Die NATO mit sechzig – reif für den Ruhestand

Mit sechzig denkt mancher schon mal an den Vorruhestand, die NATO denkt an ihre Zukunft. Hat sie den eine? Waffenbündnisse pflegen zu zerfallen, sobald sich der Anlass erledigt hat, für den sie geschlossen wurden. Die NATO hingegen überlebt ihren Gründungszweck schon seit zwei Jahrzehnten. Während des Ost-West-Konflikts fungierte sie als Stützpfeiler der Machtbalance zweier sich gegenseitig in Schach haltender Ordnungssysteme. Natürlich schuf die monströse Abschreckungskonkurrenz keinen Frieden. Aber die Ära antagonistischer Blockkonfrontation kann sich als Minimalerfolg zugute halten, ohne Krieg geendet zu haben. Sicherheit im Sinne von Kriegsvermeidung ging auch auf das Konto der NATO. 

 

Der Auftrag war dahin als der Epochenbruch von 1989/90 die weltpolitische Bühne umdekorierte, ohne Sowjetmacht, ohne Ostblock. Eine Militärallianz trotz verschwundenen Gegners? An die Auflösung der funktionslos gewordenen NATO verschwendete niemand einen Gedanken, gefragt war allein eine neue Rolle. Die Allerweltsformel der „Krisenbewältigung“ trat an die Stelle der  Bündnisverteidigung und Kriegsvermeidung degenerierte zu Kriegführung. Die Bilanz der bewaffneten Interventionen nimmt sich indessen bescheiden aus. Schon die Stationierungsdauer in den Zielländern spricht eine deutliche Sprache. In Afghanistan stehen alliierte Truppen seit sieben Jahren, im Kosovo seit zehn, in Bosnien seit 13 Jahren. Am Hindukusch verschlechtert sich die Sicherheitslage von Monat zu Monat. Auf dem Balkan hat das Bündnis mehr als Gewaltunterbindung nicht zustande gebracht. Bosnien und Kosovo sind Quasi-Protektorate, funktionierende Staatswesen sehen anders aus. Wird Krisenbewältigung nach NATO-Art am langfristigen Ziel des selbsttragenden Friedens gemessen, hat sich das militärische Instrument als stumpfes Schwert erwiesen.

 

Das illustriert einmal mehr der Straßburger Gipfel. Sein Topthema war die modifizierte Afghanistan-Strategie der neuen Administration in Washington. Der Ausbau der afghanischen Armee und Polizei soll forciert, der Mittelansatz für zivile Entwicklungsprojekte erhöht werden. Angekündigt wurde Gesprächsbereitschaft mit oppositionellen Kräften in den Provinzen (einschließlich moderater Taliban) und die Einbeziehung der Nachbarn Afghanistans in den politischen Dialog (einschließlich Iran). Das sind tatsächlich neue Töne, aber was können sie noch bewirken im achten Jahr eines festgefahrenen Krieges? Zumal sie einher gehen mit der weiteren Aufstockung amerikanischer Truppen – um 20.000 Soldaten in diesem und voraussichtlich 10.000 im nächsten Jahr. Zielstrebig nähert sich die NATO der Einsatzstärke von 100.000 Mann, mit der die Sowjetarmee zehn Jahre das Land besetzt hielt, ehe sie sich geschlagen zurückzog.

 

Die Aufständischen in Afghanistan eint nicht viel mehr als der Vorsatz, die Eindringlinge zu vertreiben. Die Anwesenheit fremder Machthaber ist ihnen Provokation genug. Die NATO kann diesen Krieg nicht zu gewinnen, wenn das Ziel darin besteht, umkämpfte Gebiete, aus denen der Gegner verdrängt wurde, dauerhaft unter Kontrolle zu bringen. Dazu würden 400.000 oder 500.000 Soldaten benötigt. Und selbst dann wäre der Erfolg nicht garantiert, wie sich Vietnam-Veteranen erinnern. Im Anti-Guerilla-Krieg gelten eigene Regeln. Er wird nicht gegen eine militärische Organisation geführt, sondern gegen eine ethnosoziale Struktur. Sie lässt sich weder zerschlagen noch aufreiben noch entwaffnen wie eine reguläre Armee. Derselbe Kämpfer, der nachts eine Patrouille angreift oder eine Sprengfalle legt, erscheint am nächsten Tag auf dem Dorfanger wieder als Bauer oder Hirte, im langen Gewand und ohne Kalaschnikoff. Von Sieg wäre zu sprechen, wenn er von sich aus die Waffe aus der Hand legt, freiwillig und endgültig. Das jedoch ist keine Frage der militärischen, sondern der politischen Stärke.          

 

Woran krankt die Zukunft der NATO? Sie hat sich weit von ihrem Anspruch als Wertegemeinschaft entfernt. Im Gründungsvertrag steht, welche Werte das sind: Freiheit, Demokratie und ausdrücklich auch die Herrschaft des Rechts. Die bis heute gültige Bündnisstrategie, vor zehn Jahren mitten im Kosovokrieg beschlossen, ersetzt die Verpflichtung auf das Recht durch die Richtschnur des Interesses. Das internationale Recht ermächtigt aber weder Staaten noch Koalitionen, Interessen nach eigenem Gutdünken wahrzunehmen. Es deckt nicht die unbeschränkte Mittelwahl. Es billigt vor allem nicht den Einsatz von Waffengewalt nach freiem Ermessen.

 

Die Teilnehmer des Jubiläumsgipfels hätten die Charta der Vereinten Nationen zur Hand nehmen können und einmal den Nordatlantikvertrag dagegen halten, den sie vermutlich schon lange nicht mehr gelesen haben. Eine überraschende Feststellung wäre ihnen gewiss gewesen: Beide Dokumente sind aus dem gleichen Holz, sprechen dieselbe Sprache. Sie legen die Priorität auf die zivile vor der militärischen Konfliktlösung und binden das Überschreiten der Gewaltschwelle an strikte Bedingungen. In Zeiten globaler Terrordrohung – sei es durch Selbstmordtäter, sei es durch Schurkenstaaten – ein überholter Standpunkt, wenden Kritiker ein. Sie mögen sich umsehen in der Konfliktrealität von heute und fragen, ob der robuste Griff zu den             

Waffen die tückischen neuen Gewaltformen wirklich bezwingt oder nicht vielmehr erst schürt.