Wenn Schlepperbanden zu Geiselnehmern werden

Skrupellose Geschäfte mit afrikanischen Flüchtlingen in Ägypten

Eine Gruppe von bis zu 250 größtenteils eritreischen Flüchtlingen wird monatelang von Schleppern auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel gefangen gehalten. Die Angehörigen werden durch die ständige Misshandlung der Gefangenen genötigt, Lösegelder zu zahlen. Seit Ende 2009 mehren sich in Ägypten solche Vorfälle. Ob die Demokratiebewegung daran etwas ändern kann, bleibt offen.

Ende November 2010 schlugen italienische Menschenrechtsorganisationen Alarm. In Telefonaten hatten Mitglieder einer 80-köpfigen Gruppe eritreischer Flüchtlinge den in Italien lebenden Priester Mussiè Zerai um Hilfe gebeten. Ihre Schilderungen waren verstörend: Sie würden auf der Sinai-Halbinsel, in Grenznähe zu Israel, gemeinsam mit etwa 170 weiteren Flüchtlingen aneinandergekettet festgehalten. Täglich komme es zu Misshandlungen, sie erhielten kaum Nahrung und Wasser und seien so immer wieder gezwungen, den eigenen Urin zu trinken. Während die Berichte im Dezember von Woche zu Woche dramatischer wurden - berichtet wird von acht Ermordeten, vier Nierenentnahmen und der Vergewaltigung von Frauen und Kindern - brach der Telefonkontakt nicht ab. Die Gefangenen sollten ihre Angehörigen schließlich weiter um 8.000 US-Dollar Lösegeld pro Kopf anflehen können.

Laut einem aktuellen Bericht der Physicians for Human Rights Israel (PHR-I) nimmt die Praxis, Flüchtlinge zur Erpressung von Lösegeldern zu kidnappen, auf der Sinai-Halbinsel seit Ende 2009 dramatisch zu.1 Anfang 2010 sei den PHR-I aufgefallen, dass immer mehr Flüchtlinge, die über Ägypten nach Israel kamen, schwere Verletzungen aufwiesen. Bei den Frauen kamen Anzeichen sexueller Gewalt hinzu. So seien über 80 Abtreibungen und über 1.000 gynäkologische Behandlungen im Jahr 2010 auf Vergewaltigungen zurückzuführen. Eine Umfrage unter den Flüchtlingen ergab, dass insbesondere äthiopische und eritreische Flüchtlinge Opfer von Entführungen und Gewalt werden. Der israelische Journalist Nathan Jeffay vermutet, dass es Sprachbarrieren und der christliche Glaube seien, die zu besonderer Brutalität gegen sie führe. Arabischsprachige, muslimische SudanesInnen würden etwas besser behandelt.2 Das Schicksal der achtzig EritreerInnen bestätigt diese Vermutung. Anfang Dezember wurden zwei Priester aus ihrer Gruppe erschossen, weil sie mit den Gefangenen gebetet hatten. Die PHR-I berichten zudem, dass aufgrund der Geiselnahmen Flüchtlinge bis zu 8.000 Dollar zusätzliches Lösegeld benötigten. Da dies die Angehörigen vor erhebliche Probleme stelle, zögen sich die Gefangenschaften häufig monatelang hin. Dabei kommt es zu systematischen Misshandlungen und auch zu Zwangsarbeit.

 

Terrain der Rechtlosigkeit

Trotzdem versuchen jährlich tausende Eritreer die Flucht. Eritrea, das nach einem 30-jährigen Krieg mit Äthiopien 1993 die Unabhängigkeit gewann, ist von den Machthabern um Präsident Isayas Afewerki in eine der »brutalsten Militärdiktaturen der Welt« (Pro Asyl) verwandelt worden. Der »ruchlose Diktator«, so Reporter ohne Grenzen, habe das Land in ein riesiges Gefängnis verwandelt. Bei einer Bevölkerung von gerade einmal 5,2 Millionen EinwohnerInnen gebe es 314 offizielle und inoffizielle Gefängnisse. Dass dort grausame Misshandlungen die Regel sind und tausende ohne Anklage festgehalten werden, bestätigt auch Human Rights Watch.3 Eritrea belegt zudem seit vier Jahren den letzten Platz im weltweiten Ranking der Pressefreiheit. Aufgrund der konsequenten Abschottung nach außen bei gleichzeitig rigider Überwachung der eigenen Bevölkerung ist das Land bereits als »Nordkorea Afrikas« betitelt worden. Die Machthaber instrumentalisieren dabei den weiter schwelenden Konflikt mit Äthiopien, um einen ständigen Ausnahmezustand zu rechtfertigen (vgl. iz3w 319, Seite 6). Dieser äußert sich in einer zeitlich unbegrenzten Wehrpflicht für Frauen und Männer. Neben dem Fehlen religiöser und politischer Freiheiten ist dies einer der wichtigsten Fluchtgründe für tausende Menschen, die jährlich trotz Schießbefehl an der Grenze und trotz drohender Strafen für die Angehörigen die Flucht wagen.

Die gefährliche Fluchtroute führt regelmäßig durch den Sudan nach Libyen oder Ägypten. Bereits direkt hinter der Grenze, so der UNHCR in einem Bericht vom September 2010, machen »skrupellose Schlepper-Kidnapper« regelrecht Jagd auf die Flüchtlinge. Gelingt es ihnen, wie im Falle der hier geschilderten Gruppe, nach Libyen zu gelangen, erwartet sie oft eine herbe Enttäuschung. Der Weg nach Italien ist versperrt. Denn obwohl Libyen nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat und vom Europäischen Parlament im Juni 2010 und Januar 2011 für Menschenrechtsverstöße scharf kritisiert wurde, kooperieren Gaddafi, die EU und Italien aufs Engste beim »Migrationsmanagement«. So die Wortwahl in einem im Oktober vereinbarten Abkommen der Europäischen Kommission mit Libyen, das Zahlungen von 60 Millionen Euro vorsieht. Karl Kopp von Pro Asyl beklagt gegenüber Radio Dreyeckland, dass die EU durch diese »schäbige Kooperation« ein »Haftregime finanziert, in dem es zu Folter, Misshandlungen und Todesfällen« kommt. Die EU folgt so dem unrühmlichen Beispiel Italiens, das bereits 2008 mit Libyen in einem »Freundschaftsvertrag« die gemeinsame Bekämpfung von Bootsflüchtlingen regelte.4

Die 80-köpfige Flüchtlingsgruppe hatte in Libyen vorerst Glück, denn auf eine mehrwöchige Inhaftierung folgte die Freilassung anstatt einer Abschiebung - was in Libyen regelmäßig auch dann geschieht, wenn den Betroffenen Haft und Folter (wie im Falle Eritrea) drohen.5 So zahlten sie Schleppern 2.000 Dollar pro Kopf, um nun über Ägypten nach Israel geführt zu werden. Dass sie bei der Stadt Rafah, in unmittelbarer Nähe zum Gaza-Streifen, in Geiselhaft kommen würden, konnten sie da noch nicht ahnen.

Die Ermittlung des genauen Standortes der Gefangenen ist der NGO Habeshia zu verdanken, die den Telefonkontakt pflegt, und den Recherchen der EveryoneGroup. Letztere konnte den ägyptischen Behörden Mitte Dezember die Namen einiger Kidnapper und den genauen Standort mitteilen. Daraufhin ließ der ägyptische Außenminister verkünden, es handele sich lediglich um den Versuch, Ägypten zu diskreditieren, es gäbe überhaupt keine Gefangenen. Dabei hatte die ägyptische Regierung dem UNHCR bereits Anfang Dezember volles Engagement in dem Fall zugesichert. Ende Dezember musste dann die entmilitarisierte Zone zwischen Israel und Ägypten als Grund für die Untätigkeit herhalten - schließlich könne man sich nicht leicht bewaffnet den gut ausgerüsteten Kriminellen nähern. Zu vermuten bleibt, dass örtliche Behörden an dem Geschäft mitverdienen, das personelle Überschneidungen mit Betreibern von Tunnels aufweist, durch die der Gaza-Streifen informell beliefert wird.

Aber auch eine Befreiung durch ägyptische Sicherheitskräfte wäre kein ungetrübt glückliches Ende. Ägypten wurde immer wieder von NGOs für Misshandlungen und Abschiebungen von Flüchtlingen kritisiert. Diese Missachtung drückt sich auf krasse Weise in der gängigen Praxis aus, auf Flüchtlinge, die versuchen, über die Landgrenze nach Israel zu gelangen, zu schießen. Seit 2007 wurden hier laut Human Rights Watch mindestens 85 Menschen getötet. Die genaue Zahl dürfte deutlich höher liegen. Glück hat, wer von den Schleppern durch Tunnels nach Gaza gebracht wird und von dort nach Israel gelangt. Viele Schlepper geleiten ihre Kunden nämlich lediglich an eine vermeintlich sichere Stelle der Grenze und geben dort die Order, zu rennen. 

 

Ohne Ausweg

Für die Flucht durch den Nahen Osten entscheiden sich immer mehr Menschen, da die (See-)Routen von Afrika nach Europa kaum noch passierbar sind. Von Israel aus versuchen viele der monatlich etwa tausend ankommenden Flüchtlinge, über die Türkei und Griechenland nach Europa zu gelangen. Israel reagiert derzeit auf den wachsenden Flüchtlingsstrom mit einer Verstärkung der Grenze (wie auch Griechenland) und dem Bau eines Auffanglagers. Die PHR-I beklagen zudem die »heißen Rücksendungen«, bei denen das israelische Militär Flüchtlinge ohne Prüfung abschiebt - 2010 ist dies allein laut offiziellen Angaben 136 Mal geschehen. Wem das erspart bleibt, der landet teilweise monatelang bis zur Registrierung als Flüchtling in Haft.

Wenn auch für die konkreten Verbrechen die Schlepperbanden verantwortlich sind, gibt es dennoch eine politische Mitverantwortung der EU. Deren Abschottungspolitik, so der Direktor des Italienischen Flüchtlingsrates Christopher Hein, mache es Flüchtlingen unmöglich, legal über Land in die EU zu gelangen. Deshalb können kriminelle Banden auf immer verwerflichere Art ein Geschäft aus dem Leid der Menschen machen. Vor dieser Mitverantwortung drückt sich die EU seit Jahren. Im hier geschilderten Fall verabschiedete das Europäische Parlament immerhin eine Resolution, klammerte die eigene Rolle jedoch aus. Stattdessen gab es Lob für Ägypten und abstrakte Überlegungen zur Bedrohung der Sicherheit durch Flüchtlinge. Auch die deutschen Medien begegnen dem Flüchtlingsdrama vor allem mit Desinteresse. Die einzige Geschichte von der Sinai-Halbinsel, die größeren Nachrichtenwert hatte, war eine Hai-Attacke auf eine deutsche Touristin.

Unbemerkt blieb damit auch das weitere Schicksal der Entführten: Ende Dezember und Anfang Januar wurden einige von ihnen nach Lösegeldzahlungen freigelassen und gelangten nach Israel. Ein Eritreer und eine Eritreerin wurden laut Everyone, vermutlich direkt nach der Freilassung, von ägyptischen Grenzposten erschossen. Weitere Flüchtlinge werden noch immer unter furchtbaren Bedingungen in Containern festgehalten und gequält. Da auch weiterhin Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa die Sinai-Halbinsel passieren müssen, ist zu befürchten (und Berichte vom Januar bestätigen das), dass frei werdende Plätze von den Kidnappern mit neuen Opfern besetzt werden.

 

Anmerkungen

 

1             Physicians for Human Rights-Israel (2010): Hostages, Torture, and Rape in the Sinai Desert: A

PHR-Israel update about recently arriving asylum seekers (www.phr.org.il).

 

2             Jeffay, Nathan (2010): Eritrean Tells of His Cruel Odyssey to Israel (www.forward.com).

 

3             Human Rights Watch (2009): Service for Life. State Repression and Indefinite Conscription in Eritrea (www.hrw.org).

 

4             HRW (2009): Pushed Back, Pushed Around: Italy's Forced Return of Boat Migrants and Asylum Seekers.

 

5             Auch die BRD schob 2008 zwei Eritreer ab. Vgl. Connection e.V., u.a. (2010): Eritrea - Desertation, Flucht & Asyl.