Der Körper hat eine Geschichte, und damit auch seine Geschlechter.
Die Vorstellung einer biologisch-natürlichen Differenz zwischen „Mann“
und „Frau“ ist erstaunlich jung. Veronika Duma und Tobias Boos gehen in ihrem Artikel einen Schritt zurück, wagen sich in die Untiefen
der Botanik, der Körperflüssigkeiten und Anatomielehrbücher um
schließlich der Frage nachzugehen, wie Geschlechterdifferenz mit der
Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften zusammen
hängt.
Die Kontroversen um die 800-Meter Läuferin Caster Semenya bei der
diesjährigen Leichtathletik-WM zeigen vor allem eines: So sicher
scheinen sich die so genannten „Geschlechterexperten“ mit der
Einteilung in zwei Geschlechter dann doch nicht zu sein.1
Statt aber die Geschehnisse zum Anlass zu nehmen um danach zu fragen,
ob die Vorstellung einer biologischen Bipolarität der Geschlechter ein
adäquates Modell darstellt, werden diejenigen pathologisiert, die in
keine der beiden Kategorien so recht passen wollen. Eine
Vorgehensweise, die – wie zahlreiche Studien aus dem Feld der
Körpergeschichte belegen – keineswegs neu ist.
Insbesonders historische, soziologische oder auch anthropologische
Arbeiten veranschaulichen, was gemeint ist, wenn von der „sozialen
Konstruktion der Geschlechter“ in einem umfassenden Sinne die Rede ist
und leisten so einen wichtigen Beitrag zu einer grundlegenden Kritik an
den vorherrschenden Geschlechterverhältnissen. Es geht dabei nicht
darum, jegliche Körperlichkeit zu negieren, sondern die Historizität
des (Geschlechts-)Körpers hervorzuheben. Was nämlich spätestens seit
den frühen 1980er Jahren2
in den genannten Disziplinen heiß debattiert wurde, ist heute längst
anerkannt: der menschliche Körper hat selbst eine Geschichte. Er wurde
in unterschiedlichen Epochen und an unterschiedlichen Orten nicht nur
anders wahrgenommen, interpretiert und repräsentiert, sondern auch
unterschiedlich erlitten, erfahren und gelebt.3
Dies gilt auch für die Geschlechtlichkeit des Körpers. Die heute
vorherrschende Vorstellung einer a-historischen, biologisch-natürlichen
und fundamentalen Geschlechterdifferenz, die medizinisch eindeutig
bestimmt werden kann, ist verhältnismäßig jung. Noch viel jünger
allerdings ist die Kritik an diesem Modell. In den 1960/70er Jahren war
in der feministischen Theorie die Trennung zwischen sex – dem
biologischen Geschlecht – und gender – dem sozial konstruierten
Geschlecht – gebräuchlich. Diese Kategorisierung sollte dem Diskurs
über die „natürliche“ Bestimmtheit der Geschlechter entgegenwirken, dem
zufolge sich Geschlechterrollen aus der unterschiedlichen körperlichen
Beschaffenheit von Mann und Frau ableiten ließen. Die Trennung von sex und gender eröffnete
so zwar die Möglichkeit einer Kritik an geschlechterspezifischen
Zuschreibungen und Verhaltenserwartungen, doch blieb das grundlegende
Argument einer biologischen Zweigeschlechtlichkeit unangetastet, und
die Möglichkeit einer radikalen Kritik an den Geschlechterverhältnissen
daher verstellt.4
Viele ausführliche Debatten später scheint dieses Problem zumindest im
akademischen Feminismus nicht mehr gegeben. Gesellschaftlich ist jedoch
die Vorstellung einer fundamentalen biologischen Differenz der
Geschlechter nach wie vor vorherrschend. Wie in mehreren historischen
Forschungen5
– trotz unterschiedlicher Herangehensweisen – übereinstimmend
aufgezeigt wird, ist dieses Bild Ergebnis jener Veränderungen und
Verdrängungen früherer Vorstellungen des geschlechtlichen Leibes, die
im 18. Jahrhundert im Zuge der Durchsetzung bürgerlich-kapitalistischer
Vergesellschaftung stattfanden.6
Geschichtlichkeit des Geschlechtskörpers? Das „Ein-Geschlecht-Modell“
In dem weiten Feld der Körpergeschichte erlangten die Untersuchungen
des Historikers Thomas Laqueur, der die historischen Veränderungen
hinsichtlich des Geschlechtskörpers mit der These des Übergangs vom
„Ein-Geschlecht-Modell“ zum „Zwei-Geschlechter-Modell“ fasste,
besondere Bekanntheit. Anhand von Handbüchern zur Geburtshilfe,
medizinisch-philosophischer Literatur, anatomischen Schriften und
Zeichnungen zeigt Laqueur, dass „das Modell vom Einen Geschlecht“ im
Denken über sexuelle bzw. körperliche Unterschiede von der Antike bis
zum Ende des 17. Jahrhunderts vorherrschend war.7
Die hier postulierte Kontinuität betrifft nicht die Geschlechterrollen
bzw. -verhältnisse, die sich natürlich über die Jahrhunderte hindurch
veränderten, sondern die Vorstellungen vom geschlechtlichen Körper –
also von dem, was der sex-gender-Konzeption zufolge der Kategorie sex
entspräche. Frauen und Männer wurden schon vor der bürgerlichen Moderne
unterschieden. Dieser Unterschied wurde auch an körperlichen Merkmalen
festgemacht, doch stellte das, was heute als biologisches Geschlecht
verhandelt wird, eine soziale Kategorie und keine Wesensbestimmung dar.
Ein Mann oder eine Frau zu sein bedeutete vielmehr, einen sozialen Rang
innezuhaben, AngehörigeR eines bestimmten Standes zu sein und somit
eine bestimmte kulturelle Rolle wahrzunehmen, und nicht, wie für das
„Zwei-Geschlechter-Modell“ konstitutiv, anatomisch und biologisch
eindeutig identifizierbare Geschlechtsmerkmale zu besitzen.8
Das „Ein-Geschlecht-Modell“ zeichnete sich dadurch aus, dass
geschlechtsspezifische Differenzen als graduelle Abweichungen und
Abstufungen verhandelt wurden. Die Geschlechtsteile galten
grundsätzlich als gleichförmig beschaffen: Frauen und Männer verfügten
dieser Vorstellung nach über dieselben Genitalien, bloß dass diese
einmal nach innen und einmal nach außen gestülpt waren. Dabei wurde die
Vagina als nach innen gekehrter Penis gesehen, und nicht umgekehrt –
die Norm im Bezug auf die graduellen Unterschiede stellte der männliche
Körper dar. „In dieser Welt stellte man sich die Vagina als inneren
Penis, die Schamlippen als Vorhaut, den Uterus als Hodensack und die
Eierstöcke als Hoden vor“.9
Wie die Geschlechtsorgane wurden auch die Körperflüssigkeiten als
Spielart ein und desselben Stoffes erachtet und erwiesen sich somit als
nicht klar geschlechtspezifisch zuordenbar: Blut, Milch, Fett, Sperma
galten nicht als vollkommen unterschiedliche Substanzen, der Übergang
zwischen ihnen war fließend. Blut konnte sich demnach in Samen, Milch,
Fett und andere Substanzen verwandeln. „Man meinte, die Ejakulation
einer Flüssigkeit werde das durch ein Übermaß einer anderen
unausgeglichene Gleichgewicht wieder herstellen, weil Samenerguß,
Blutung, Stuhlgang und Schwitzen allesamt Formen der Entlastung seien,
die dazu dienen, das Freihandelssystem der Flüssigkeiten auf dem
richtigen Niveau zu halten“.10
Verdauung und Reproduktion, Nahrung, Blut und Samen seien Teil eines
umfassenden, von Hitze in Betrieb gehaltenen Flüssigkeitssystems, wobei
Frauen von dieser den Körper im Gange haltenden Hitze grundsätzlich
weniger besitzen sollten als Männer. Auch die Menstruation war in
diesem Modell nicht unbedingt geschlechtsspezifisch. So wurde eine Art
Ersatzmenstruation bei Männern angenommen, z.B. in Form von Nasenbluten
oder Hämorrhoidalblutungen. Entscheidend war der Flüssigkeitshaushalt
im Körper, der Blutverlust, nicht das Geschlecht des Subjekts oder die
Öffnung, durch die dieser erfolgt.11
Es gehörte zum Allgemeinwissen, dass Frauen beim Orgasmus Samen
ejakulieren – der allerdings weniger vollkommen als der männliche sein
sollte – und es kursierten Geschichten von Männern, die Milch geben. In
der Vorstellungswelt des „Ein-Geschlecht-Modells“ war es durchaus
möglich, dass Frauen zu Männern wurden, wenn sich etwa aufgrund eines
Hitzeschube oder einer zu abrupten Bewegung urplötzlich der innere
Penis nach außen stülpt.12
Durch das Aufkommen der erstmals systematisch betriebenen Anatomie in
der Renaissance wurde das „Ein-Geschlecht-Modell“ nicht etwa verworfen,
sondern bestätigt: anhand des geöffneten Körpers bewiesen die Anatomen
die „Tatsache“, dass die Vagina ein innerer Penis sei. Bezeichnend für
die Epoche, in der die Vorstellung vom „Einen Geschlecht“ dominierend
war, ist außerdem das Fehlen einer präzisen Nomenklatur für die
weiblichen Genitalien. Äquivalente für moderne Begriffe wie Eileiter,
Vulva, Uterus oder Vagina existierten vor der Zeit des
„Zwei-Geschlechter-Modells“ kaum.13
Das „Zwei-Geschlechter-Modell“ und die „Wissenschaft vom Weib“
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ist nun eine grundlegende Umwälzung im
Verständnis des Geschlechtskörpers festzustellen – das bis heute
gültige „Zwei-Geschlechter-Modell“ wird zur dominierenden Vorstellung
im Denken über Geschlecht/er. Der weibliche Körper stellt nicht mehr,
wie im „Ein-Geschlecht-Modell“, eine Variation eines eigentlich
männlichen Grundtypus dar, sondern im Gegenteil: die Auffassung einer
in der Biologie begründeten Unvergleichbarkeit, einer fundamentalen
Differenz der Geschlechter gewann an Dominanz. Die Geschlechtsorgane
wurden zum zentralen Unterscheidungskriterium, die Vagina wurde nicht
mehr als nach innen gestülpter Penis verstanden, sondern als ein diesem
entgegen gesetztes, alleine der Frau zugehöriges Geschlechtsmerkmal.
Zugleich wurden geschlechtsspezifische Unterschiede von nun an am
gesamten Körper ausfindig gemacht, die Geschlechterdifferenz wurde auf
jedes geringste körperliche Detail bezogen. Ein besonders anschauliches
Beispiel dafür bietet die „Entdeckung des weiblichen Skeletts“, welches
zu dieser Zeit immer häufiger anstelle eines einheitlichen
Knochengerüsts in (Anatomie-)Lehrbüchern illustriert wurde.14
Claudia Honegger betont in diesem Zusammenhang die Entstehung einer „weiblichen Sonderanthropologie“15,
die eine wesentliche Rolle in der im 18. Jahrhundert aufkommenden
„Wissenschaft vom Menschen“ bzw. in all jenen Wissenschaften spielte,
die den Menschen ins Zentrum ihres Interesses rückten. Während der Mann
zum Prototyp des Humanoiden generalisiert wurde, wurde die Frau zum
Studienobjekt einer mit philosophischen, psychologischen und
soziologischen Ansprüchen auftretenden medizinischen Teildisziplin
degradiert. Wesentlich bei der „Verwissenschaftlichung der Differenz“
war die Verschränkung von Medizin, bzw. Anatomie und Philosophie, die
Idee einer integrierten Betrachtung von Körper und Seele. „Von diesen
ganzheitlichen Erkenntnisinteressen werden nicht nur der Kranke und der
Irre, der Mohr, der Fremde und der Wilde auf neue Art erfaßt und ins
Zentrum der theoretischen Neugierde gerückt, sondern insbesondere auch
das Weib…“.16
Die vergleichende Anatomie nahm dabei die Rolle der Basiswissenschaft
in der entstehenden „Wissenschaft vom Menschen“, und in diesem Rahmen
auch der „Wissenschaft vom Weib“ ein. Sie lieferte die Grundlage zur
Bestimmung der „menschlichen Natur“.17
Charaktereigenschaften wurden immer mehr in einen direkten Zusammenhang
mit der Physis des menschlichen Körpers gesetzt, allerdings je nach
Geschlecht auf verschiedene Art und Weise: Beim Mann konzentrierte sich
die biologische Geschlechtszuschreibung auf den äußerlich erkennbaren
Penis, bei Frauen hingegen sollte das Geschlecht im Inneren mystisch
verstreut sein und den gesamten Körper durchziehen. Das Interesse an
dem Körperinnerem zeigte sich auch in den öffentlichen
Seziervorführungen und den Organsammlungen, die zu dieser Zeit angelegt
wurden und die vorwiegend aus weiblichen Geschlechtsorganen, oder
Körpern von „Wilden“ bestanden. Ärzte der damaligen Zeit erkoren die
Eierstöcke zu dem Determinationsmerkmal der Frau. Dabei
dienten diese nicht einfach als anatomisches Unterscheidungsmerkmal
zwischen den Geschlechtern, sondern Frauen galten vollkommen
„eierstockbestimmt“. 18
Gemütslage, Charaktereigenschaften und Sexualität wurden in direkte
Verbindung mit dem weiblichen Geschlechtsorgan gesetzt, was im Falle
von als abnormal deklarierten Verhaltensweisen einer Frau sogar zur
operativen Entfernung der Eierstöcke führen konnte. Entscheidend ist,
dass dieser „Organdeterminismus“ nur bei Frauen angenommen wurde.
Wissenschaftlicher Fortschritt und die neue Autorität der Wissenschaften
Jeder Versuch, diese Veränderungen, also das Aufkommen des „Modells der
Zwei Geschlechter“, alleine mit einem Verweis auf wissenschaftlichen
Fortschritt erklären zu wollen, greift zu kurz. Wie Laqueur anhand von
mehreren Beispielen demonstriert, stellte die Herausbildung der neuen
Perspektive auf die menschliche Anatomie weder empirisch noch
chronologisch eine logischen Folge der anatomischen Entdeckungen ihrer
Zeit dar. Schon in jener Zeit, als das „Ein-Geschlechter-Modell“
dominant war, wurden Entdeckungen über den menschlichen Körper gemacht,
die auch heute – innerhalb des „Zwei-Geschlechter-Modells“ – noch
anerkannt sind. Sie führten aber nicht zur Infragestellung der
Vorstellung vom „einen“ Geschlechtskörper, sondern wurden in dieses
Modell integriert. Umgekehrt gibt es heute wissenschaftliche
Erkenntnisse, die sich im Hinblick auf das „Ein-Geschlecht-Modell“
interpretieren ließen. So verweisen etwa aktuelle Erkenntnisse in der
Entwicklungsanatomie „auf den gemeinsame Ursprung beider Geschlechter
in einem – morphologisch gesehen – androgynen Embryo und also nicht auf
ihre wesentliche Unterschiedlichkeit“.19
Unterschiede und Ähnlichkeiten in Bezug auf körperliche
Beschaffenheiten wurden weder erst gestern entdeckt noch können sie in
ihrer Materialität einfach wegdiskutiert werden. Welchen Merkmalen
jedoch in einer bestimmten historischen Situation besondere Relevanz
zukommt, darüber wird jenseits der Grenzen empirischer Forschung
entschieden. „Die Tatsache, daß der herrschende Diskurs den männlichen
und weiblichen Körper zu einer Zeit als hierarchisch … angeordnete
Version eines einzigen Geschlechts auffaßte und zu einer anderen als
horizontal angeordnete Gegensätze, … muss mit etwas anderem zu tun
haben als
selbst einer großrahmigen Konstellation tatsächlicher oder vermeintlicher Entdeckungen“.20
Die Vorstellung zweier Geschlechter, die sich in ihrer körperlichen
Beschaffenheit unvereinbar gegenüberstehen, prägte und prägt den Blick
der Wissenschaften auf den Körper entscheidend, und umgekehrt
„begründeten“ und fixierten die Wissenschaften diese Vorstellung. Wenn
aber die wissenschaftlichen, speziell die anatomischen Entdeckungen in
dieser Zeit für sich selbst genommen nicht der Grund für eine
fundamental veränderte Vorstellung von Geschlechtlichkeit sind, was
sind dann die entscheidenden Faktoren, die zu dieser Wandlung führten?
In verschiedenen akademischen Arbeiten rund um das Thema werden diese
Veränderungen, trotz z. T. unterschiedlicher Begrifflichkeit21,
zumeist in den Kontext der Etablierung der bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft gestellt. Dabei wird die Umwälzung der Wahrnehmung von
Geschlechtlichkeit – je nach Forschungsschwerpunkt – mit
wissenschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen in
Verbindung gebracht, sowie deren Verstricktheit und Komplexität betont.
So lassen sich etwa durch den Blick auf die neu entstehenden
Wissensgebiete bzw. wissenschaftlichen Disziplinen einige Parallelen
bezüglich bestimmter Grundannahmen ausmachen, die diese nicht nur mit
anderen gesellschaftlichen Bereichen teilten, sondern die auch für die
Betrachtung von Geschlechtlichkeit relevant waren. Der Mensch rückte in
den Blickpunkt der verschiedensten Disziplinen, die Natur geriet als
Erklärungsinstanz für das Soziale in den Fokus. Sie verlieh den sie
erforschenden Wissenschaften eine neuartige Autorität und diente zudem
politischen Argumenten als Basis.22
Erklärungen für die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse
lagen nicht mehr in einer göttlichen Ordnung begründet, sondern waren
scheinbar direkt in der Natur zu finden, deren Ordnungssysteme es
ausfindig zu machen galt.23
Ein illustres Beispiel, wie Vorstellungen von einer gesellschaftlichen
Ordnung sich in die Wissenschaft einschreiben und von dort ausgehend
wiederum legitimierend zurückwirken, ist Linnés Klassifikationssystem
von Pflanzen, welches er im Jahre 1753 erstmalig veröffentlichte. Seine
Einteilung der Pflanzen und ihrer Bestandteile nach deren Geschlecht
ist zutiefst sexualisiert und liest sich wie eine Beschreibung der
vorherrschenden Ideen über Geschlechterrollen und –eigenschaften.24
Auch die Ähnlichkeiten und der Zusammenhang mit der aufkommenden
„Rassenlehre“ und Ethnologie sind unverkennbar: Der Körper rückte,
gemeinsam mit einer neuen Vorstellung vom Verhältnis zwischen Natur und
Kultur, in den Blickpunkt und somit auch diejenigen, die von der sich
allmählich herausbildenden Norm abwichen. Die Behauptung, dass manche
Menschen näher am „Naturzustand“ seien, welcher dem Zustand des
„zivilisierten Menschen“ entgegengestellt wurde, findet sich sowohl im
Bezug auf nicht-weißenEuropäerInnen als auch auf Frauen.25
Die Naturalisierung sozialer Ordnungen spielte jedoch nicht nur in
Bezug auf die Geschlechterhierarchie eine bedeutende Rolle. Ein anderes
Beispiel stellt die ebenfalls zu dieser Zeit an Einfluss gewinnende
Strömung des Liberalismus dar. Die Vorstellungen von einem schon immer
bestehenden Markt mit natürlichen Mechanismen, dem nutzenmaximierenden
Individuum und der unsichtbaren Hand, die ganz von alleine für die
effektivste Allokation sorgt, passt ebenso in jenes Schema, nach dem
Kausalitäten verdreht und gesellschaftliche Verhältnisse mit der Natur
erklärt werden.
Der bürgerliche Körper
Der ideale Körper, der die stets im Hintergrund all dieser Diskurse
stehende Norm darstellte, ist der Körper der sich etablierenden
bürgerlichen Klasse. Als solcher ist dieser auch untrennbar mit der
Selbststilisierung bürgerlicher Männlichkeit verbunden.26
Dieser Körper, sowie der neue Kult um selbigen, seine Kleidung, seine
eingeübten Gestiken, seine Ausdrucksformen, fungierten einerseits als
„Instrument der sozialen Klassifikation“: Er symbolisierte eine
Abgrenzung gegenüber dem „außengesteuerten“ Adel, dem „Schmutz“ der
Bauernschaft wie auch den ProletarierInnen, und diente so zugleich zur
Selbstaffimierung der bürgerlichen Klasse.27
Andererseits wurde mit diesem neuen Körperverständnis der gesund zu
haltende Leib als ökonomischer Faktor erkannt: Als wesentlich gilt die
Disziplinierung der Arbeitskraft und der Erhalt der Arbeitsfähigkeit.
„Dies wird nicht nur als eine neue Aufgabe des Staates verstanden,
sondern auch zur Pflicht des Einzelnen erhoben“.28
Als abweichend von dem Ideal des zur Stärke und Rationalität
geschaffenen bürgerlich-männlichen Körpers erschienen – neben der
weiblichen Physiologie – die Körper anderer „Menschenrassen“, „Irrer“
oder „Monster“, für deren Wesen und Verhalten nach somatischen
Entsprechungen gesucht wurde. Jener Körper und dessen „Natur“, der als
allgemeiner Maßstab mit der Bestimmung des Menschseins an sich
zusammenfiel, war ein männlicher, städtischer, „nicht-deformierter“,
weißer Körper.29
Zahlreiche Beispiele belegen, dass Eigenschaften, die das Idealbild des
bürgerlichen Mannes konstituierten, ins Gegenteil verkehrt all jenen
Menschen zugeschrieben wurden, von dem dieser sich abzusetzen
trachtete. Mit der Herausbildung des bürgerlichen Körpers ging aber
auch die Stilisierung der bürgerlichen Frau einher, die zwar eine
inferiore Rolle innehatte, sich aber sehr wohl von ArbeiterInnen und
BäuerInnen zu unterscheiden suchte. So fungierte etwa gerade die im
Bürgertum entstehende Differenzierung zwischen Männern und Frauen,
Weiblichkeit und Männlichkeit, als Distinktionszeichen gegenüber Frauen
anderer Klassen. Die Klassenzugehörigkeit hat durchaus Einfluss darauf,
wie sehr und auf welche Art und Weise sich Geschlechteridentitäten bei
Frauen und Männern abbilden – und umgekehrt.30
Ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich die in der Gesellschaft real
existierenden Ausschließungen entlang von geschlechtlichen
Klassifizierungen, aber auch entlang von Klassengrenzen und
rassistischen Kategorien in das Bild des „modernen Körpers“
einschreiben, stellt die von Philipp Sarasin durchgeführte Analyse der
für die bürgerliche Klasse so identitätsstiftenden Hygienediskurse im
18. und 19. Jahrhundert dar. Gesundheit und Hygiene – und nicht wie
zuvor allein die Verminderung des Leidens – werden zur Prämisse
staatlicher wie individueller Körperpolitik.31
Anleitungen zu psychischem Verhalten, Mäßigung der Passionen,
Sexualität und zur richtigen Bewegung, sowie Fragen danach, was man
isst, wie man schläft oder ruht, wie man sich reinigt und kleidet,
füllten Unmengen an Ratgeberliteratur, die von Bürgern – hauptsächlich
Ärzten – für das Bürgertum verfasst wurde. Der Hygienediskurs bezog
sich auf den Körper vom „gewöhnlichen Kulturmenschen […], der nicht so
hoch geboren ist, dass wir ihn zu den Göttern zählen, und nicht so
tief, dass wir ihn beim verkommensten Proletariat suchen müssen, wo
Politik, Moral und Diätetik aufhören“.32
Innerhalb des Feldes des bürgerlichen Körpers wurde die
Geschlechterdifferenz zu der wesentlichen Differenz stilisiert, während
dem proletarischen Körper, den Körpern andere „Rassen“ sowie
„Monstergeburten“ und Ähnlichem die Rolle des großen Fremden zukam.
ArbeiterInnen galten als „Lumpensammler, die nie baden“ und von einer
dicken Schicht an Rauch und Schweiß überzogen, Arme stanken und vom
Körpergeruch „fremder Rassen“ wurde angenommen, dass er, unabhängig von
ihren hygienischen Gepflogenheiten, an ihnen kleben bleibt.33
Diese und ähnliche heraufbeschworene Zuschreibungen standen im Zentrum
des Hygienediskurses und waren für diesen konstitutiv. Ein weiterer
Hinweis darauf, dass der männliche bürgerliche Körper als Norm
vorausgesetzt wurde, zeigt sich in der Tatsache, dass nicht nur
Hygieniker sich für „Rassen“ und Geschlechter interessierten. Auch
Anatomen und Anthropologen (die im Übrigen, wie die Hygieniker auch,
weiße, bürgerliche Männern waren) richteten ihr Augenmerk auf
rassistische und sexistische Klassifikationsversuche, und gerieten
dabei in ein bezeichnendes Dilemma: wie nämlich schwarze Männer – als
dominierendes Geschlecht einer „minderwertigen Rasse“ – im Verhältnis
zu weißen Frauen – inferiores Geschlecht der „dominanten Rasse“ – in
der Ordnung der Natur einzustufen seien.34
Naturalisierung als Legitimation der Ungleichheit
Körperliche Bestimmungen, die immer untrennbar mit entsprechenden
„natürlichen“ Wesensbestimmungen verbunden waren, erwiesen sich als
äußerst zweckdienlich, wenn es darum ging, einerseits die
gesellschaftlichen Verhältnisse zu legitimieren und zu naturalisieren,
und andererseits Argumente gegen Emanzipationsforderungen zu
formulieren. Die Versprechen der Aufklärung sowie die Erklärung der
Menschen- und Bürgerrechte, die gegen Standesprivilegien und die
feudale Ordnung ins Feld geführt wurden, brachten nicht nur neue
Möglichkeiten, sondern auch eine neuartige „Begründungslast“ mit sich.35 Sie galten nämlich, entgegen der Behauptung, dass alle
Menschen die gleichen Fähigkeiten und damit Anspruch auf die gleichen
Rechte haben, nur für einen bestimmten Teil der Bevölkerung. Realiter
standen das sich etablierende Modell der geschlechtsspezifischen
Arbeitsteilung, der Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Bereich
(z.B. von öffentlichen Ämtern, Universität, (politischen) Vereinen
uvm.), aber selbstverständlich zugleich auch Herrschafts- und
Unterdrückungsverhältnisse entlang von Klasse und rassistischen
Einteilungen, im Widerspruch zu diesen Erklärungen. Wenn
universalistische Forderungen nach menschlicher Freiheit und Gleichheit
nicht ad absurdum geführt und Ungleichheiten vor dem Hintergrund
aufgeklärten Denkens gerechtfertigt werden sollten, musste die radikale
(biologische) Verschiedenheit eines Teils der Menschheit nachgewiesen
werden.
Mit Verweis auf ihre Biologie wurden Frauen gerade jene Fähigkeiten und
Eigenschaften – nämlich vernunftbegabte, zu autonomen Handeln fähige
Geschöpfe zu sein36
– abgesprochen, die den Menschen im Sinne der Menschen- und
Bürgerrechte als Menschen kennzeichnen und somit auch das Recht,
vollwertige Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Nur um
ein Beispiel zu nennen: der französische Nationalkonvent zitierte
regelmäßig aus Anatomielehrbüchern, um die Vorenthaltung von
Bürgerrechten für Frauen zu rechtfertigen.37 Die Natur und nicht die Menschen soll die Ungleichheit geschaffen haben.
Pathologisierung moralischer Abweichung
Die Position, die Frauen in der neuen sozialen Ordnung nach den
geistigen, ökonomischen und politischen Revolutionen des 17. und 18.
Jahrhunderts – innerhalb einer nach wie vor patriarchalen Gesellschaft
– einnehmen sollten, war jedoch keines Falls von Anfang an klar. Die
(Geschlechter-)Rolle der Frau in dem hier beschriebenen
„Zwei-Geschlechter-Modell“ bildete sich erst allmählich im Zuge
etlicher Konfrontationen heraus.38
Die physiologische Basis für die Ungleichheit von Frauen wurde nicht
zuletzt gerade zu jener Zeit „entdeckt“, als Frauenbewegungen die
Versprechen der Aufklärung und des Staatsbürgertums auch für sich
einforderten.
Die Forderungen der „modernen Frau“ des Bildungsbürgertums nach
Bildung, Beruf, politischen und ehelichen Rechten – die von Seiten
sozialistischer FrauenrechtlerInnen immer mit der Frage nach der
Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise verbunden wurden39
– riefen eine wachsende Anzahl von Medizinern, Politikern, Lehrern,
Pfarrern, (Rassen-)Hygienikern, völkisch-nationalistischen
Interessensverbänden und ähnlichen Gestalten auf den Plan, die ihre
Ansichten über das weibliche Geschlecht zum Besten gaben. Das taten
diese Herren – wie im Übrigen die zuvor erwähnten Philosophen, Ärzte
und Möchtegern-Ärzte auch – in der noch relativ jungen bürgerlichen
Öffentlichkeit, die einen konstitutiven Teil des sich herausbildenden
bürgerlich-kapitalistischen Nationalstaates darstellte. In diesen
Diskursen um die weibliche Natur standen nicht so sehr der
sozialistische, sondern eher der bürgerliche Flügel der Frauenbewegung
im Mittelpunkt der Kritik, die oftmals ideologisch mit Antismemitismus,
Nationalismus und Antisozialismus einherging.40
Die Polemiken gegen die – in diesem Fall also bürgerliche –
Frauenbewegung zielten auf die sexuelle Diffamierung der
ProtagonistInnen und stützten sich auf die Behauptung, dass das
weibliche Geschlecht biologisch minderwertig und somit nicht dafür
geschaffen sei, außerhäusliche Aufgaben zu übernehmen. Politische
Tätigkeit von Frauen, im schlimmsten Fall in emanzipatorischer Absicht,
wurde als vermeintliche Verfehlung des weiblichen Lebenszwecks
verhandelt: Frauen, die in der Hausarbeit und Kindererziehung nicht
ihre Bestimmung sahen, wurden für „seelisch krank“ erklärt. So war z.B.
in Tageszeitungen zu lesen, die Frauenbewegung sei „die tosende
Revolution derer, die nicht Frau sein können und nicht Mutter sein
wollen“ und bestehe aus einem Haufen „alter Mädchen“, Witwen und
„sterilen Frauen“.41
Die von den „Ultrademokraten“ (sic!),und „weiblichen Amazoninnen“
(sic!) geforderte Gleichstellung brächte unweigerlich den Umsturz der
Gesellschaftsordnung mit sich und sei daher absolut abzulehnen.42
An der sexuellen Pathologisierung der Frauenbewegung wurde nicht
zuletzt in medizinischen Zeitungen „gearbeitet“: FrauenrechtlerInnen
wurden für homosexuell erklärt und die lesbische Liebe zugleich als
eine in der Frauenbewegung grassierende „geistige Seuche“
diskreditiert. Gesellschaftliche Devianz, also das Verlassen des
gesellschaftlichen Normbereichs, wurde mit Pathologisierung
sanktioniert. Der wachsende Konsens im Diskurs der bürgerlichen
Öffentlichkeit, Abweichung als Krankheit und nicht (nur) als
moralischen Fehltritt zu verstehen, verwies zugleich eine besondere
Zuständigkeit für diese Fragen an die Mediziner. Sie waren die Experten
wenn es darum ging, Verbindungen zwischen Verhalten, Seele und Körper
wissenschaftlich zu belegen. Von selbigen wurde zugleich die jeweils
entsprechende, normalisierende Behandlung angeboten.43
Die Anormalisierung betraf nicht nur FrauenrechtlerInnen, sondern
alles, was nicht ins Wissenssystem des „Zwei-Geschlecht-Modells“
passte. Pathologisierungen von Transund Intersexuellen bis zur so
benannten Sterilität bildeten und bilden zum Teil immer noch die
Flanken der strengen Geschlechterunterscheidung.
Eine Arbeitsteilung, wie sie die Natur verlangt?
Vor allem aber wurden Frauenbewegungen und ihre AnhängerInnen als eine
Bedrohung für den als Organismus gedachten Staat gesehen, als Bedrohung
für die Familie, den angeblichen Kern dieser gesellschaftlichen
Ordnung. Die Familie sei die „Pflanzschule“ der bürgerlichen
Gesellschaft, ihre Zerstörung durch die Aufhebung der „natürlichen“
geschlechtlichen Arbeitsteilung würde unweigerlich zum Verfall des
„freien, würdigen Staatswesens“ führen.44
In diesem Zusammenhang erweist sich der Diskurs über die sozialen
Rollen sowie über die psychische und physische Beschaffenheit der zwei
Geschlechter als ideologische Abstützung der sich herausbildenden Form
geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, in der (bürgerlichen) Frauen
die Hausarbeit zugewiesen wurde, bzw. diese gar darauf reduziert
wurden. Ohne die die realen Geschlechterverhältnisse eins zu eins
wieder zu spiegeln, entstehen Aussagen über „das Wesen der
Geschlechter“ doch immer im Erfahrungszusammenhang der sozioökonomisch
realen gesellschaftlichen Verhältnisse sowie der
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.45
Zwar gab es patriarchale Herrschaftsverhältnisse schon vor der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung, doch erhielten diese
nun eine neue Qualität. Faktoren wie der Veränderung von
Arbeitsverhältnissen und damit einhergehend von Familienstrukturen und
der (räumlichen und qualitativen) Trennung von Lohn- und Hausarbeit
kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu – wobei damit natürlich noch
lange nicht geklärt ist, wieso ausgerechnet die Frau jenen speziellen
Part in der Arbeitsteilung übernehmen sollte. Im Vergleich zu früher
wurde nun einzig die Frau und nicht mehr der Mann (Haushaltsvorstand)
durch die Familie definiert.46
Die vermeintliche psychische und physische Konstitution der Frau wurde
passend zu ihrem „Fortpflanzungs“- bzw. „Gattungszweck“ und der dazu
als optimal erachteten patriarchalischen monogamen Ehe bestimmt. Den
als Kontrastprogramm konzipierten Eigenschaften zufolge sei der Mann
von Natur aus kräftig, aktiv, rational usw., und somit für den
öffentlichen Raum, die Frau hingegen ihrem Wesen nach abhängig,
emotional, passiv usw., und von Natur her für den häuslichen Bereich
bestimmt.
Es stellt sich jedoch die Frage, in welchen gesellschaftlichen Klassen
und Schichten diese Art der Arbeitsteilung zusammen mit der
dazugehörigen Dichotomisierung der Geschlechtercharaktere überhaupt
anzutreffen war. Weder in bäuerlichen Familien, deren Lebens- und
Wirtschaftsverhältnisse im 18. Jahrhundert nicht mit denen einer
bürgerlichen Familie vergleichbar waren, noch im Proletariat
korrespondierte dieses Modell mit der gesellschaftlichen Realität. In
ArbeiterInnenfamilien reichte das Einkommen des Mannes nicht aus, um
den Familienbedarf zu decken, es verstand sich daher von selbst, dass
Frauen und Kinder auch lohnarbeiteten. Von einer ausschließlichen
Zuständigkeit der Frau für die Familie konnte vorerst keine Rede sein.
Mit Phänomenen der gesellschaftlichen Realität korrespondierte dieses
Modell zunächst einzig und alleine dort, wo es auch entstanden ist,
nämlich im gebildeten Bürgertum.47
Staatliche Regulierungen
Die Verallgemeinerung des bürgerliche Körpermodells, der dazu passenden
Geschlechterrollen, des Familienmodells und der spezifischen,
ideologisch untermauerten Arbeitsteilung fand erst nach und nach, im
Laufe des 19. Jahrhunderts statt. Vermehrt wurden Bemühungen sowohl
seitens des bürgerlich-kapitalistischen Nationalstaates als auch
seitens der einen Teil dieses Staates verkörpernden bürgerlichen
Öffentlichkeit angestellt, auch bei Arbeiterinnen den richtigen
„Familiensinn“ zu wecken und auf ihre „Bestimmung als Gattin, Hausfrau
und Mutter“ hinzuweisen – ungeachtet der Tatsache, dass diese bereits
zuvor sehr wohl auch für die Reproduktionsarbeit zuständig waren,
freilich ohne ihren ganzen Arbeitstag Haushalt und Familie widmen zu
können. Die „Stabilisierung der Familienverhältnisse“ galt als ein
sicherer Weg zu Lösung der „sozialen Frage“.48
Mit der Etablierung des Nationalstaates erstreckte sich die Aufwertung
der „Mutterschaftsleistung“ nicht mehr nur auf BürgerInnen, sondern
auch auf den unter Aspekten der Bevölkerungspolitik betrachteten
„Gattungskörper“ der Arbeiterinnen und dessen Reproduktionsleistung. Im
19.Jahrhundert wurde vielfach über die Fabrikarbeit von verheirateten
Frauen debattiert, wobei dieser die Schuld an einer ganzen Reihe von
sozialen Missständen zugeschrieben wurde, von der Verwahrlosung des
Haushalts über Alkoholismus des Ehegatten bis zur Unterminierung des
Nationalstaates.49
Mutterschutzgesetze, Regelungen zur Nachtarbeit für Frauen etc. wurden
nach und nach eingeführt, die Geschlechterordnung also mittels
gesetzlichen Regulierungen von staatlicher Seite (mit-)geformt und
fixiert. Besonders die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Bezug
auf Erwerbs- und Hausarbeit wurde über den Staat organisiert,
durchgesetzt und institutionell abgestützt. Frauen wurden als besonders
schutzbedürftig konstruiert, als Wesen, die im Gegensatz zu männlichen
Arbeitern staatlicher Fürsprache bedürften.50 Interventionen im Hinblick auf Familiengestaltung, Sexualität und Gesundheit wurden zum staatlichen Programm.51
Vor allem im Hinblick auf Staatsformierung und Kriege wurden dem
männlichen Geschlechtscharakter neben Disziplin und Arbeitsfähigkeit
auch Wehrhaftigkeit und soldatische Tugenden zu- und eingeschrieben,
überspitzt und bildhaft formuliert, der Männerleib zum
„Maschinenkörper“ stilisiert. Diesem stand auf weiblicher Seite der
nach Kriterien von Mutterschaft und familiärer Reproduktion betrachtete
„Gattungskörper“ gegenüber. Der weibliche Körper sollte zwar auch
Kraft, Ausdauer und Disziplin zeigen, jedoch ausgerichtet auf seine
„Mutterschaftsleistung“.52
Die auf die Bevölkerung als zu erfassendes und regulierendes Objekt
einerseits sowie die auf Disziplinierung des Individualkörpers
andererseits zielende staatliche Politik, besaß und besitzt auch heute
noch eine geschlechtsspezifische Komponente.
Schluss
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen lässt sich resümieren, dass
„Geschlecht“ in einem umfassenden Sinne – also sowohl im Bezug auf
Geschlechterrollen als auch verstanden als Geschlechtskörper – das
Resultat eines langwierigen, historischen Prozesses ist. Die
Vorstellung eines a-historischen, natürlichen Geschlechtskörpers, sowie
die darauf fußende Annahme einer vermeintlichen, biologisch-anatomisch
eindeutigen Geschlechterdifferenz, erweisen sich selbst als Produkt
gesellschaftlicher Dynamiken, die im 18. Jahrhunderts anzusiedeln sind.
Die Entstehung des Modells der Zweigeschlechtlichkeit muss im Kontext
der Durchsetzung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse gesehen
werden, ohne natürlich den Fehler zu begehen, die Geschlechterordnung
als bloßen „Effekt des Kapitalismus“ darzustellen. Vielmehr ist diese,
in ihrer Eigenständigkeit als gesellschaftliches Macht- und
Herrschaftsverhältnis, inhärent mit der Hegemonialwerdung der
bürgerlichen Klasse verbunden. Die Dominanz des gegenwärtigen
Geschlechterdiskurses kann als Resultat einer sukzessiven
gesellschaftlichen Verallgemeinerung des zunächst bürgerlichen
Geschlechtsdiskurses verstanden werden. Diese These besagt jedoch
weder, dass die Geschlechterordnung „früher“ besser oder schlechter
war, noch, dass die Zweigeschlechtlichkeit konstitutiv für den
Kapitalismus ist und dieser somit ohne ihr nicht bestehen könne.
Vielmehr, und das ist ein wesentlicher Punkt, geht es darum zu zeigen,
dass die Ordnung der Geschlechter, auch in körperlicher Hinsicht,
historisch variabel und damit auch veränderbar ist. Ein Grund mehr,
sich gegen die „Zumutung“ zu positionieren, sich entsprechend dem
„Geschlecht des eigenen Körpers“ 53 verhalten zu müssen.
Anmerkung
1
Nach ihrem Sieg und aufgrund ihrer Größe und muskulösen Körperbaus
kamen Zweifel auf, ob es sich bei der Sportlerin denn wirklich um eine
Frau handle. Die Probleme, die die International Association of
Athletics
Federations (IAAF) mit der Einordnung von AthletInnenen in die
Geschlechterdichotomie hat, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass seit
dem Jahre 2000 zumindest bei den Olympischen Spielen alle
Geschlechtstests wieder abgeschafft sind.
2
Pionierarbeit in Bezug auf Körpergeschichte wurde vor allem in den USA
und in Australien geleistet. Im deutschsprachigem Raum fasste das Thema
erst in den 90er Jahren richtig Fuß (vgl. Lorenz, Maren: Leibhaftige
Vergangenheit. Tübingen 2000, S. 9).
3 Vgl. Gallagher, Catherine (Hg): The Making of Modern Body. 1987, S.VII
4
Hof, Renate: Einleitung: Geschlechterverhältnis und
Geschlechterforschung. In: Bußmann/Hof. Genus. Geschlechterforschung.
Stuttgart 2005, S.16
5 Z.B. von Claudia Honegger, Barbara Duden, Karin Hausen, Ute Frevert, uvm.
6
Die Fallbeispiele in den Forschungsarbeiten beziehen sich auf Gebiete
des heutigen Europas. Wie weit die Ergebnisse auch für andere Teile der
Welt gültig sind, kann im Rahmen dieses Artikels nicht beantwortet
werden.
7 Vgl. Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Frankfurt/Main 1992, S. 36
8
Kleidungs- und Verhaltenswechsel konnten folglich zu massiver
Verwirrung führen – es sei hier z.B. an die unglaublichen Konfusionen
erinnert, die in den Stücken Shakespears durch Geschlechtsrollentausch
erzeugt werden können (vgl. Maihofer, Andrea: Geschlecht als
Existenzweise. Frankfurt/Main 1995, S. 30 und auch Laqueur a.a.O., S.
21)
9 Laqueur, a.a.O., S. 17
10 Laqueur, a.a.O., S. 50
11 Laqueur, a.a.O., S. 52
12
Laqueur, a.a.O., S. 158. Die Historikerin Barbara Duden hat sich in
ihren empirischen Studien anhand von Krankenberichten und ärztlichen
Protokollen aus dem frühen 18. Jahrhundert der Frage nach dem Körper
verständnis von Frauen gewidmet. Es zeigt sich, dass die Art und Weise,
wie die eigenen Körper wahrgenommen wurden, der These des
„Ein-Geschlecht-Modells“ durchaus entspricht (vgl. Duden, Barbara:
Geschichte unter der Haut. 1987).
13 Laqueur, a.a.O., S. 114
14
vgl. Schiebinger, Londa: Skeletons in the Closet: The First
Illustration of the Female Skeleton in Eighteenth-Century Anatomy. In:
Gallagher, Catherine (Hg): The Making of Modern Body. 1987, S. 42–82.
Der Medizinhistoriker Michael Strolberg argumentiert dagegen, dass es
bereits im 16. Jahrhundert zweigeschlechtliche Unterscheidungen von
Skeletten gegeben habe (vgl. Strolberg, Michael: A woman down to her
bones. in: Isis, Vol. 94, No.2. (Jun., 2003) S. 274-299
15 Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Wissenschaft vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfut 1991. S. 168f
16 Honegger, a.a.O., S. 8
17 Honegger a.a.O., 191, 42; vgl.179f.
18 Laqueur a.a.O., 172, 200ff.
19 Laqueur, a.a.O., S. 23
20 Laqueur, a.a.O., S. 23
21
Bei allen Parallelen – wie bereits erwähnt besteht weitgehend Einigkeit
was die zeitliche Einordnung der Umwälzungen betrifft – gibt es doch
auch Unterschiede in der analytischen Beschreibung der
gesellschaftlichen Verhältnisse. So wird nicht immer die Durchsetzung
kapitalistischer Verhältnisse in den Mittelpunkt gerückt, sondern unter
anderem vom Übergang von der „traditionellen” zur “modernen
Gesellschaft“ bzw. zur „Industriegesellschaft“ gesprochen.
22 Vergleiche hierzu: “Engels, Ian (2009). Marx, Engels…und Darwin? In: Perspektiven nr. 9.
23 Vgl. Honegger, a.a.O., S. 135, 191
24
vgl. Schiebinger, Londa: Das private Leben der Pflanzen.
Geschlechterpolitik bei Carl von Linné und Erasmus Darwin; in: Hagner,
Michael (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt 2001,
S. 107-133
25
Sömmering hatte 1785 bereits „Ueber die körperliche Verschiedenheit des
Negers vom Europäer“ veröffentlicht. Nicht nur der Titel, sondern auch
die vergleichende Argumentation verweisen auf die ähnliche
Vorgehensweise in der Rassen- und Geschlechterkunde (vgl. Honegger,
a.a.O., S. 111-117, 170ff.).
26 vgl. Maihofer, a.a.O., S. 26, 36
27 vgl. Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. 1987. S. 28
28 Maihofer, a.a.O., S. 37
29 vgl. Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Frankfurt/Main 2001, S. 25, 211
30 Frevert, Ute. in: Eifert, Christiane (Hg.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Frankfurt/Main 1996, 139ff.
31 vgl. Maihofer, a.a.O., S. 37
32 zit. nach Sarasin, a.a.O., S. 207. vgl. auch S. 189
33 vgl. Duden, a.a.O., S. 29
34 vgl. Schiebinger, Londa: Anatomie der Differenz, in: Feministische Studien, 11.Jhg., Mai 1993, Nr. 11. S. 48-64, S. 49, 60
35 vgl. Maihofer, a.a.O., S. 31
36 Ebd., S. 161
37 vgl. Schiebinger a.a.O. 1993, S. 61
38
vgl. vgl. Schiebinger, Londa: Skeletons in the Closet: The First
Illustration of the Female Skeleton in Eighteenth-Century Anatomy. In:
Callagher, a.a.O., S. 67 und Laqueur, a.a.O., S. 220
39
Gerhard, Ute: “Bis an die Wurzeln des Übels”. Rechtsgeschichte und
Rechtskämpfe der Radikalen, in: Feministische Studien, Heft 1, 1984, S.
77-99, S. 81
40
Aus diesem Grund bleibt „proletarischer Antifeminismus“, wie es ihn
etwa seitens der Sozialdemokratie gegeben hat, in dieser Betrachtung
außen vor.Vgl. Planert, Ute: Mannweiber, Uriniden, und sterile
Jungfern. Die Frauenbewegung und ihre Gegner im Kaiserreich, in:
Feministische Studien, Heft 1, 2000, S. 22-36, S. 22
41
vgl. Planert, Ute: Der dreifache Körper des Volkes. Sexualität,
Biopolitik und die Wissenschaft vom Leben, in: Geschichte und
Gesellschaft, 26.Jhg., 2000, S. 539-407, S. 558
42 vgl. Frevert, Ute (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Göttingen 1988, S.13
43
vg. Hirschauer, Strefan: Wie sind Frauen? Wie sind Männer?
Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem, in: Eifert, Christiane: Was
sind Frauen? Was sind Männer? Frankfurt/Main 1996, S. 240-256, S. 245
44 vgl. Frevert a.a.O., S. 12f.
45
Hausen, Karin: Die Polarisierung der “Geschlechtscharaktere” – Eine
Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze,
Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas.
Stuttgard 1976, S. 263-394, S. 363
46 vgl. ebd., S. 375
47 vgl. ebd., S. 376ff., S. 383
48 vgl. ebd.
49 Planert 2000, S.552-555
50
Schmitt, Sabine: Der Arbeiterinnenschutz im deutschen Kaiserreich. Zur
Konstruktion der schutzbedürftigen Arbeiterin. Stuttgart 1995. S.16f.
51
Auch die männliche Sexualität wurde thematisiert, etwa im Bezug auf
Onanie, oder später von Wahnsinnigen und Rassentheoretikern wie etwa
Lanz von Liebenfels, der eine Art Anleitung für Männer zur Erzeugung
schöner Kind verfasste. Allerdings war diese im Vergleich zu der
weiblichen Sexualität eher von zweitrangigem Interesse. (planert 2000:
567ff.)
52 vgl. Planert 2000, S. 547-553
53 vgl. Maihofer a.a.O., S. 95