Produktion unweigerlich Hand in Hand mit einer stärkeren Ausbeutung der werktätigen Massen, mit der Verstärkung der Unterdrückung, der Erschwerung des Widerstands gegen die Ausbeuter, dem Erstarken der Reaktion und des Militärdespotismus.“ (Lenin Werke 24, S. 302 f.)

Nur wenige Monate später, im September 1917, setzte Lenin diese neue Stufe der Kapitalismusentwicklung in einen geradezu schicksalhaften Zusammenhang mit der sich immer weiter vertiefenden politischen Krise des damaligen Russlands. Er sah eine umfassende „drohende Katastrophe“ auf die werktätige Bevölkerung zukommen, die nicht nur als militärische Niederlage gegenüber dem imperialistischen Deutschland unmittelbar bevorstand. Die wirtschaftliche Lage Russlands, das gesamte Industrie- Agrar- und Finanzwesen, waren so sehr zerrüttet, dass ein gezieltes Eingreifen des bürgerlichen Staates in die Organisierung des Produktions- und Finanzsektors zur Vermeidung eine landesweiten Hungerkatastrophe notwenig wurde.

Die „drohende Katastrophe“

Die Bolschewiki legten in dieser Situation ein Programm vor, mit dem das Land aus der tiefen Wirtschaftskrise geführt werden sollte. Lenin fasste dieses Programm in dem Artikel „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ zusammen:

Das private Bankenwesen, aber auch das Versicherungswesen und die wichtigsten Produktionsbetriebe sollten verstaatlich werden. Dies verband Lenin mit Forderungen nach der Einführung von Produktions- und Arbeiterkontrollen.

Eine „revolutionäre Demokratie“ in Form starker Sowjets sollte mit Hilfe einer „Arbeiter- und Produktionskontrolle“, die den Weg zu weitergehenden sozialistischen Umwälzungen hätte frei machen können, diesen zentralisierten Wirtschaftsmechanismus unter ihre Obhut nehmen. Es sollte also nicht nur „verstaatlicht“ sondern auch „nationalisiert“ werden. Das sei „noch kein Sozialismus, aber schon kein Kapitalismus mehr.“ (LW 25, S. 371.)

Lenin definierte diese ersten Elementen des staatsmonopolistischen Kapitalismus als eine „unmittelbare Vorstufe“, als eine „vollständige materielle Vorbereitung des Sozialismus“. Er führte weiter aus: „Man wird sehen, dass der staatsmonopolistische Kapitalismus in einem wirklich revolutionär-demokratischen Staat unweigerlich, unvermeidlich einen Schritt, ja mehrere Schritte zum Sozialismus hin bedeutet!“ (LW 25, 368)

Die strategische Bedeutung der „SMK-Theorie“

In den ersten wichtigen programmatischen Dokumenten der DKP, der „Grundsatzerklärung“ von 1969, den „Thesen des Düsseldorfer Parteitages von 1971 und im Parteiprogramm von 1978 wurden diese frühen Elemente der Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus weitergeführt und Grundlage der Konzeption des antimonopolistischen Kampfes bzw. der „antimonopolistischen Demokratie“.,

Darin sahen diejenigen linken sozialdemokratischen Studenten, die sich in den 70er Jahren im „Sozialistischen Hochschulbund- SHB“ organisiert hatten, eine fundierte Grundlage für die enge Kooperation und Bündnispolitik mit den in den DKP-Hochschulgruppen oder im damals einflussreichsten linken Studentenverband, dem MSB- SPARTAKUS organisierten Mitgliedern und Sympathisanten der DKP. Dies wurde dann aber von der SPD-Führung mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss bestraft.

Bei den Jusos bildete sich parallel der „Stamokap-Flügel“ heraus, der in der Bewertung des Zusammenhangs zwischen kapitalistischem Staat und Monopolen, ähnlich wie auch wir Kommunisten, eine neue Form und Qualität wechselseitiger Durchdringung und Abhängigkeit sah. Auch die „STAMOKAP“-Jusos waren einer punktuellen Zusammenarbeit und Aktionseinheit mit der DKP nicht grundsätzlich abgeneigt. Der damalige Juso-Vorsitzende Klaus Uwe Benneter, der sich in dieser Hinsicht etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte, wurde vorübergehend aus der SPD ausgeschlossen. Erst unter Gerhard Schröder gelang ihm die Rückkehr in Ämter und Würden. Der damalige Hamburger Bürgermeister Klose konnte es sich aber in jener Zeit immerhin erlauben, in „konkret“ vom Staat als „Reparaturbetrieb des Kapitalismus“ zu sprechen, ohne von seiner Parteispitze abgestraft zu werden.

Die „Krise“ der SMK-Theorie

Die „STAMOKAP“ – Theorie war also einen längeren Zeitraum eine ökonomische Theorie und Begrifflichkeit, an der sich auch Nicht-Marxisten theoretisch und politisch abarbeiten mussten. In der BRD fanden die entsprechenden Arbeiten des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen – IMSF, wie z. B. das von H. Jung und J. Schleifstein verfasste Werk „Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus und ihre Kritiker“ einen beachtlichen Widerhall und Leserkreis.

Dies änderte sich nach dem Sieg der Konterrevolution und dem Kollaps der Länder des realen Sozialismus. In dessen Gefolge schien auch die Leninsche Imperialismus-Theorie zu kollabieren. Begriffe wie „Neoliberalismus“ und “Globalisierung“, die lediglich Politikvarianten innerhalb des gegenwärtigen Kapitalismus oder eine Weiterentwicklung des bereits von Marx, Engels und Lenin analysierten Zusammenhangs von Binnenmarkt und Weltmarkt ausdrückten, griffen auch in der internationalen marxistischen Debatte um sich. Zeitweilig schienen sie die Oberhand gegenüber den marxistisch-leninistischen Analysen des engen Zusammenschlusses zwischen Finanz- und Industriekapital mit der Staatsmacht zu einem engen – aber nicht widerspruchsfreien – Machtmechanismus zu gewinnen.

Der kapitalistische Staat schien sich um die Jahrhundertwende immer mehr aus seiner Rolle eines aktiven Wirtschaftsgestalters und Regulators zurückzuziehen. Die Privatisierung von staatlichem und öffentlichem Eigentum wurde die „goldene Regel“ staatlicher Politik. Der „Neo-Liberalismus“ schien die „“STAMOKAP_Theorie“ widerlegt zu haben.

Doch das war schon damals falsch und ist es heute erst recht.

Denn auch in den Jahrzehnten seit 1989 hatte der Staat nie auf eine aktive Rolle zugunsten des Groß- und Monopolkapitals verzichtet. Und es gab kein Ende des ständigen Personal- und „Kaderaustausches“ zwischen Führungsstellen im Staatsapparat und in den Führungsetagen großer Banken- und Industrieunternehmen bzw. in Unternehmerverbänden.

Der um sich greifende Verkauf von staatseigenen Betrieben wie Deutsche Post und Deutsche Bahn bzw. von staatlichen Anteilen an Großunternehmen bedeutete keinesfalls einen Ausstieg des Staates aus einer aktiven Wirtschafts-, Sozial-, Finanz- und Steuerpolitik im Interesse der Großkonzerne bzw. eine Widerlegung der „STAMOKAP“-Theorie.

Dies wird auch deutlich an der Entwicklung der sogenannten Staatsquote.

Ökonomisch aktiver Staat und die „Staatsquote“

Diese ist ein wichtiger Indikator für die aktive ökonomische Rolle des Staates. Sie misst das Verhältnis der Haushaltsausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der gesetzlichen Sozialsysteme zum Bruttoinlandsprodukt. Soweit ist sie ein grobes Maß für den Anteil der staatlichen und staatlich bedingten wirtschaftlichen Aktivität an der wirtschaftlichen Gesamtleistung der Volkswirtschaft.

Die von Lenin begründete Theorie des staatsmonopolitischen Kapitalismus steht und fällt jedoch nicht mit irgendwelchen Prozentanteilen des Staates am Bruttosozialprodukt, der „Staatsquote“, und auch nicht an wechselnden und schwankenden Besitzanteilen an staatlichem Produktiveigentum.

Die Staatsquote betrug 1961 in der BRD 36%; sie stieg bis 1971 auf 40% und lag 1982 bei 49,8 %: seitdem sank sie zwischenzeitlich (1986) auf 46,3 %; betrug 1990 wieder 49% und 1992 50 %. (Vergl. dtv-lexikon, 1995, Bd. 17, S. 205) Dieser Anteil sollte Mitte der 90er Jahre nach Auffassung führender Wirtschaftsexperten der Bundesregierung auf 36% heruntergeschraubt werden. Damit wäre der Stand von 1961 erreicht worden.

Hätten wir damit keinen „SMK“ mehr? In den Jahren zwischen 1995 und 2001 pendelte sich in den hoch entwickelten kapitalistischen Staaten die Staatsquote bei ca. 50% ein. Mit den oft verdeckten Finanztransfers der öffentlichen Hände stieg die sogenannte „unsichtbare“ Staatsquote sogar weit darüber hinaus. In einer Untersuchung von Rolf Kroker über die Zusammensetzung und Aussagefähigkeit der Staatsquote wird sogar ein Wert von um die 70 Prozent genannt.

Die Ausgaben von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen summieren sich 2006 auf 45,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und erreichten damit den höchsten Wert seit dem Anschluss der DDR an die BRD.

Nach Einschätzung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IWF) wird die Staatsquote im Jahre 2008 bei 42,9% liegen und damit das niedrigste Niveau seit mehr als 30 Jahren erreichen. In der Eurozone liegen nur noch die Quoten von Irland, Spanien und Luxemburg niedriger.

DKP-Programm und „STAMOKAP“ heute

Der Pulverdampf der heißen Debatten um „Neoliberalismus“ und „Globalisierung“ innerhalb der DKP ist mittlerweile verflogen. In einem langen Diskussionsprozess konnte ein theoretischer Konsens gefunden werden, der im neuen DKP Parteiprogramm von 2006 so formuliert wurde:

„Kapitalismus und moderner Staat sind in einem komplizierten geschichtlichen Prozess entstanden und ihre Entwicklung hat sich wechselseitig bedingt. ...

Mehr und mehr konnte sich das Monopolkapital nur mit Hilfe ständiger direkter wirtschaftlicher Tätigkeit des Staates reproduzieren. Der staatsmonopolitische Kapitalismus wurde zur Existenznotwendigkeit des Kapitalismus. ...

Als neues Moment zeichnen sich im Zusammenhang mit der Globalisierung Keimformen eines globalen staatsmonopolistischen Regulierungssystems ab, mit dem die Krisenpotentiale der kapitalistischen Weltwirtschaft und die zwischenimperialistischen Widersprüche in Schach gehalten werden sollen. ...

Die Hauptelemente dieses im Aufbau begriffenen ökonomisch-politisch-militärischen Machtapparates sind jedoch die Nationalstaaten, die in diesem Prozess einer tief greifenden Veränderung ihrer Rolle unterworfen werden.

Mit der Strategie des Neoliberalismus wird der Prozess der Internationalisierung des Staatsmonopolistischen Kapitalismus beschleunigt.“ (Programm der DKP, S. 10-12)

Die gegenwärtige Krise des internationalen Finanzkapitals bestätigt diese Aussagen. Mit dem sich ausbreitenden Kollaps der in hochspekulativen Aktien- und Geldtransaktionen involvierten Bank- und Finanzinstitutionen erreicht die ökonomische und finanzpolitische Rolle des Staates im gegenwärtigen Monopolkapitalismus jedoch einen besonders hohen Aktivitätsgrad. Die „Sozialisierung der Verluste“ auf Kosten des Staatshaushaltes und der Steuerzahler belegt, wie unmittelbar und massiv die Unterordnung des kapitalistischen Staates unter die Interessen des Großkapitals ist.

Und doch ist es eigentlich nur der ganz normale „STAMOKAP“.