Wer ist da eigentlich nostalgisch?

in (16.09.2010)

Warum wirken die StudentInnenproteste sozialnostalgisch? Der Widerstand gegen die Unterwerfung des Bildungswesens und der allgemeinen Wissensproduktion unter die Interessen der Wirtschaft und des Marktes erweckt oft den Eindruck, und zwar nicht nur bei ihren GegnerInnen, als würden sich die Protestierenden nach dem alten Wohlfahrtsstaat sehnen; als wäre ihr Ideal, in den warmen und sicheren Schoß der solidarischen Gesellschaft zurückzukehren, statt sich dem gnadenlosen Kampf ums Überleben zu stellen, der in der heutigen Welt des globalen Wettbewerbs und der schon ausgeschöpften Naturressourcen immer heftiger tobt. Was ist eigentlich der wahre politische Charakter dieser Jugendrevolte? Sind die Studierenden mutige BotInnen einer erst zu erkämpfenden besseren Zukunft oder eher die BremserInnen der Geschichte, die ihr Rad zurückdrehen wollen, um die alten Privilegien zu behalten, darunter vor allem jenes, wie es einst Karl Popper nannte, „unverdiente Privileg zu studieren“? Sind sie progressiv oder konservativ, oder besser, um was für einen Widerspruch handelt es sich hier eigentlich?

Schade, dass man heute nicht mehr dialektisch denken darf. Die Gefahr, schon beim Nennen des Dialektikbegriffs ausgelacht zu werden, ist einfach zu groß. Freilich, das heißt noch nicht, dass in der Realität keinerlei Widersprüche wahrgenommen werden. Wie der oben genannte Fall zeigt, werden sie gerne aufgespürt und zur Schau gestellt. Doch man mag sie nicht richtig aufeinanderprallen lassen. Konflikte sind heutzutage da, um vermieden zu werden. So lässt man Widersprüche lieber friedlich nebeneinander verweilen.

Ein schönes Beispiel dafür bietet der Begriff der Wissensgesellschaft, der in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerte Karriere gemacht hat und zwar nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in der Politik. Der Begriff besagt also nicht nur das, was wir von der Welt wissen, sondern wie wir in dieser Welt leben bzw. leben sollten. Und was noch wichtiger ist, er deutet genau auf das, um was es sich in den heutigen StudentInnenprotesten handelt. Zuerst präsentiert sich uns die Wissensgesellschaft von ihrer positiven Seite als ein historisches novum bzw. als eine weitere Stufe der progressiven Entwicklung moderner Gesellschaften und der ganzen Menschheit. So tauchte der Begriff – zwar in einer anderen Form: „knowledgeable society“ – in der 1960ern auf als Ausdruck des großen Optimismus dieser Zeit auf, welche glaubte, die Gesellschaft im wissenschaftlichen Denken begründen zu können. Der damalige Progress von Wissenschaft und Technologie wurde zum Vorbild einer allgemeinen Rationalisierung des gesellschaftlichen Leben und politischen Handelns. Dass diese Entwicklung auch eine negative Seite haben könnte, wurde sofort klar. One-Dimensional Man von Herbert Marcuse aus dem Jahre 19641 legte all die Gefahren der positivistischen Utopie bloß. Statt Gesellschaft neu zu gründen, wurde dem Wissen die Potenz bescheinigt, sie in den Abgrund stürzen zu können. Nochmals: Wo die einen eine neue Chance erblickten, sahen die anderen eine Drohung. Auch das, was man heute Wissensgesellschaft nennt, erscheint zuerst als Ergebnis eines objektiv neutralen Transformationsprozesses. Alle Sphären der modernen Gesellschaft, die ihr Selbstverständnis bis vor kurzem um die Begriffe des Eigentums und der Arbeit konstruiert hatten, seien allmählich vom Wissen penetriert worden. Nicht nur seien die wissensorientierten Berufe ins Zentrum der Arbeitskraft gerückt worden. Das Wissen bzw. die Wissensproduktion wurden unmittelbar zur produktiven Kraft selbst. Doch wie so oft, was uns als neutral und objektiv verkauft wird, erweist sich beim näheren Blick als höchst widersprüchlich. Sogar der Theoretiker der Wissensgesellschaft schlechthin, Nico Stehr, schreibt dem Wissen eine Art gesellschaftsauflösende Wirkung zu. Wissensgesellschaften sind für ihn zerbrechlich, „weil es in ihnen zu einem bemerkenswerten Herrschaftsverlust der großen gesellschaftlichen Institutionen, die den Verlauf des 20. Jahrhunderts noch ganz entscheidend mitgeprägt haben, kommt.“2 Darunter versteht er die Institutionen des Staates, der Wissenschaft, der Kirche, des Parlaments, der Justiz oder der Wirtschaft, also jenes institutionelle Gerüst, dem das feine Gewebe des gesellschaftlichen Lebens bislang anhaftete. Dieses Gerüst bröckelt jetzt und das Gewebe löst sich ab. Gesellschaft verliert ihre klaren Konturen und ihre Stabilität. Geht sie unter? Keinesfalls. Auch hier ist Optimismus Pflicht, um nochmals an Popper zu erinnern. Für Stehr hat dieser Prozess einen durchaus positiven Charakter – personifiziert im Machtgewinn der Individuen, der kleinen Kollektive und sozialen Bewegungen. Ihr gesellschaftlicher Einfluss und ihre Handlungs- und Widerstandsmöglichkeiten seien ebenfalls angewachsen. Stehr versteht dies als einen weiteren Schritt in der Befreiung der Menschen. Ihr Wille und nicht der des Staates oder der gesellschaftlichen Autoritäten könne sich jetzt besser durchsetzen. Dies sei der wachsenden Bedeutung und Verbreitung des Wissens zu verdanken.

Wozu dann die Proteste, wenn wir ohnehin voranschreiten? Es ist doch das Wissen selbst, das weiß, wohin es uns führt. Zur Freiheit, wohin denn sonst. Oder will man den Fortschritt stoppen und sogar rückgängig machen? Aus Nostalgie zur alten Gesellschaft des Unwissens, die an den Autoritäten der großen gesellschaftlichen Institutionen hing und die soziale Sicherheit der Freiheit vorgezogen hatte? Nicht zufällig findet die politische Revolte der StudentInnen am vermeintlichen Fundament der Wissensgesellschaft statt, im Herzen der heutigen Wissensreproduktion. Was sie zum Ausdruck bringt, ist das Unwissen im Wissen selbst, oder besser, das Nicht-Wissen-Wollen des Wissens von seiner eigenen politischen Wahrheit. Dort, wo sich das Wissen in einem quasi objektiven historischen Prozess zum Konstitutionsprinzip des ganzen gesellschaftlichen Lebens hypostasiert, legen die Studierenden nichts als den Hegemonieanspruch eines partikularen Interesses bloß; dort, wo das Wissen sich als Grund einer neuen Gesellschaft zelebriert, zeigen sie uns die traurige Trümmerlandschaft des Sozialen. Letztendlich ist auch das Subjekt der Revolte selbst ein Produkt sozialer Destruktion. Doch es subjektiviert sich nicht aus dem nostalgischen Rückblick auf das Verlorengegangene, sondern aus dem Blick in den sozialen Abgrund, den die neoliberale Revolution aufgerissen hat und jetzt verzweifelt versucht, mit Wissen zu überbrücken – einem Wissen, das im Unwissen von den eigenen politischen Voraussetzungen, d.h. von der unaufhebbaren Kontingenz des Politischen, zum bloß Gewussten regrediert und die Zukunft nur noch aus der Retrospektive zu schildern vermag. Die Wissensgesellschaft selbst ist nostalgisch strukturiert und nicht der Wille jener, die sich ihr widersetzen.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Herbst 2010, „umfunktionieren lernen“.

 

1 Der vielsagende Untertietel zu Deutsch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.

2 Siehe Nico Stehr: Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000, S. 12.