Der US-Senat hat der amerikanischen Regierung in seiner Resolution zur
Ratifizierung von New START vom Dezember 2010 ein klares Mandat
erteilt: nämlich binnen eines Jahres Verhandlungen mit Russland über
taktische Kernwaffen zu initiieren. Dabei soll das auf diesem Gebiet
zwischen beiden Seiten existierende Ungleichgewicht, es besteht eine
große numerische Disparität zugunsten Russlands, angesprochen werden -
mit dem Ziel, ein Abkommen zur Gewährleistung der Sicherheit dieser
Waffen und zur verifizierbaren Reduzierung ihrer Bestände abzuschließen.
Nach derzeitigem Stande wird Barack Obama diesem Mandat in absehbarer
Zeit nicht nachkommen können, denn, wie es so schön heißt: „It takes two
for a tango". Russland nämlich zeigt seit längerem kein erkennbares
Interesse an diesem Gegenstand. Der russische Außenminister Sergej
Lawrow etwa machte dies durch die diplomatische Blume deutlich, als er
im Januar 2011, also unmittelbar nach der Senatsresolution, äußerte:
Bevor über irgendwelche weiteren Schritte zur nuklearen Abrüstung
gesprochen werden könne, sei es „notwendig, das New START-Abkommen zu
erfüllen". Die zeitliche Zielmarke dafür liegt dem Vertrag zufolge erst
im Jahre 2018. Nur - die Vertragslimits von New Start waren bereits zum
Zeitpunkt von Lawrows Statements so gut wie erfüllt, wie auch die
Öffentlichkeit seit Juni weiß (siehe Das Blättchen Nr. 12 vom 13. Juni 2011). Lawrow dürften die entsprechenden Zahlen allerdings schon im Januar bekannt gewesen sein.
Taktische, sub- oder nichtstrategische, atomare Kurzstrecken- bzw.
Gefechtsfeldwaffen - all dies sind synonyme Begriffe für Typen von
land-, luft- und seegestützten Kernwaffen, mit denen im Ernstfall auf
dem Kriegsschauplatz operiert, nicht aber der Gegner in seinem Kernland
vernichtet werden soll. Der Unterschied ist existenziell - allerdings
nur für die USA und Russland. Nicht für die Betroffenen auf einem
tatsächlichen Kriegsschauplatz, wie bereits Auswirkungen der ersten
amerikanischen Kernwaffeneinsätze gezeigt haben: Die frei fallenden
atomaren Fliegerbomben, deren Abwurf auf Hiroshima („Little Boy" -
Uranbombe / Kernspaltung) und Nagasaki („Fat Man" - Plutoniumbombe /
Kernspaltung) im Jahre 1945 sich am 6. und am 8. August jährt, hatten
zum Zeitpunkt der Explosionen und in den unmittelbaren Folgemonaten
Huntterttausende Todesopfer und in den nachfolgenden Jahrzehnten
unzählige weitere zur Folge. Mit einer Sprengkraft von 13 und 22
Kilotonnen TNT-Äquivalent würde man sie heute zu den taktischen
Kernwaffen am unteren Ende der Skala zählen. (Zum Vergleich: Das frei
fallende US-Nachfolgemodell B-61, eine Wasserstoff- oder
Kernfusionsbombe, verfügt in der auf dem Bundesluftwaffenfliegerhorst in
Büchel / Eifel gelagerten Version über eine Sprengkraft von bis zu 170
Kilotonnen.)
Während der jahrzehntelangen Ost-West-Konfrontation wurden unglaubliche
Quantitäten dieser Waffen für unterschiedlichste Trägersysteme (atomare
Landminen, Geschosse für Granatwerfer und Artilleriegeschütze,
Sprengköpfe für land-, luft- und seegestützte Angriffs- sowie für
Luftabwehrraketen, für Torpedos und Marschflugkörper, Flieger- und
Wasserbomben) auf beiden Seiten angehäuft, und ein großer Teil davon war
gegen Ende des Kalten Krieges noch vorhanden: Unter 6.000 Sprengköpfe
auf amerikanischer und über 20.000 auf sowjetischer Seite listete eine
Studie für den US-Kongress unter dem Titel „Nonstrategic Nuclear
Weapons" vom Februar 2011 auf.
Einbezogen in die amerikanisch-sowjetischen / russischen
Rüstungskontroll- und Abrüstungsgespräche, die - mit Unterbrechungen -
seit Ende 1969 laufen, und die daraus resultierenden Abkommen waren die
taktischen Kernwaffen beider Seiten zu keinem Zeitpunkt, weil sie für
Washington und Moskau allenfalls von sekundärem, jedenfalls nicht von
existenziellem Interesse waren und sind. Trotzdem hat es eine
bemerkenswerte Interaktion auf diesem Felde gegeben, die als
Presidential Nuclear Initiatives (PNIs) in die Abrüstungsgeschichte
eingegangen ist. Das Hauptargument der NATO für taktische Kernwaffen und
ihre frontnahe Dislozierung in Europa war stets die befürchtete
konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion und der Warschauer
Vertragsorganisation (WVO) gewesen. Mit deren Zerfall - die offizielle
Auflösung erfolgte am 1. Juli 1991 - parallel zu den gesellschaftlichen
Umwälzungen in den Mitgliedsstaaten war dieser Grund obsolet. Und
bereits am 27. September 1991 verkündete US-Präsident George Bush sen.
daraufhin eine einseitige Initiative zum Abbau taktischer Kernwaffen,
inklusive eines weitgehenden (nicht vollständigen!) Rückzugs der
US-Kernwaffen aus Europa. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow
folgte am 5. Oktober mit einer adäquaten Initiative, die später von
seinem Nachfolger, Boris Jelzin, bestätigt wurde. Dass dies möglich
wurde und der Anstoß ungeachtet der bestehenden Disparität von den USA
ausging, resultierte nicht zuletzt daraus, dass ein Einsatz taktischer
Kernwaffen im Konfliktfall immer das Risiko in sich geborgen hätte, zum
alles vernichtenden strategischen Schlagabtausch zu eskalieren. Die
sowjetische Seite hatte in der Vergangenheit wiederholt durchblicken
lassen, dass ihrer Auffassung nach im Falle des Falles ein solcher
Verlauf geradezu zwangsläufig eintreten müsste. Zugleich schürte der
Zerfall der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen in der
Sowjeunion und bei ihren Verbündeten am Übergang zu den 90er Jahren
wachsende Befürchtungen im Hinblick auf die Gewährleistung von Kontrolle
und Sicherheit dezentral gelagerter sowjetischer Kernwaffen an
vorgeschobenen Standorten.
Die PNIs setzten - ohne formelle Vereinbarung und demzufolge auch ohne
völkerrechtliche Bindungskraft, ohne jeglichen offiziellen
Datenaustausch oder gar wechselseitige Kontrollen - eine Entwicklung in
Gang, die zum Abzug von 100 Prozent der sowjetischen und von circa 95
Prozent der amerikanischen Kernwaffen vom Territorium europäischer
Verbündeter und in der Folge zu deutlichen Reduzierungen der
beiderseitigen Bestände geführt hat - um 75 Prozent im Falle Russland
und zu einem noch höheren Prozentsatz bei den USA.
Wenn auch längst noch nicht alle ausgesonderten Sprengköpfe tatsächlich
physisch abgerüstet, also irreversibel demontiert sind, machen Fachleute
zum aktuellen Stand folgende Angaben:
- Russische Experten wie Anatoli Diakow vom Moskauer Zentrum für
Rüstungskontrolle, Energie und Umweltstudien und Andrei Zagorski von der
russischen Akademie der Wissenschaften gehen für die USA von noch 700
taktischen Gefechsköpfen aus, davon 500 im aktiven Arsenal und davon
wiederum 180 bis 200 in Europa stationiert.
- Für die russische Seite rechnen Hans M. Kristensen und Robert S.
Norris von der Federation of American Scientists mit 5.390 Sprengköpfen
(2.270 seegestützt, 2.000 luftgestützt sowie 1.120 Sprenköpfe für
Raketen- und Luftabwehrsysteme) und stellen fest: „Diese
Sprengkopfzahlen übersteigen bei weitem Russlands Kapazität an
nuklearfähigen maritimen, Luftwaffen- und
Luftvereidigungs-Trägersystemen". Unterm Strich blieben um die 2.080
einsatzfähige Sprengköpfe; der Rest sei wahrscheinlich ausgemustert und
vorgesehen zur Demontage. Im Übrigen rechnen Kristensen und Norris mit
einer weiteren Reduzierung des russischen Arsenals um bis zu 50 Prozent
in den nächsten zehn Jahren. Was die Stationierung der taktischen
Kernwaffen Russlands anbetrifft, so wurden sie, einem offiziellen
russischen Statement aus dem Jahre 2002 zufolge, komplett von ihren
Trägersystemen getrennt und werden in zentralen Einrichtungen gelagert.
Ungeachtet dieser Entwicklungen halten Fachleute die Existenz taktischer
Kernwaffen nicht nur für kein geringeres Menschheitsproblem als die
ihrer „großen" Geschwister, sie seien vielmehr, wie es in einem Papier
der unter anderem von Ex-US-Senator Sam Nunn geleiteten Nuclear Threat
Initiative hieß, „in mancherlei Hinsicht [...] gefährlicher als
strategische Waffen". In diesem Zusammenhang wird vor allem auf folgende
Aspekte verwiesen:
- Der beschränkte Einsatzradius dieser Waffen macht ihren Einsatz im
Konfliktfall grundsätzlich wahrscheinlicher als im Fall strategischer
Systeme, und das Risiko eines dadurch ausgelösten allgemeinen
Schlagabtausches besteht fort. Darüber hinaus verwiesen Sam Nunn, Igor
Iwanow und Wolfgang Ischinger, Euro-Atlantic Security Initiative, erst
jüngst erneut auf „das Risiko eines unbeabsichtigten, unautorisierten
oder irrtümlichen Einsatzes" hin. Diese Gefahr resultiert nicht zuletzt
daraus, dass ältere Modelle, die vor allen in russischen Beständen
vermutet werden, nicht über so genannte Permissive Action Links
verfügen, die das unautorisierte Scharfschalten der Waffen - sowie
Explosionen durch Unfälle wie Flugzeugabstürze, Feuer und ähnliches -
verhindern.
- Der gesamte Bereich der taktischen Kernwaffen ist nach wie vor
hochgradig intransparent; es gibt weder Abkommen noch gegenseitige
Kontrolle. (Den Vorwurf, hier eine zu Misstrauen Anlass gebende
Geheimniskrämerei zu betreiben, richten die NATO und die USA besonders
gern an die Adresse Moskaus. Aber auch für die amerikanische Seite gilt
bis zum heutigen Tage: keinerlei offizielle, nachprüfbare Angaben.)
- Taktische Kernwaffen gelten wegen ihrer zum Teil handlichen
Abmessungen und der dadurch gegebenen leichteren Möglichkeit, sie zu
transportieren und zu verbergen, als „einladende Beschaffungsziele für
terroristische Gruppen", wie George P. Shultz, William J. Perry, Henry
A: Kissinger und Sam Nunn in ihrem Wallstreet Journal-Beitrag
„Toward a Nuclear-Free World" von 2008 hervorhoben. Speziell im Hinblick
auf Russland wird westlicherseits dabei immer wieder die Befürchtung
laut, derartige Waffen könnten verschlampt, gestohlen und / oder an
andere Staaten verkauft werden. (Die bereits erwähnte Studie für den
US-Kongress hielt dazu allerdings zutreffend fest, dass es bisher
keinerlei Erkenntnisse „über irgendwelche Vorfälle mit verloren
gegangenen, verkauften oder gestohlenen russischen Kernwaffen" gibt.)
Wird fortgesetzt.