Studiengebühren führen den Studierenden vor Augen, dass Bildung heute als Investition verstanden wird und sich daher auch in Form von höheren Einkommen rechnen muss. Hinzu kommen verschärfte Zulassungsbestimmungen und ein tendenziell immer schlechter ausgestattetes BAföG.
Der wachsende Druck im Bildungssystem ist immer stärker auch in den Schulen zu spüren. Viel zu große Klassen, soziale Selektion und wachsender Leistungsdruck machen Schule für immer mehr junge Menschen zu einer verhassten Pflichtveranstaltung, in der sie immer weniger gefördert werden.
Dies alles geschieht unter dem enormen Druck eines Akkumulationsregimes, das die Verteilung immer ungerechter gemacht und so die Unsicherheit auch der jungen Menschen extrem gesteigert hat. Die Abstiegsängste sind angesichts schrumpfender Löhne, hoher Arbeitslosigkeit und der Drohkulisse von Hartz IV gewachsen.
Mit ihrem gemeinsamen Protest klagen Schülerinnen, Schüler und Studierende nun ihr Recht auf gute und unentgeltliche Bildung ein.
Dazu zählen sie erstens die ausreichende materielle Ausstattung der Bildungsinstitutionen und -teilnehmer, zweitens die Öffnung des Bildungssystems und die Überwindung der sozialen Segregation sowie drittens eine inhaltliche Bildungsreform, die eben nicht auf Wettbewerb, Auswendiglernen und Geschwindigkeit setzt, sondern Bildung in ihrer ganzen Breite reflektiert.
1988 – 1997 – 2009
Dass Schüler und Studenten sich gegen die miserable Situation auflehnen, erleben wir nicht zum ersten Mal. Um den aktuellen Bildungsstreik einschätzen zu können, liegt es deshalb nahe, die beiden vorausgehenden großen Protestbewegungen der Jahre 1988 (UNiMUT) und 1997 (Lucky Streik) in den Blick zu nehmen.
Dabei sticht zunächst ins Auge, dass diese beiden Protestwellen – anders als die späteren Demonstrationen gegen Studiengebühren um das Jahr 2003 – kein reiner Abwehrkampf gegen einzelne Eingriffe in die Hochschule waren. Vielmehr wandten sie sich gegen die damaligen Entwicklungen im gesamten Bildungssystem. Hieraus erwuchsen wiederum spezifische Vor- und Nachteile.
Auslöser des UNiMUT-Streiks im Jahr 1988 war, neben vielen regionalen Ursachen, insbesondere der Unmut über die Umstrukturierungspläne an der Freien Universität Berlin. Der „Mut machende Blick zu anderen Hochschulen“, aber auch die positive Medienresonanz, heizten die Streikbewegung an. 2
Im Rückblick kommt allerdings ein weiterer Grund hinzu. Denn schon im Sommer 1987 hatte eine Schülerbewegung sich massiv gegen die Verschlechterung der Abiturregeln zur Wehr gesetzt. Und es waren gerade die beteiligten Schülerinnen und Schüler, die als Erstsemester den UNiMUT-Streik trugen. Nicht zuletzt deshalb traf der Streik die organisierten Studentenstrukturen damals mehr oder weniger unvorbereitet. Die Spitze der Bewegung bildeten spontan entstandene Räte – und nicht die etablierten Hochschulgruppen, für die die Proteste geradezu ihr Waterloo bedeuteten.
Der gemeinsame Nenner der Protestierenden war die Krise die Massenuniversität. Hatten die „68er“ gegen die Ordinarienuniversität gekämpft, so sah die UNiMUT-Generation vor allem die eigene Zukunft bedroht. BAföG gab es seit dem Amtsantritt von Bundeskanzler Helmut Kohl nur noch als Darlehen – dies bedeutete bis zu 50 000 DM Schulden nach dem Studium. Und die Konsequenzen des berühmten „Öffnungsbeschlusses“ sind noch heute zu spüren, da die im Anschluss steigenden Studierendenzahlen nicht von steigenden öffentlichen Mittelzuweisungen begleitet waren. Die Folge war eine anhaltende Unterfinanzierung des Hochschulsystems.
Die Streikenden sahen sich 1988 mit dem Vorwurf konfrontiert, unpolitisch zu sein. Insbesondere in Abgrenzung zu den „68ern“ hatte sich in der Tat ein gewisser Pragmatismus herausgebildet. Hinzu kam die dramatisch veränderte sozioökonomische Situation – berufliche Perspektiven, wie sie die 68er besaßen, gab es Ende der 80er Jahre nur noch für wenige. Das Gespenst der Akademikerarbeitslosigkeit brachte Unsicherheit in das Studierverhalten, und die Ansprüche der Studierenden an ihre Hochschule wuchsen.
Dennoch: Es ging auch 1988 keineswegs nur um mehr Geld – die Schlagwörter waren vielmehr Interdisziplinarität und Überwindung des „Fachidiotentums“. Zudem wurde die Einheit von Forschung und Lehre verteidigt, da nur so eine effektive gesellschaftliche Kontrolle der Forschung gewährleistet werden könne.
Mit Ökologie, Atomkraft, Frauenpolitik und Wissenschaftskritik griff man außerdem Themen auf, die sehr wohl einen gesellschaftspolitischen Anspruch mit Wissenschaftsbezug hatten. Schließlich gelang es den Protestierenden auch, Geld für Hochschulsonderprogramme zu erkämpfen, ohne dass allerdings eine Trendwende bei der Hochschulfinanzierung erreicht worden wäre.
Lucky Streik
So spontan wie UNiMUT entstand auch der Lucky Streik 1997: Ausgangspunkt war diesmal ein völlig überfülltes Seminar an der Uni Gießen. 3 Nicht revolutionärer Protest, sondern unmittelbar praktische Probleme führten also die Studierenden auf die Straße.
Die neue Studentengeneration war geprägt von 15 Jahren Kohl-Regierung, und sie sah sich mit hohen Anforderungen konfrontiert: Sie sollte „international konkurrenzfähig“ sein und deshalb schnell und zielstrebig studieren. War es 1968 noch möglich gewesen, die Zuwächse des Bruttoinlandproduktes moderiert zwischen Kapital und Arbeit zu verteilen, so hatten sich die Verteilungskämpfe und die Zukunftsängste der Studierenden bis 1997 massiv verstärkt. Daher galt ein guter Bildungsabschluss – als Investition in das eigene Humankapital – nunmehr als sicherster Weg, zumindest einen kleinen Teil des Kuchens abzubekommen. Da jedoch viele nach einem besonders guten Studienabschluss strebten, um sich einen Vorsprung auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen, wuchs auch die Konkurrenz. Kurzum: Man wollte lernen, konnte aber nicht, weil das Bildungssystem über Jahre hinweg vernachlässigt worden war. Die Studierenden forderten daher zunächst nicht mehr als die materielle Absicherung ihrer Bildung.
Da die Zustände im Bildungssystem bereits damals katastrophal waren und die Protestierenden vergleichsweise brav agierten, erfreute sich der Lucky Streik breiter Zustimmung. Hierzu trug bei, dass die Studenten selbst vor allem mehr Geld für Bildung forderten, und zwar weitgehend ohne die bestehenden Herrschaftsformen als solche zu reflektieren oder gar in Frage zu stellen.
Es wäre dennoch verfehlt, dem Streik den Stempel „unpolitisch“ aufzudrücken – zumal in Streikzeiten immer Politisierungsprozesse stattfinden. Es gab allerdings tatsächlich kein umfassendes politisches Konzept, und die Argumentationsmuster der Studierenden waren zum Teil egoistisch auf das eigene Fortkommen bedacht. Immerhin führte der Lucky Streik dazu, dass bildungspolitische Themen, wie ein Studiengebührenverbot und studentische Mitbestimmung, wieder auf der politischen Agenda standen. Zudem bedeutete der Protest – obwohl er just in dem Moment nachließ, als der „Verlust“ eines Semesters drohte – für manche auch den Einstieg in eine andere Logik der Bildung, indem sie sich dem rein abschlussorientierten Lernen entzogen.
Dass der Streik im Vorfeld der Bundestagswahl stattfand, führte dazu, dass die Parteien die Forderungen der Studentinnen und Studenten bereitwillig aufgriffen. Als 1998 dann tatsächlich Rot-Grün an die Macht gelangte, waren die Versprechen jedoch bald vergessen. Vielmehr sahen sich die Studierenden rasch mit Studiengebührendebatten und der „Exzellenzinitiative“ sowie der Umstellung des Studiensystems auf Bachelor und Master konfrontiert – die „unternehmerische Hochschule“ war auf dem Vormarsch. 4
Wie weiter?
Der Bildungsstreik 2009 steht einerseits in dieser Kontinuität, bedeutet aber andererseits eine tiefe Zäsur. Denn er ist, anders als seine Vorgänger, nicht spontan organisiert, sondern lange im Voraus geplant worden. Und dies von einem durchaus breiten gesellschaftlichen Bildungsbündnis aus Studenten und Schülern, Verbänden und Gewerkschaften.
Zweitens sind dieses Mal die Schülerinnen und Schüler in einem Maße eingebunden, das es zuvor nicht gab. Sie dürften mindestens die Hälfte der Demonstranten am 17. Juni gestellt haben.
Drittens hat man aus den Erfahrungen der Vorgängerstreiks gelernt und die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berücksichtigt. Der Streik war von vornherein auf eine Woche befristet, womit der Lern- und Lebensrealität steigenden Konkurrenzdrucks Rechnung getragen wurde. Damit war es möglich, sich an den Protesten zu beteiligen, ohne (knappe) Zeit zu verlieren. Man mag dies als angepasst interpretieren; man kann es aber auch als Zugeständnis an die Realität werten.
Viertens schließlich hat sich der Protest deutlich von rein materiellen, „ständischen“ Forderungen abgehoben. Die Schüler und Studenten kritisierten nämlich zugleich das vorherrschende Bildungsverständnis und wandten sich gegen eine Reduktion auf soziale Interessen. Auch deshalb sind die Versuche seitens der politischen Klasse und des „Bildungsestablishments“, den Streik zu vereinnahmen, anders als 1997 vollständig gescheitert. Die Stellungnahme von Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), sie fände die Proteste „gestrig“, belegt dies.
Was folgt nun aus dem massenhaften Protest? Gegenwärtig scheinen eine, wenn auch sicher begrenzte, Reform der Studienstruktur und eine Entrümpelung der gymnasialen Oberstufe im Bereich des Möglichen zu liegen. Sollte dies gelingen, handelte es sich zweifelsohne um einen Erfolg der Bewegung.
Allerdings droht dem Bildungsstreik andererseits zugleich das Schicksal seiner Vorgänger: Die schlimmsten Spitzen werden entfernt, an der grundlegenden Ausrichtung des Bildungssystem ändert sich aber nichts. In diese Richtung deutet auch das Verhalten von SPD und Grünen, die sich mit dem Streik solidarisierten, gleichzeitig jedoch mit einer Grundgesetzänderung („Schuldenbremse“) die Möglichkeit höherer öffentlicher Ausgaben torpedieren.
Ob die beginnende Debatte um ein Menschenrecht auf Bildung fruchtbar gemacht werden kann, wird auch davon abhängen, ob bzw. wie sich die Streikenden auch nach der Sommerpause einmischen. Denn nur wenn es gelingt, den guten Beginn in ein dauerhafteres Engagement zu überführen, wenn aus dem einmaligen Streik tatsächlich eine Bewegung erwächst, besteht auch die Option, eine grundlegend andere Bildungspolitik politisch durchzusetzen.