Wer hat Angst vor der Wirklichkeit?

in (23.11.2008)
Wenn von dokumentarischen Strategien in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst die Rede ist, dann stehen zumeist Fragen der Repräsentation sowie der Authentizität, abgehandelt an einzelnen künstlerischen Positionen, im Vordergrund. Doch abgesehen davon, auf welche Weise Wirklichkeit von KünstlerInnen wiedergegeben wird, und ob dies mit gängigen gesellschaftlichen Protokollen von Echtheit übereinstimmt, ist es interessant zu verfolgen, welche Auswirkungen die Integration dokumentarischer Strategien auf das Medium Kunstausstellung als solches hat. Konsequenterweise widmet sich dieser Beitrag deshalb weniger künstlerischen Sichtweisen auf das Dokumentarische, sondern versucht vielmehr, näher zu bestimmen, auf welche Weise Dokumentarismen kuratorisches Arbeiten beeinflussen. Zwar lassen sich zahlreiche Parallelen im Einsatz von dokumentarischen Strategien durch KünstlerInnen und KuratorInnen beobachten, gleichzeitig gilt es aber auch zu differenzieren. Denn das Eintreten des dokumentarischen Komplexes in das Spannungsverhältnis zwischen künstlerischen und kuratorischen Praxen hat nicht nur die beiden unterschiedlichen Berufsfelder, sondern auch ihr Verhältnis zueinander auf grundlegende Weise verändert.
Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit stellen gerade dokumentarische Formen ein bedeutendes Vehikel zeitgenössischer kuratorischer Paradigmen dar: Sie haben das Potenzial, BesucherInnen zu interessieren und zu emotionalisieren, sie können räumliche und institutionelle Rahmenbedingungen reflektieren und zudem gesellschaftspolitische Fragen thematisieren.
Wenn Dokumente oder dokumentarische Formate in Kunstausstellungen integriert werden, spielen der Umgang mit Raum, die Ausstellungsarchitektur bzw. das -display eine Schlüsselrolle. Zu berücksichtigen gilt es dabei das Verhältnis der Kunstwerke und anderer präsentierter Materialien zueinander, zum den sie umgebenden Raum, zum sozialen und politischen Rahmen sowie zum Publikum bzw. darüber hinausgehende Öffentlichkeiten. KuratorInnen betreiben daher, indem sie die angesprochenen Strukturen und deren Bedeutungen permanent neu definieren, so etwas wie eine Montage heterogener Objekte im dreidimensionalen Raum. Allerdings sei auf die Gefahren des Kompilierens, des bloßen Nebeneinanderstellens, ohne Berücksichtigung des Kontextes bzw. der Vorgeschichte der Objekte, hingewiesen. Denn es reicht für eine kritische kuratorische Praxis nicht aus, neo-surrealistische Pluralismen zu transportieren, die auf ästhetische Überraschungseffekte setzen. Nur in seltenen Fällen sprechen Objekte oder Kunstwerke für sich. Um Geschichten zu erzählen, gilt es vielmehr, Kontextualisierungen vorzunehmen. Dokumentarische Verfahren können sich für diesen Zweck als äußerst hilfreich erweisen. Dennoch möchte ich hier für den Einsatz von Dokumentarismen als eigenständige Formen plädieren, nicht nur als Stichwortgeber für vermeintlich ästhetisch wertvollere Objekte. Genauso wie sich dokumentarische Formen aufgrund ihres Wirklichkeitsbezuges immer in einem Verhältnis zu gesellschaftlichen und politischen Rahmungen befinden, definieren KuratorInnen, indem sie auf Dokumente zurückgreifen, ihre eigenen Positionen bzw. diejenigen ihrer Arbeit in Bezug zu einer sozialen Wirklichkeit. Dabei haben diese spezifischen Positionierungen das Potenzial, vorherrschende Politiken der Wahrheit in Frage zu stellen und sogar zu überwinden.
Angesichts der Konstruiertheit von Dokumenten ist es zudem illusorisch, an ihre absolute Erklärungsfähigkeit zu glauben. Obgleich Dokumentarismen großteils zur Authentifizierung von historischen Ereignissen, Menschen, Lebensweisen etc. herangezogen werden, sollte, vor allem in Bezug auf das Kuratieren von Ausstellungen, ihr Potenzial in Richtung Fiktionalisierung von Inhalten nicht aus den Augen verloren werden. So könnte die grundlegende Vieldeutigkeit von Dokumenten nicht nur zum Zweck der Erzeugung von narrativer oder chronologischer Kohärenz in Ausstellungen eingesetzt werden, sondern andererseits auch, um Widersprüche hervorzuheben bzw. sogar selbst zu produzieren. Mit der Erzeugung von Widersprüchen verbunden ist auch die Produktion von Wissen, das existierenden Formen entgegenläuft und sich abseits gängiger Wissensroutinen positioniert. Das Auseinanderdriften von kuratorischen Konzeptionen und ihrer Umsetzung im Raum kann sich demgemäß als durchaus produktiv erweisen. Denn bei Ausstellungen handelt es sich weniger um wissenschaftliche Texte als um multiperspektivische oder - mit anderen Worten polyphone - Instrumentarien der Wissensproduktion. Gerade zu diesem Punkt wäre es interessant, sich dokumentarischer Verfahren in Ausstellungen nicht nur als Beweismittel zu bedienen, sondern experimentellere Zugangsweisen einzusetzen, die den unterschiedlichen Aspekten des Dokumentarischen gerecht würden.
Schließlich besteht in dokumentarischen Arbeiten stets ein Vertrag mit den BetrachterInnen, die von einer bestimmten Transparenz des Gezeigten ausgehen. Dieser Öffentlichkeitsbezug vergegenwärtigt die essenzielle Bedeutung des Publikums in Ausstellungen. Indem KuratorInnen als ÜbersetzerInnen zwischen unterschiedlichen Diskursen und Öffentlichkeitsfeldern fungieren, kommt ihnen eine wichtige Schnittstellenfunktion zwischen dem Kunstfeld und diversen Öffentlichkeiten zu. In diesem Sinn entstehen in Ausstellungen stets reflexive Verhandlungsräume zwischen Objekten, BesucherInnen, KuratorInnen, KünstlerInnen, VermittlerInnen etc. Doch Dokumentarismen operieren nicht nur auf einer rationalen Ebene, sondern sind auch imstande, Leidenschaften zu wecken und haben zudem einen hohen Grad an Identifikationspotenzial. Da sie bei den BesucherInnen Wut, Mitleid, Traurigkeit, Horror, Freude und sogar Glücksgefühle auszulösen imstande sind, sollten sich KuratorInnen des Dokumentarischen auch immer die möglichen emotionalen und performativen Resonanzen vor Augen halten.

Franz Jud ist Kunsthistoriker und freier Kunstvermittler. Er lebt in Wien.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Winter 2008/2009, „Die Macht des Faktischen".