zwei seiten, keine medaille

Geschichten aus dem Integrationskurs

An einem Tag wie heute bin ich nie gerne zur Schule gegangen. Es nieselt draußen, es ist grau. Die Unterrichtsräume glichen damals entweder einer Sauna, überheizt und stickig; oder einem Iglu während der Schneeschmelze, eiskalt und trotzdem nass. Heute bin ich nur Gast — in einer Sprachschule, die den seit 2005 eingeführten Integrationskurs anbietet. Ungefähr 400 Migrant_innen besuchen pro Halbjahr diese Einrichtung in der Mitte Berlins. Als ich das unscheinbare Gebäude betrete, fühle ich mich wieder in meine Schulzeit zurück versetzt. Auf dem Flur kramen Leute in ihren Unterlagen, die nächste Prüfung wird besprochen, die dumpfen Stimmen der Lehrenden hallen auf den Gang. Ich fühle mich sofort, als hätte ich meine Hausaufgaben nicht gemacht.

Erste Stunde

600 Stunden umfasst der Integrationskurs zum Erwerb der deutschen Sprache. Ein Kursmodul besteht aus 100 Stunden und wird mit einer Prüfung abgeschlossen, deren Bestehen die Voraussetzung für die Teilnahme am nächsten Modul ist. In weiteren 45 Stunden soll die Vermittlung deutscher Rechtsordnung, Geschichte und Kultur gewährleistet werden. Am Ende dieses „Orientierungskurses“ steht ebenfalls eine Prüfung, die verpflichtend ist, um den deutschen Einwanderungs-Persilschein zu erhalten. Etwas desorientiert werde ich vom Lehrer zum Klassenzimmer geführt. Der spärlich eingerichtete Raum macht keinen Hehl aus seinem Zweck. Die kahlen weißen Wände und die grauen Tische werden von einem Plakat mit Konjugationen nur wenig aufgehellt, denn an Farbe wurde auch hier gespart. Sodann füllt sich der Raum. Sechs Frauen, sechs Männer zwischen 20 und 50 Jahren nehmen Platz. Ein ungewöhnlicher Anblick: erwachsene Menschen in der Schule. Lebenslanges Lernen, staatlich verordnet.

Test

Nach einer kurzen gemeinsamen Rekapitulation der Bedeutung von Legislative und Exekutive wird ein Test geschrieben. Beim Durchblättern des Fragekatalogs strahlt einem die gesamte Arroganz deutscher Leitkulturwissenschaft entgegen. Was als Frage formuliert ist, ist als Imperativ gemeint: Das darfst Du in Deutschland und das nicht. Flankiert wird das Ganze mit Fragen zur Aufgabe des Bundesrates und der Sitzanzahl des deutschen Bundestages. Die meisten Menschen im Kurs sind weder bei Landtagswahlen, noch bei der Bundestagswahl wahlberechtigt. In den Kursen für Asylbewerber_innen können die Teilnehmenden noch nicht einmal ihren Wohnort wählen.

Ein Arbeitsblatt wird ausgeteilt und das Wort „Familie“ an die Tafel geschrieben. Was ist Familie, werden die Teilnehmenden gefragt. Eine Diskussion entspinnt sich. Doch schnell kippen die Antworten in eine andere Richtung, in die Suche nach einer „deutschen“ Familiendefinition. Plötzlich schwebt die Frage der richtigen Einstellung im Raum. Später werde ich von einem Teilnehmer aufgeklärt, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) regelmäßig Kontrollbesuche veranstaltet und man Angst habe, sich falsch zu verhalten. Meine Anwesenheit wird bei einigen diese Assoziation hervorgerufen haben. Den Teilnehmer_innen ist die Sinnlosigkeit des Kurses ins Gesicht geschrieben. Auf dem Arbeitsblatt befinden sich diverse Familienmodelle, von denen die Hälfte nach christlich-jüdischer Leitkultur in der Hölle enden würden. Das Modell einer Familie mit Migrationshintergrund sucht man vergeblich. Die Lebensrealität der Menschen, die diesen Kurs absolvieren müssen, ist nicht von Belang. Keine der Fragen zur Rechtsordnung widmet sich z.B. den Rechten von Migrant_innen. Das Lehrbuch, aus dem das Arbeitsblatt stammt, thematisiert die Situation hier lebender Migrant_innen nicht. Es ist ein Verdienst dieser Schule und seines Lehrpersonals, dass der Orientierungskurs eine Kombination aus Auswendiglernen und erweitertem Sprachkurs ist und keine krude Eindeutscherei, wie mir versichert wird.

Pause

Die Leiterin der Schule erzählt in aller Offenheit von den Problemen der Schüler_innen und Lehrenden. Das Problem sei, dass niemand sich die Frage stellt, wer zu den Kursen kommt. Ihre Erzählungen vom iranischen Arzt, dessen Approbation nicht anerkannt wurde und der nun als Bauarbeiter sein Geld verdient bis hin zu Kriegsflüchtlingen, die noch nie eine Schule von innen gesehen haben, verweisen auf die Hilflosigkeit der Lehrenden. Niemand besitzt hier eine entsprechende Qualifikation. Sehr stolz ist sie dennoch, dass es mittlerweile eine fest angestellte Pädagogin gibt. Obwohl die Schule mit anderen Einrichtungen kooperiert, die sich den Problemen des Alltags einzelner Schüler_innen zuwenden, braucht es häufiger eine Anlaufstelle für psychologische Betreuung als eineN Deutschlehrer_in. Eine Lehrerin berichtet von einem Schüler, der aus Brandenburg kommt und dort in einem Asylbewerber_innenheim lebt und von den 160 Euro, die ihm zur Verfügung stehen, 60 Euro alleine für seine Monatsfahrkarte nach Berlin ausgibt. „Und das alles nur um ein bisschen Deutsch zu lernen“, sagt sie. Die Lebenserfahrungen ihrer Schüler_innen gehen an den Lehrer_innen nicht so spurlos vorbei wie an den deutschen Behörden. Auch unter den Lehrkräften herrscht große Unsicherheit. Eine Schule, die anders als die Volkshochschulen nicht staatlich subventioniert wird, erhält pro Schüler 2 bis 3 Euro. Das bedeutet eine Klasse unter 20 Teilnehmenden kann nicht einmal das Honorar des Lehrers oder der Lehrerin gewährleisten. Mit einem Stundenlohn von 14 Euro liegt man hier im Mittelfeld der Sprachschulen. Eine Klasse mit 20 Leuten sei eigentlich schon viel zu groß, wird mir immer wieder erzählt. „Im Klartext heißt das, dass es regelmäßig überfüllte Klassen braucht, um den Betrieb überhaupt am Laufen halten zu können“, konstatiert die Leiterin der Schule. Um sich privat zu bereichern, sei man hier an der falschen Stelle, fährt sie fort und lacht verzweifelt. Was sie von Integration halte, frage ich. Sie erwidert mit einem lauten Stöhnen: „Keine Ahnung was das sein soll.“

Schulschluss

„Alle Macht geht vom Volk aus. Was bedeutet das?“, steht auf einem der Fragebögen. Die richtige Antwort auf diese Frage ist leider nicht unter den Antwortmöglichkeiten: Die Macht geht von dem Volke aus, dem in dieser Schule keine_r angehört, obwohl sie alle hier leben. Einige haben den Kurs, der 5 Stunden pro Tag und zweimal in der Woche stattfindet, heute schon etwas früher verlassen. Viele müssen ihre Kinder von der Schule oder vom Kindergarten abholen, andere zur Arbeit. Was alle in dieser Schule — an der Tafel oder an den Tischen — eint, ist eine prekäre Lebenssituation. Es gibt kein Klingeln zur Pause, das ein Ende der Stunde beschließt. Als ich auf die Straße trete, ist es immer noch grau und nass. Willkommen in Deutschland.

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Laszlo Strzoda ist Mitglied der prager-frühling-Redaktion und gebürtiger Hesse. Einst schrieb ihm eine Deutschlehrerin unter die Klausur, dass sie doch sehr gut sei dafür, dass er noch nicht so lange in Deutschland lebe. Integriert fühlt er sich daher eher selten.