Und wieder wird "gespart", das heißt: Sozialleistungen werden gekürzt. Wieder unterwerfen sich die Koalitionäre dem "Sparzwang". ...
... Wieder kennen sie "keine Alternative". Gibt es wirklich keine?
Was sagen die Gewerkschaften, zum Beispiel ver.di, meine Gewerkschaft? Mit welchem Konzept kämpft sie gegen die Arbeitslosigkeit, die alle sozialen Sicherheitssysteme unterhöhlt? Warum forderte sie nicht vor der Bundestagswahl Änderungen am Arbeitsgesetz wie in Frankreich? Warum verlangte sie nicht eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden? Gesetzliche Begrenzung, Abbau und schließlich Verbot der Mehrarbeit? Warum bereitet sie nicht die Mitglieder auf den Kampf für solche Ziele vor, damit wenigstens, wie in Frankreich, die allgemeine 35-Stunden-Woche erreicht wird und auf diesem Wege eine halbe Million neue Arbeitsplätze? Stattdessen beteiligte sich ver.di in Person der Bundesvorständlerin Kunckel-Weber an der Arbeit der Hartz-Kommission. Gemäß dem die Kommission bestimmenden Interesse des Kapitals wurde nicht über mehr Einnahmen für die Sozialsysteme beraten, sondern über weitere Ausgabenkürzungen. Über noch mehr Druck auf unglückliche Mitmenschen, die ohnehin schon genug Lasten zu tragen haben. Kanzler Schröder hatte schon lange vor der Bundestagswahl angekündigt, daß die Sozial-"Reformen" noch viel weiter gehen müßten und würden als bis dato. Und führende Gewerkschafter beteiligen sich jetzt an der Verbreitung der unverantwortlichen Parole, das Hartz-Papier müsse "eins zu eins" umgesetzt werden, d.h. daran dürfe nichts geändert, über dieses Hinterzimmerprodukt dürfe öffentlich gar nicht diskutiert werden, der Bundestag - zumindest die Koalitionsmehrheit - müsse es einfach absegnen. Wer die Parlamentarier so zu entmündigen versucht, scheint von Demokratie nichts mehr zu halten.
Keine Alternative?
Was wäre anderes zu tun - und wie?
Dazu hier nur eine Skizze. Sie zeigt eine Möglichkeit, wie Arbeitslose finanziell abgesichert werden können. Ähnliche Konzepte ließen sich für die Kranken- und die Rentenversicherung entwickeln.
Widersinnigerweise hängt der Arbeitgeberbeitrag zur Arbeitslosenversicherung von der jeweiligen Anzahl der Beschäftigten in einem Unternehmen ab. Ein Friseurgeschäft mit zehn Angestellten und einer Million Euro Jahresumsatz muß ebenso viel entrichten wie eine örtliche Bankfiliale mit ebenso vielen Beschäftigten, aber einem Mehrfachen des Umsatzes. Das Friseurgeschäft muß also, gemessen an seiner Ertragskraft, weitaus mehr für das Sozialsystem leisten.
Die Logik dieses perversen Systems heißt: Abbau von Arbeitsplätzen steigert den Gewinn. Selbst massivste Steuererleichterungen - die Vergangenheit beweist es - und Betgesänge für mehr "Wirtschaftswachstum" ändern nichts an dieser Logik. Und folglich nichts an der Tendenz zum fortwährenden Arbeitsplatzabbau.
Wir müßten die Logik dieses Systems umkehren. Beispielsweise so: Die Bundesanstalt für Arbeit ermittelt ihren jährlichen Finanzbedarf danach, daß jedem und jeder Arbeitslosen 70 Prozent ihrer letzten Bezüge als Leistung zustehen. Diese Summe hätten aber nicht Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte zu erbringen, sondern die Arbeitgeber allein. Mittels einer Wertschöpfungsabgabe, deren Höhe von Umsatz, Gewinn und betrieblicher Finanzkraft abhinge.
Die Arbeitgeber sollten alleine zahlen, denn in ihrer Gesamtheit sind sie nicht nur Nutznießer von Arbeit, sondern auch die Verursacher und Nutznießer von Arbeitslosigkeit. Sie sind zudem Nutznießer einer hochentwickelten Infrastruktur, die heute zu mehr als zwei Dritteln nicht von ihnen, sondern von den Arbeitnehmern finanziert wird. Nach welchem Verteilungsschlüssel die Arbeitgeber ihre Leistung zu erbringen hätten, könnten sie in ihren öffentlich-rechtlich geregelten Kammern (Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern usw.) selbst entscheiden.
Das Ergebnis einer solchen Reform wäre die gewünschte Richtungsumkehr der Systemlogik. Je mehr Arbeitsplätze angeboten würden, desto weniger Kosten von Arbeitslosigkeit wären von den Arbeitgebern zu tragen.
Wie schnell würde die Arbeitslosigkeit dann wohl sinken?
Die jährlichen Zuschüsse aus der Staatskasse an die Bundesanstalt für Arbeit und die übrigen Sozialträger würden zurückgehen: Der Ersatzbedarf für Ausfälle bei der Rentenversicherung und den gesetzlichen Krankenkassen nähme ab. Die freiwerdenden Mittel könnten in Form von Steuererleichterungen an die Arbeitgeber zurückfließen. Wenn man für das gesamte Projekt noch Übergangsformen und -fristen entwickelte, so wäre auch das Argument der erhöhten Pleitengefahr zu entkräften. Das Arbeitgebergeschwätz über die angeblich zu hohen Lohnnebenkosten würde endlich verstummen. Prinzip der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik wäre dann: Arbeitsplätze zu vernichten hieße tendenziell, Wirtschaftswachstum und Gewinnaussichten zu verringern.
Alles unrealistisch? Nur dann, wenn man von vornherein denen recht gibt, die behaupten, es gebe "keine Alternative". Vor allem einer Gewerkschaft stände jede Haltung besser an als die ehrfürchtig gebeugte vor vermeintlichen Sachzwängen. Mit ihr signalisiert sie ihre Entbehrlichkeit. Und die Mitglieder treten aus, schon bevor sie arbeitslos werden.
erschienen in Ossietzky 21/02