Uneindeutig weiblich?

Das biologische Geschlecht ist keine einfach messbare biologische Tatsache, sondern es bedarf einer Fülle von Technologien, um es wissenschaftlich dingfest zu machen. Geschlechtstests im Sport waren eines der diesjährigen Sommerloch-Themen. Anlass war das erniedrigende Spekulieren über die Weiblichkeit der Südafrikanerin Caster Semenya, deren Goldmedaille im 800m-Lauf in Frage gestellt wurde. Wochenlang kursierten Gerüchte darüber, welche vielfältigen Expertisen zur Feststellung ihres Geschlechts herangezogen würden - mit der Humangenetik als einer Disziplin unter anderen. Klar wurde: das biologische Geschlecht ist keine einfach messbare biologische Tatsache, sondern es bedarf einer Fülle von Technologien, um es wissenschaftlich dingfest zu machen. Verschieben solche Diskussionen die gesellschaftlichen Vorstellungen eines starren Systems von biologischer und genetischer Zweigeschlechtlichkeit?

Interview mit Heinz-Jürgen Voß

Heinz-Jürgen Voß ist Dipl.-Biologin, promovierte zu historischen und aktuellen biologischen und medizinischen Geschlechtertheorien („Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts ausbiologisch-medizinischer Perspektive” erscheint Januar/Februar 2010 im transcript-Verlag) und ist seit einigen Jahren queer-feministisch politisch aktiv.

Wie hast Du den medialen Hype um den Geschlechtstest an Caster Semenya bei der Berliner Leichtathletikweltmeisterschaft erlebt?

Ich fand die einsetzenden Diskussionen beunruhigend. Ich empfand es als krass und zudem bezeichnend, dass Caster Semenya nur noch als „Fall“ angesprochen wurde. Sie selbst, ihre Gefühle und Gedanken traten zurück, ihr hart erarbeiteter sportlicher Erfolg wurde in Zweifel gezogen. Stattdessen wurde ihr unterstellt, dass sie „betrogen“ habe, dass sie mit „Geschlecht“ betrogen habe. Ausgehend von einer populistischen Diagnose, dass Caster Semenya als Frau keine flache Brust haben dürfe, wurde ein ganzes Sachverständigen-Team auf Caster Semenya angesetzt. Ich finde ein solches Umgehen mit Menschen unmöglich und eine Verletzung von Menschenrechten. Schön ist nur, dass Semenya so herzlich in Südafrika empfangen wurde - dass das Land, in dem sie aufgewachsen ist und für das sie angetreten ist, hinter ihr steht.

Eigentlich ist ja zumindest bei den Olympischen Spielen 1996 die Praxis der Geschlechtstests aufgrund einer langjährigen Debatte und vielfältiger Proteste beendet worden - wie wurde der Test an Caster Semenya legitimiert?

Auf allgemeine Geschlechtstests wurde bei den Olympischen Spielen in Sydney im Jahr 2000 verzichtet, stattdessen sollte „nur“ in Zweifelsfällen das Geschlecht geprüft werden. 2004 konnten auch Transsexuelle bei den Olympischen Spielen in Athen antreten. Die International Association of Athletic Federations (IAAF), der weltweite Dachverband der Leichtathletik-Verbände, hat im Jahr 2006 Regelungen erlassen, wie in „Zweifelsfällen“ „des Geschlechts“ - bei „uneindeutigem Geschlecht“ - vorzugehen ist. Aber: Die Besprechung als „Zweifelsfall“ diskriminiert schon - jeder Mensch muss selbst entscheiden können, wie er sich geschlechtlich verorten möchte.


Hältst Du diese Regelungen im Sport dennoch gegenüber den vorherigen für einen positiven Trend?

Ich denke nicht, dass diese Entwicklung als Öffnung oder Liberalisierung verstanden werden kann. Es wird zwar aus solchen Regelungen deutlich, dass „Geschlecht“ durch vermeintliche „ExpertInnen“ gar nicht so leicht zu bestimmen ist, wie es populär erscheinen mag. Dennoch bleibt die Kritik, dass von außen - von vermeintlichen ExpertInnen - Merkmale als geschlechtlich gesetzt werden, die „uneindeutiges Geschlecht“ kennzeichnen sollen. Nicht die AthletInnen und ihre Identität, in der womöglich „Geschlecht“ eine Rolle spielt, steht im Mittelpunkt, sondern die Sicht von vermeintlichen Sachverständigen. Da Untersuchungen auf „Zweifelsfälle“ beschränkt werden, wird sogar noch mehr als vorher zur Denunziation unter den AthletInnen und zur Infragestellung des Geschlechts durch Öffentlichkeit eingeladen. Gleichzeitig wird ein Denken verbreitet, dass Menschen betrügen würden, wenn sie sich nicht klar einordneten und sich nicht untersuchen ließen - das ist bedenklich.

Wie lässt sich der wissenschaftliche Stand zusammenfassen, auf dessen Grundlage heute Sportbehörden Geschlechtstest durchführen lassen?

Die Frage ist etwas vielschichtig, daher einiges notwendig kurz: Die konkreten Regelungen „Policy on Gender Verification“, die die IAAF trifft, sind auf ihrer Homepage www.iaaf.org als pdf-Dokument zu finden. „ExpertInnen“ zahlreicher Disziplinen werden in die Geschlechtsdiagnose einbezogen: HumangenetikerInnen, EndokrinologInnen, GynäkologInnen, InternistInnen, PsychologInnen, „ExpertInnen“ für Gender- und Transgender-Fragen. Insofern wird angedeutet, dass Faktoren, die insbesondere in der Biologie als bedeutsam für Geschlecht erdacht wurden - also Chromosomen, DNA, Gene, Hormone -, zumindest durch weitere Betrachtungen ergänzt werden. Gleichwohl bleiben sie zentral. Es wird nach Faktoren gesucht, die eine eindeutige geschlechtliche Zuweisung gemäß der als relevant betrachteten Faktoren erlauben. Die ExpertInnen suchen insbesondere nach Faktoren, die eine Vermännlichung bewirken sollen. Als solche betrachtet werden das Y-Chromosom, insbesondere das Gen SRY, das oft auf dem Y-Chromosom lokalisiert wird, weitere Gene wie SOX9, die Konzentration an Androgenen (als „männlich“ eingeordnete Hormone) und ob und in welcher Zahl Androgenrezeptoren nachgewiesen werden können.

Was ist mit Vermännlichung gemeint?

Die Einschränkung der Betrachtung auf „Vermännlichung“ weist noch immer auf ein lange Zeit verbreitetes und noch nicht überwundenes Phänomen in Biologie und Medizin hin: „Männliche Entwicklung“ wurde dort als Fortentwicklung beschrieben, zu der „aktive“ Entwicklungsschritte notwendig seien. Für „weibliche Entwicklung“ brauche es demgegenüber keine „aktiven“ Entwicklungsschritte; sie verlaufe einfach so. Ein solches Denken wurde insbesondere seit den 1980er Jahren auch für die Geschlechtsentwicklung in Zweifel gezogen. Die Vorstellung scheint sich aber noch immer erhalten zu haben, dass beispielsweise Männer im Sport grundsätzlich auf Grund „ihrer Biologie“ leistungsfähiger seien. Es wird noch immer nach biologischen Faktoren gesucht, die vermeintlich gegebene und unabänderliche Differenzen bedingen würden, und die es erlaubten, eindeutig zwischen „Frau“ und „Mann“ zu unterscheiden. Soziologische Faktoren fallen meist unter den Tisch. Obwohl auch eine Gender-/Transgender-„ExpertIn“ mit in den „Sachverständigen“-Teams der IAAF vorgesehen ist, bleiben simple biologische Auffassungen bei Betrachtungen der Geschlechtsentwicklung (der Entwicklung der Genitalien) zentral. Die biologischen Auffassungen erweitern sich zwar auf einige Gene, Hormone und Einflussfaktoren wie Rezeptoren, allerdings halten sie an der Vorstellung fest, dass solche Faktoren eindeutig in eine Richtung „typisch weiblich“ oder „typisch männlich“ bei der Geschlechtsentwicklung weisen würden. Dies ist aber nicht der Fall. Genau genommen ist das Bild, das derzeit Biologie und Medizin von Geschlechtsentwicklung beschreiben, äußerst lückenhaft. Biologie und Medizin sind auf dermaßen viele Faktoren gestoßen, die die Ausbildung von Genitalien beeinflussen, dass der Versuch, diese Faktoren zwanghaft zweigeschlechtlich einzuordnen, zunehmend scheitert. Die derzeitigen biologischen Modelle der Geschlechtsentwicklung werden der festgestellten Komplexität nicht mehr gerecht.

Meines Erachtens machte die öffentliche Debatte schon deutlich, dass das biologische Geschlecht zumindest eine komplizierte, wenn nicht sogar unsichere Sache ist. Wie bewertest Du dies?

Die zunehmende Berichterstattung hat auch etwas Positives. Als negativ möchte ich erst noch einmal betonen, dass Menschen zur Schau gestellt werden, zur Rechtfertigung gezwungen werden, nicht einfach so sein können, wie sie wollen und das machen können, was sie wollen. Positiv an den differenzierten Darstellungen in den Medien ist, dass andere Menschen von Menschenrechtsverletzungen in diesem Land erfahren, Anteil nehmen können, sich solidarisieren können. Positiv aus einer theoretischen Perspektive bezüglich „Geschlecht“ ist, dass durch differenzierte, fundierte mediale Beiträge (1) deutlich wird, dass es mit dem Geschlecht und dessen Beschreibung in den Wissenschaften nicht so leicht ist, wie viele denken. Offensichtlich wird im Sport ein ganzes „ExpertInnen“-Team benötigt, braucht dieses mehrere Wochen, um das „Geschlecht“ eines Menschen einordnen zu können. Die populär verbreitete Sicherheit, die über Jahrzehnte von Wissenschaften unterfüttert wurde und noch immer unterfüttert wird, dass „Geschlecht“ eine simple biologische Tatsache sei und dass es zudem nur „weiblich“ und „männlich“, gebe, wird so ein kleines Stückchen erschüttert.

Es gibt den Vorschlag, im Sport eine dritte - intersexuelle - Kategorie einzuführen. Was hältst Du davon?

Ich halte nichts davon. Ich bin dagegen, dass sich ein Mensch dafür rechtfertigen muss, dass er ist, wie er ist. Wenn schon Geschlecht als unterscheidend aufrecht erhalten werden soll, muss jeder an sportlichen Wettkämpfen teilnehmende Mensch selbst entscheiden können, wie er sich geschlechtlich verorten möchte. Grundsätzlich halte ich es für besser, von Geschlechtseinordnungen im Sport abzugehen. Wenn schon auf Leistung orientierter Sport, könnten dann andere, gegebenenfalls für die einzelne Disziplin wichtige Merkmale zur Einordnungen herangezogen werden, so im Handball die Körpergröße, beim Ringen und Boxen das Körpergewicht. Damit könnten individuelle Leistungen im Sport besser gewürdigt werden. Grundsätzlich ist zu beachten, dass derzeit oft nur Menschen aus gut beziehungsweise ausreichend gut situierten Elternhäusern an Leistungssport teilnehmen können. Menschen aus armen Ländern und armen Familien fehlen oft die guten Trainingsbedingungen. Hier zeigen auch geschlechtliche Diskriminierungen Auswirkungen: Auch geschlechtlich stehen unterschiedliche Trainingsbedingungen zur Verfügung - Mädchen beginnen in der Regel später mit sportlichen Trainings und werden weniger und später gefördert als Jungen. Aus sportlicher Perspektive sind solche schlechten Lebensbedingungen und Diskriminierungen zu beenden und werden mit ihnen auch beispielsweise Unterschiede in den Bestleistungen verschwinden, die derzeit noch zwischen „Frauen“ und „Männern“ gemessen werden.

Das Interview führte Susanne Schultz.

In unserem Sonderheft GID Spezial 9 (erscheint im Dezember 2009) werden wir die Frage vertiefen, wie Geschlecht und Sexualität derzeit in den Biowissenschaften klassifiziert werden und welche kritischen Debatten es von verschiedener Seite dazu gibt.


Fußnote:
(1) In zahlreichen Medien waren solche Beiträge in den letzten Wochen, aber auch schon in den letzten Jahren, zu lesen, so im „Freitag“, in der „Jungen Welt“, im „Spiegel“. In der ZEIT Online hieß es am 11.09.2009: „Wissenschaftler vertreten inzwischen die Auffassung, dass eine eindeutige Einteilung der Menschen in zwei Geschlechter nicht mehr zeitgemäß ist.“