Spekulation als Kalkulation

Spekulation ist. Sie gehört zu den tagtäglichen Erledigungen aller Mitglieder
der bürgerlichen Gesellschaft. Jedes Geschäft kennt ein spekulatives
Moment. Jeder Preisvergleich, jede Werteinschätzung eines Produkts
oder einer Leistung ist Spekulation. Jeder Kauf und jeder Verkauf
muß und will kalkuliert sein. Die Spekulation hat sich also der guten
(aber scheinbar hilflosen) Marktwirtschaft nicht von außen bemächtigt,
sondern gehört zu ihr, ist von ihr untrennbar.


Schon der junge Engels schrieb: »In diesem fortwährenden Auf und
Ab muß jeder suchen, den günstigsten Augenblick zum Kauf und Verkauf
zu treffen, jeder muß Spekulant werden, d. h. ernten, wo er nicht gesäet
hat, durch den Verlust andrer sich bereichern, auf das Unglück andrer
kalkulieren oder den Zufall für sich gewinnen zu lassen. (...) Und möge
sich der ehrliche, ›solide‹ Kaufmann nicht pharisäisch über das Börsenspiel
erheben. (…) Er ist so schlimm wie die Fondsspekulanten, er spekuliert
ebenso sehr wie sie, er muß es, die Konkurrenz zwingt ihn dazu,
und sein Handel impliziert also dieselbe Unsittlichkeit wie der ihrige.«
Die gleiche Unsittlichkeit ist freilich nichts anderes als die gemeine Sittlichkeit
des Kapitals. Alle sind ihr unterworfen, bereits Adam Smith erkannte zu Recht, daß jeder »in einem gewissen Sinn ein Kaufmann« geworden
ist.


Je weiter sich das Kapital von seinem Ursprung, der Produktion, also
der Wertschaffungsebene wegbewegt, desto suspekter wird es dem Alltagsverstand.
Bleibt das Warenkapital weitgehend unbehelligt, so gilt
das kaufmännische Kapital als zumindest verdächtig, während dem
Geldkapital bereits Haß entgegengebracht wird. Die Verhältnisse bleiben
in solcher Darstellung unbegriffen, ja werden geradezu gegen mißliebige
Exponenten derselben verteidigt. Nähe oder Ferne zur Produktion
aber spricht weder für jemanden noch gegen jemanden. Das Verkürzte
erkennt sich nicht im Verlängerten, während das Verlängerte sehr genau
weiß, woher es kommt. »Die Spekulation versteht deswegen den gesunden
Menschenverstand wohl, aber der gesunde Menschenverstand
nicht das Tun der Spekulation«, ätzte ein gewisser Hegel.


Die fundamentale Unterscheidung in Börsenkapital und Kapital wird
immer geläufiger. Aber sie trägt nicht. Sie ist ein populistischer Selbstläufer.
Sie dividiert Unteilbares, vertraut letztlich auf das produktive gegen
das spekulative Kapital, setzt einmal mehr auf das Schaffende gegen
das Raffende. Indes und ganz dezidiert: Spekulant ist kein Schimpfwort!
Tritt es als solches auf, dann schleppt es – ob es will oder nicht – einen
antisemitischen Subtext mit sich herum. Eine Tragik der heutigen Zeit
ist, daß die berechtigten Empörungen gegen das Kapital so derartig von
dessen eigenen Ressentiments geprägt und geschädigt sind, daß dieses
Aufbegehren eher Beiträge zur gesellschaftlichen Barbarisierung liefert,
denn einen emanzipatorischen Schritt darstellt.


Spekulation und Spekulantentum sollen aus der Kritik nicht ausgenommen,
sondern vielmehr einbezogen werden in einer gesamtgesellschaftliche
Sozialkritik, deren Antikapitalismus sich nicht an oberflächlichen
Aspekten abarbeitet und dadurch unrichtig wird. Bei der Kritik
der Spekulation ist immer wieder die inhaltliche Rückbezüglichkeit zur
kapitalistischen Totalität herzustellen. Wird die Spekulation sachlich
isoliert und aus diesem Kontext entlassen, wird sie unweigerlich unerwünschte
Resultate tätigen. Spekulation ist nicht schlimmer als der Markt,
dem sie dient. Sie ist nicht seine Ursache, sondern eine seiner Folgen.
Die Spekulation ist keine Erfindung verselbstständigter Spekulanten, sie
bedient sich ihrer lediglich.


In einer strategischen Orientierung ist das große Kapital nicht gegen
das kleine wie das kleine Kapital nicht gegen das große, das Geldkapital
nicht gegen Warenkapital und das Warenkapital nicht gegen das Geldkapital
zu verteidigen. Auch wenn es auf taktischer Ebene aktuelle Nuancierungen
geben muß: Das Kapital ist anzugreifen, wo immer es ist.
Dort, wo die Kritik des heißen Geldes zu keiner des Geldes überhauptwird, dort, wo die Kritik von Zins und Dividende zu keiner Kritik des
Profits aufsteigt und letztlich zu einer des Werts und des Tauschs führen
kann, wird sie allerdings regressiv. Das Gemeine wird im wahr-sten Sinne
des Wortes gemeingefährlich. Jede linke Freude, daß es jetzt – nach
den vielen Jahren ungeschminkter Vorherrschaft neoliberaler Ideologie
– doch endlich zumindest gegen die Spekulanten geht, ist völlig fehl am
Platze.


Jede Marktkalkulation ist eine Spekulation. Bei der Börsenspekulation
ist das nur am meisten einsichtig, weil dort die Verwertung in ihrer
abstraktesten Form (G-G’) auftritt, scheinbar jeder stofflichen Verunreinigung
enthoben. Geld hat den Ballast des Warenkapitals abgeworfen,
arbeitet hier angeblich selbsttätig. Die Perversion des Kapitals zeigt sich
beim reinen Geldgeschäft am deutlichsten. Im Spekulanten erfährt dann
dieses seinen professionellen Sonderstatus. Aber das ist es auch schon.
Alles weitere ist Verdunkelung. Der aktuelle Kampf gegen die Spekulation
ist ein antikapitalistischer Kampf für das Kapital.


Die Börsianer sind nur die überhitzten Rationalisten der großen Irrationalität
des Kapitals. Die Börse ist nicht die inszenierte Böswilligkeit,
die ein an sich gutes marktwirtschaftliches Dasein überwuchert, eine Art
Fremdkörper oder Geschwür, das man einfach abschneiden oder entfernen
könnte, und alles wäre wieder im Lot. Gerade das suggeriert aber
eine Kritik, wie sie heute vom Links-Keynesianismus bis zum Rechtsextremismus
am Neoliberalismus geleistet wird. Das Gefährliche der verkehrten
Argumentation liegt gerade darin, daß sie billige Feindbilder bedient
und einfache Rezepte verspricht. Der Kapitalismus wird gegen die
Kritik immunisiert, indem man bestimmte Kapitalisten zum Abschuß
freigibt. Das ist nichts anderes als der sich abzeichnende Mainstream
vorgibt: »Wir wollen einen Kapitalismus der Unternehmer, nicht der
Spekulanten«, sagte Nicolas Sarkozy am EU-Krisengipfel Anfang Oktober
in Paris.