Strategische Thesen zur Bilanz einer fetischisierten Form
„Die sozialen Errungenschaften haben immer wieder nur ein schon im voraus feststehendes Ergebnis bestätigt und ihre Siege waren immer die der Ware.“
(Raoul Vaneigem, Das Buch der Lüste)
In den folgenden Überlegungen geht es um eine grobe historische Verortung sozialer Bewegungen. Unsere Betrachtungsweise ist eine, die strikt von den Resultaten ausgeht, weniger die propagierten Vorhaben und Selbstbeschreibungen beachtet. Euphorie sollte man sich jedenfalls verbieten, analysieren wir ihre Geschichte und ihre Verlaufsformen etwas nüchterner, als wir es gewohnt sind zu denken. Selbst eingefleischte Kritiker starren auf Bewegungen, freilich immer auf solche, die es nicht gibt.
Bewegungen hinterlassen, hat man zu ihnen kein libidinöses Verhältnis, einen bitteren Beigeschmack. Der hat damit zu tun, dass Wünsche projiziert werden, die sich über jene nicht verwirklichen lassen. Wir dürfen nicht stets von Chancen reden, sondern vor allem auch von ihren Tücken und Ergebnissen. Der Gedanke, der sich aufdrängt, ist der, dass es nötig ist, soziale Bewegungen als Größe der Transformation in Frage zu stellen. Was hiermit auch geschieht.
Avantgarde statt Alternative
Im Kapital offenbart sich eine dynamische Struktur sondergleichen. Als bewusstloses Verhältnis seiner selbst reagiert es auf Anforderungen impulsiv und konvulsiv. Das bürgerliche System muss stets gegen sich selbst revoltieren, um sich zu erneuern. Das tut es nicht in Form von Vorhaben oder gar Verschwörungen, sondern aufgrund seiner Bedingungen und Zwänge. Soziale Bewegungen nehmen in diesem Prozess eine bevorzugte Stellung ein. Bewegung sagt der Struktur, was gut für sie ist. Meist ist jene auch wirklich sensibler, was die unmittelbaren Aufgaben betrifft. Das führt zu Rebellionen gegen Missstände, ohne die Überwindung der Zustände wirklich ins Visier zu bekommen.
Soziale Bewegung ist eine immanente Form kapitalistischer Herrschaft. Ihr Formieren ist Reformieren, das Transformieren ausschließt. Ihre Funktion besteht objektiv darin, gerade durch ihren Widerstand das System auszutarieren. Das kann sie, für nichts anderes taugt sie. Ganz trocken Niklas Luhmann: „Das System immunisiert sich nicht gegen das Nein, sondern mit Hilfe des Neins, es schließt sich nicht gegen Änderungen, sondern mit Hilfe von Forderungen gegen Erstarrung in eingefahrenen, aber nicht mehr umweltadäquaten Verhaltensmustern.“ (Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 507)
So agieren die unstabilen Bewegungen als Stabilisatoren des Systems. Das haben sie zwar nicht vor, aber das stellen sie an. Sie spielen mit, obwohl sie oft das Gegenteil unterstellen. Unter der Hand gerät die praktizierte Kritik zur affirmativen Innovation. Interventionen werden absorbiert. Alles endet im Arrangement, nicht nur, was die Kompromisse betrifft, sondern auch was die Haltung der Bewegten ausmacht. Das ist hier jetzt gar nicht als Vorwurf oder Verrat zu sehen, sondern will lediglich einen nüchternen Blick ermöglichen. Bewegungen bewegen sich letztlich in diesseitigen Schemata, alles andere ist ideologischer Schein. Bewegung meint Avantgarde des bürgerlichen Seins, nicht Alternative. Bewegungen resynthetisieren.
Soziale Bewegung bedeutet Intensivierung, Verdichtung und Beschleunigung der Modernisierung. Sie folgt einem Denken in Defiziten und Komparativen. Bewegung handelt als ein Kollektivsubjekt des Kapitals. Die Aufgabe der Bewegungen besteht auch immer darin, ins politische Geschäft zu kommen und nicht das politische Geschäft zu überwinden. Sie gehorchen der Logik von Staat und Zivilgesellschaft. In diesem Spiel sind sie zu positionieren, nicht gegen es zu transpositionieren. Der Charakter der Bewegung zeigt sich weniger in deren Motiven und Bestrebungen als an ihren Resultaten.
Dosierung und Anschluss
Bewegungen öffnen Ventile, nicht Türen. Heißer Dampf soll kontrolliert entweichen. Die Mentoren der Bewegung und die Polizisten des Staates sind die Kontrolleure der Dosierung. Es ist eine unbewusste Übereinkunft. Bewegungen fungieren als ideologischer Apparat der Macht. Sie klagen ein, was diese verspricht. Sie sprechen also nicht selbst, sie plappern nach. Ihre Rede holt die Leute tatsächlich dort ab, wo sie sind. Sie bestätigt sie, anstatt sie zu belästigen und aufzustacheln. Sie ist anschlussfähig in übelstem Sinne. Kennzeichen der Bewegung ist nicht Reflexion, sondern die Mitgerissenheit, ein Erfasst-Werden, nicht ein Erfassen. Bewegungen sind amorphe Massen, die nichts wissen und nichts wissen wollen, weil sie schon alles zu wissen meinen. Man bedient die gemeinen Vorurteile. Hauptsache Bewegung! Hauptsache es tut sich was! Egal was, Hauptsache!
Bewegung ist Appell und Zuruf, nicht Praxis und Tat. Der Terminus Protest umschreibt das ganz vorzüglich. Nicht wir wollen machen, sondern sie sollen gefälligst tun, ist die Botschaft, die rüberkommt. Staat und Kapital sind ihre Ansprechpartner. Bewegungen sind ganz in der Politik befangen und im Geld sowieso, um das es meist geht. Alle neuzeitlichen Bewegungen sind monetär instruierte oder zumindest tangierte Bewegungen.
In ihrer ganzen Tragweite gilt es zu erfassen, dass wir nicht einfach die Aktivisten sind, sondern vielmehr die Aktivierten. In den Bewegungen werden Betroffene mobilisiert, nicht Bewusste. In Bewegungen setzen zwar Menschen sich in Bewegung, aber eben nicht sich gegen sich in Bewegung. Bewegungen sind ein reaktiver Faktor der Unmittelbarkeit. Sie wollten etwas verhindern oder verbessern. Nicht das Andere ist ihr Vorhaben, sondern stets die Forderung, die sie an die jeweiligen politischen und ökonomischen Verantwortlichen stellen und je nach Stärke auch durchzubringen verstehen. Sie setzen Akzente im Rahmen der Form.
Gerade der suggerierte Radikalismus verschleiert mehr, als er enthüllt. Indes, nur er bewerkstelligt die Entstehung. Würde eine Bewegung zu ihren Höhepunkten sagen, was sie in ihren Anfängen propagiert, würde man sie verlachen; würde sie in ihren Anfängen das sagen, was sie zu ihren Höhepunkten verkündet, käme sie nie in die Gänge. In der Hegel’schen Logik ist dies übrigens im Kapitel über Repulsion und Attraktion recht pointiert beschrieben: „Diese Selbständigkeit ist bestimmter der Irrtum, das als negativ anzusehen und sich gegen das als negativ zu verhalten, was ihr eigenes Wesen ist. (…) Die Versöhnung ist die Anerkennung dessen, gegen welches das negative Verhalten geht, vielmehr als seines Wesens, und ist nur als Ablassen von der Negativität seines Fürsichseins, statt an ihm festzuhalten.“ (G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik I [1812], Werke 5, Frankfurt am Main 1986, S. 192f.)
So paradox es klingt: Um die Konvention zu erneuern, muss die Intervention dezidiert gegen jene verstoßen. Diese Regelverletzung, die keine Regelaußerkraftsetzung ist, ist aber bloß ein temporärer Aspekt, der für die Initiation notwendig ist, in Folge aber der Pragmatisierung weicht. Man könnte das Ganze als eine inverse Verpuppung beschreiben: Was als schöner Schmetterling begann, verwandelt sich in eine hässliche Raupe, die fortan sich in der Politik der kleinen Schritte übt.
Die Radikalität mancher Ansagen sollte also nicht täuschen, diese sind zwar nicht bewusst gesetzt, aber denn doch zur Täuschung da. Diese Täuschung ist aber geradezu Voraussetzung und Bedingung des Handelns, sie ist die bedeutendste dem Subjekt erscheinende Komponente der Mobilisierung. Diese ist nötig, weil Anstoß und Anregung nur tragen, wenn eins sich nicht das zu Erwartende erwartet, sondern mehr. Die Fiktion der Transzendenz ist die Medizin der Immanenz. „Seit der Aufklärung, zu der man als Vorform vielleicht bereits die Reformation rechnen sollte, verständigen sich die Menschen über ihre gesellschaftlichen Interessen mit Hilfe jener Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, zu denen ihnen der unbegriffene Prozess ihrer wertförmigen Vergesellschaftung gerinnen musste. Seitdem hat jede der nacheinander auf die historische Bühne getretenen Bewegungen das gleiche Schauspiel geboten, ideologisch mit zunehmendem Erfolg von der opferfreudigen ‚Prinzipientreue‘ zum gänzlich unheroischen ‚Machbarkeitspragmatismus‘ zu degenerieren.“ (Peter Klein, Demokratie und Sozialismus, Marxistische Kritik Nr. 7 [1989], S. 145)
Auf diesen Umstand hat die österreichische Sozialwissenschaftlerin Rosa Mayreder schon vor fast hundert Jahren hingewiesen. In ihrer schlüssigen Analyse unterscheidet sie zwischen einer ideologischen und einer organisatorischen Phase einer Bewegung. In Letzterer geraten dann die „Ideologen“ und die „Realpolitiker“ – man staune über die Termini – unweigerlich aneinander: „Zu diesen typischen Unvermeidlichkeiten gehört es, dass als nächste Folge der inneren Kämpfe zwischen der ideologischen und der realpolitischen Richtung Risse und Spaltungen der in ihrer ideologischen Phase noch ganz einheitlichen Gruppe entstehen. (...) Nunmehr, da der Druck von außen nachlässt, gewinnen die realpolitischen Motive immer mehr an Gewicht über die ideologischen. Das unbeugsame Festhalten an den ideologischen Forderungen erscheint dem realpolitisch orientierten Tatmenschen als weltfremde Einsichtslosigkeit, indes der ideologisch orientierte Prinzipienmensch jede Nachgiebigkeit gegenüber den herrschenden Zuständen als verderblichen Opportunismus auffasst.“ (Rosa Mayreder, Der typische Verlauf sozialer Bewegungen, Wien – Leipzig, 2., verbesserte Auflage 1925, S. 26)
Wert und Spektakel
Scheinbar gibt es kein Anliegen mehr, das ohne Symbolik auskommt. Die Ästhetisierung des Widerstands ist obligat, denn nur mit ihr erzielt man entsprechende politische Resonanz. Es geht um Codes und um Rituale, vor allem aber um Performance und Show. Die Inszenierung ist unhintergehbares Gebot. Keins ist seins ohne Selbstdarstellung. Attraktivität ist nicht die Konsequenz eines profanen Gefallens, sondern einer normierten und nominierten Gefälligkeit. Jede Bewegung spricht die Sprache des Spektakels. Es ist die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Georg Franck), die hier bedient wird und die, ganz im Rahmen der Politik verbleibend, Lösungen vorschlägt.
Auch die Kunst der Provokation ist eine Variante kulturindustrieller Dramaturgie. Sie sucht nach einem Event, um Beachtung zu erheischen. Die Formen politischen Widerstands werden immer origineller und eventueller, die Inhalte jedoch sind dürftig, selbst wenn die direkte Aktion den obligaten Protest abgelöst hat. Über das ewige Gesuder von Freiheit und Gerechtigkeit reichen die Basics kaum noch irgendwo hinaus. Man spricht eine Sprache, die nichts anderes verspricht als das, was sowieso versprochen wird. Die zeitgenössischen Initiativen von Attac bis Occupy sind ein matter Abklatsch einstiger Hochzeiten, ebenso die weltweiten „Demokratiebewegungen“, die allesamt im gängigen Horizont befangen sind. Einmal mehr möchte man Demokratie und Politik „neu erfinden“. Jetzt aber wirklich und echt noch dazu.
Unablässig werden sie ab- und angerufen, als Vorlagen der Einmischung gelten nur sie: die bürgerlichen Werte. Die Bewegung rüttelt also nicht an dem, woran sie sich reibt. Während Herrschaft mitunter auch ein zynisch-ehrliches Verhältnis zu den Werten pflegt, haben Bewegungen ein idealistisch-verklärtes. Sie werten die Werte immer wieder auf. Jede Bewegung eine Aufwertungsbewegung. Nichts Besseres kann dem System passieren, als dass sich die Bewegungsleute an die Werte der Herrschaft klammern, wenn sie an Demokratie und Politik, an Freiheit und Gleichheit, an Gerechtigkeit und Menschenrechte, an Sozialstaat und Rechtsstaat glauben. Permanent fordern sie das Versprechen ein und beharren trotzig auf dem ideologischen Schein. Die Monstranzen der Aufklärung gelten als Insignien der Andacht. In den Bewegungen herrscht geradezu eine inbrünstige Bejahung der Werte und des ihm zugrunde liegenden Werts. Anstatt die bürgerliche Welt zu entzaubern, besingen sie den bürgerlichen Himmel. Bewegungen sind Chöre der Affirmation.
Das Spektakel ist durch Bewegungen nicht zu durchbrechen. Bewegungen sind dem System verpflichtet, das sie hervorbringt und zu dem sie zurückmüssen. „Sie sind hiermit ihrem Sein und Setzen nach nur eine affirmative Einheit.“ Und Hegel eine Seite weiter: „Das negative Verhalten der Eins zueinander ist somit nur ein Mit-sich-Zusammengehen.“ (G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 192) Bewegungen sind Repulsion und Attraktion in einem. Bewegung wirkt nicht als Lösung, sondern als Schwingung. Ausgangs- und Zielort sind gleich, substanziell verändert sich nichts. Bewegung ist eine Projektion, die unsere Lüste in die falsche Richtung leitet. Wir nehmen uns in ihr als autonom und mündig wahr und werden doch bloß engagiert.
Aufstand statt Widerstand
Stefan Meretz schreibt: „Die Linke hingegen ist im ‚Widerstandsmodus‘ befangen und versteht nicht, dass sich Widerstand an die Formen des Alten kettet und nicht von diesen abhebt: Zu widerstehen bedeutet ‚nur‘, unter Bedingungen der zunehmenden Barbarisierung die eigenen Lebensbedürfnisse immanent zur Geltung zu bringen. Eine Widerstandsbewegung kann die Barbarisierung als Ausdruck der objektiven Krisenentfaltung der Warengesellschaft nur bremsen und partiell aufhalten, sie kann ihr aber noch nicht einmal denkend etwas Neues entgegensetzen. Denn das scheint mir klar: Das Neue ist nicht nur einfach das Nicht-Alte. Ein Neues wird sich nur durchsetzen, wenn es die Lebensbedürfnisse der Menschen besser als das Alte erfüllen kann. Danach ist zu suchen.“ (Wikipedia in der Krise, Streifzüge 36/2006, S. 35)
Nicht bloß auch, sondern gerade im Widerstand verwirklicht der aufgeklärte Bürger seine Pflicht am Staat. Politischer Widerstand drückt gegen das, was gegen einen drückt. Er ist Reaktion, ein Dagegenhalten, nicht mehr. Widerstand richtet sich nicht gegen das unbekömmliche Spiel, im Gegenteil, man will sich besser im Spiel positionieren. Was als unmittelbare Notwendigkeit sich aufdrängt, wird zu einer Falle, weil durch die tätige Affirmation der Form die generelle Destruktivität theoretisch unbegriffen und praktisch unangegriffen bleibt. Widerstand teilt die Voraussetzungen seiner Auseinandersetzung als eherne Bedingungen.
Einmal mehr geht es um ein Interesse in und nicht um eine Alternative zum. Interesse und Alternative kollidieren. Das Interesse hat ein Interesse, als Interesse aufrechterhalten zu bleiben. Der Kommunismus hat demgegenüber das Anliegen, Interessen als gesellschaftliches Zwangsverhalten zu überwinden und die sich nun entwickelnden individuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Auf keinen Fall dient er bestimmten Subjekten oder Klassen!
Das Neue muss geschaffen werden, es entsteht nicht im Widerstand, sondern in der Hinwegsetzung, im praktischen Aufstand. Wobei der keineswegs militant zu denken ist, aber doch in aller Deutlichkeit die Gemeinsamkeiten (vor allem Demokratie, Recht und Aufklärung) mit der Herrschaft zu kündigen hat, will er sich als Alternative überhaupt inaugurieren. Nicht Widerstand ist angesagt, sondern Aufstand. Nicht: Wir wollen uns das nicht gefallen lassen, sondern: Wir wollen anstellen, was uns gefällt. Widerstand meint Reaktion, Aufstand meint Aktion! Es ist also der Versuch, den Appell und die Forderung durch Ermächtigung und Initiative zu überwinden.
Widerstand bleibt in der Form, die ihn hervorbringt, fest eingebunden, Aufstand ist der Versuch der Befreiung von ihr. Der Aufstand ist eine enorme Setzung, die jenseits konventioneller Kriterien liegt. Widerstand ist defensiv, Aufstand ist offensiv. Und dieser Aufstand ist überall zu Hause; in Fabrik und Büro, im Schlafzimmer und in der Küche, auf den Straßen und Plätzen, in Medien und Institutionen, in Sprache und Musik. Aufstand heißt sich ständig selbst in die Hand zu nehmen, Unmündigkeit und Hörigkeit zu erkennen und sie verlassen zu wollen. Er kann sich täglich ausdrücken, erproben und akzentuieren. In jeder einzelnen Situation des Lebens können wir wollen – trotz aller Zwänge! Im Widerstand hingegen wird lediglich die gesellschaftliche Rolle wahrgenommen, nicht diese selbst in Frage gestellt.
Der Aufstand soll natürlich nicht als Akt der Machtübernahme verstanden werden, sondern als Werk der Selbsterhebung. Improvisationen und Experimente erzeugen Situationen, die spüren lassen und zeigen, dass es anders ginge, dass das gute Leben keine Utopie ist, sondern geschaffen werden kann. Hier und jetzt und morgen noch viel mehr. Dafür muss man sich freilich auch einiges abgewöhnen. Selbstbehauptung ohne Selbstkritik ist reine Affirmation. Man bringt dann bloß seine Stellung in Stellung. Indes, die Aufgabe, alle Prozesse und Handlungen zu reflektieren, ist leichter postuliert als realisiert. Das Gros der Menschen kommt nämlich kaum über die existenzielle Sicherung hinaus. In sie fließen fast alle Energien. Und die noch übrig sind, verlieren sich in Erholung und Unterhaltung, was man den einzelnen Subjekten auch nicht verübeln kann. Natürlich setzt damit eine Routine ein, die stets das bestätigt, was ist, und somit jede Lust am Können an der Sorge um das Dasein scheitern lassen will.
Organisation und Bewegung
Bewegungen sind ein Faktor der Diskontinuität. Daher war auch der Drang, sich separat, also über sie hinaus zu institutionalisieren, stark ausgeprägt. Insbesondere in der Arbeiterbewegung strebte man rasch zur Etablierung von Organisationen: Parteien, Gewerkschaften, Bildungsvereinen, Krankenkassen, Pensionsversicherungen. Man traute seiner Bewegung nicht allzuviel zu. Zu Recht. Bewegungen gleichen nicht unschuldigen Kindern, die von falschen Führern verführt und verraten wurden. Die Organisation ist ja aus den Schwächen der Bewegung erwachsen. Zu nennen wären da die hohe Fluktuation, der Mangel an Verlässlichkeit und Verbindlichkeit, an Kontinuität und Seriosität, an Transparenz und Kontingenz, weiters die Problematik informeller Strukturen und die Skepsis gegenüber der Spontaneität und Selbsttätigkeit der Massen. Bewegungen mögen zwar stabilisieren, aber sie selbst sind alles andere als stabil. Organisationen wiederum haben den Nachteil, dass sie Bürokratien mit sehr egoistischen Sonderinteressen herausbilden. Immer wieder kommt es daher zu Verzögerungen aufgrund interner Logiken und Abläufe.
Vorzüge der Bewegungen liegen somit auch in ihrer Flexibilität, deren Unmittelbarkeit und Unbekümmertheit ist Folge davon, dass sie eben keine festen Apparate und Hierarchien mit sich herumschleppen. Sie sind rascher, vor allem auch rascher zu handhaben. Bewegungen verdeutlichen Beschleunigungen. Dort, wo der Kapitalismus nie Ruhe gibt und von einer ungemeinen Mobilmachung ergriffen ist, dort setzen die Bewegungen partout noch eins drauf. Gerade das Kapital ist ja die Bewegung par excellence. Unter deren Herrschaft soll alles den Charakter der Ware annehmen, mithin zur Gallerte des Werts werden. Bewegung wird buchstäblich eingefordert. Still sitzen und Ruhe geben ist nicht, Beschäftigung und Engagement sind angesagt.
Doch auch die Beschleunigung ist in die Tage gekommen. Wie vieles andere steckt sie inzwischen im Stau. So tritt auch der kaum noch an die großen Zeiten der Reform erinnernde konservative Gehalt in den Appellen deutlicher hervor. Slogans wie „Hände weg“ oder „Nein zu“ demonstrieren, dass man schon zufrieden wäre, bliebe es so, wie es ist. Man orientiert sich weniger an irgendwelchen Zielen als am Status quo. Bewegungen kommen so nicht nur zum Stillstand, sie fordern ihn gar ein. Am deutlichsten zeigt sich das übrigens bei den Resten der Arbeiterbewegung, die heute bloß noch das Gestern gegen das Morgen verteidigen wollen, weil sie keine Perspektive mehr haben.
Jenseits der Bewegung
Der ewige, explizite wie implizite Rekurs auf die Bewegungslinke, dass sie doch gefälligst tun sollte, führt nicht weiter. Sie kann nicht. Das hält nur auf. Die Bewegung ist Teil des Systems, nicht Gegenteil. Widerstand funktioniert immanent, nicht transzendent. Bewegungen schleppen nicht Schlacken der Bürgerlichkeit mit sich, sondern sie sind bürgerliche Schlacken. Bewegungen scheitern lediglich an Zielen, die sie objektiv gar nicht haben können, nicht jedoch an denen, für die sie eingerichtet sind. Transvolution (den Begriff ziehen wir der Revolution eindeutig vor) ist jenseits der Bewegung.
Mit den Bewegungen geht es zu Ende. Nicht bloß der Traditionsmarxismus ist tot, auch die gesamte Bewegungslinke liegt im Sterben. Anstatt sich als Totengräber des Kapitalismus zu erweisen, war sie vielmehr Arzt. Wenn die letztjährigen Aktivitäten tatsächlich unter dem Titel „Bewegung für globale Gerechtigkeit“ (Global justice movement) einer „Gegenmacht“ (David Graeber, Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum kapitalistischen System. Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Behringer, München 2011, S. 12) firmieren, dann belegen diese Formeln, was hier einmal mehr aufgeführt wird. Es ist die alte Litanei.
Die Muster diverser Interventionen und Motivationen werden immer flacher. Gegenwärtig sind wir bei Konglomeraten angelangt, die nicht einmal mehr im Ansatz über die herrschende Ideologie hinausreichen wollen. „Demokratie jetzt!“ oder „Geld ist genug da!“ sind absurde Slogans, die einem nur einfallen können, wenn einem nichts mehr einfällt. „Ich persönlich halte die soziale Marktwirtschaft für einen guten Kompromiss“, sagt etwa Erik Buhn von Occupy Frankfurt. (Spiegel 18/2012) Eigentlich ist es unverständlich, was solche Leute von einer Karriere in SPD oder Grünen abhält. Aber vielleicht greifen wir da sowieso der Zukunft voraus. Zwischenzeitlich könnten sie es auch noch bei den Piraten probieren.
Jeder Traum scheint endgültig verloren gegangen zu sein. Es gibt nichts mehr zu träumen. Die Bewegungen verkommen zusehends auf das Niveau von Bürgerinitiativen. Zunehmend tragen sie diese Bezeichnung auch in ihrem Titel, ohne das Regressive dieser Form(ulierung) in Ansätzen zu reflektieren. Diese Namensgebung ist nicht zufällig, sondern offenbart den insistierenden Charakter auf geradezu penetrante Weise: Bürgerinitiativen und Bürgerrechtsbewegungen sind Initiativen des Bürgerlichen. (Zur Typologie der Bürgerinitiativen, siehe: Franz Schandl/Gerhard Schattauer, Die Grünen in Österreich. Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft, Wien 1996, S. 81ff., bzw. Streifzüge 4/1999, S. 14f.)
Ein Fetisch mehr ist zu verabschieden. Transvolution ist Antibewegung. Antibewegung könnte bedeuten, sich der vorerst schwierigen Aufgabe zu stellen, sich nicht in und nicht nach den vorgesetzten Bewegungsgesetzen zu bewegen. Und wo es dennoch geschieht, nichts anderes zu behaupten, sondern es unbedingt so zu benennen. Wir raten ja von keinem Engagement ab, wir geben allerdings zu bedenken, dass das Wirkungsfeld von Bewegungen keines ist, das über die gegebene Struktur hinausführt. Denn die Bewegungsgesetze der Bewegungen sind die Bewegungsgesetze des Kapitals. Jene mögen nicht in diesen aufgehen, aber sie vermögen auch nicht über sie hinaus zu gehen.
Für die Transposition des Elementaren steht keine Partei, keine Klasse, kein Subjekt und keine Bewegung zur Verfügung. Einzig die massive wie massierte Negation der eigenen Charaktermasken kann die Voraussetzungen schaffen: Wir wollen nicht die sein, zu denen wir gezwungen werden. Es geht nicht um eine einfache Ablöse, sondern um einen Prozess der Ablösung, der überall und nirgends stattfinden kann. Selbstermächtigung heißt also nicht: Wir wollen wir sein, sondern Wir wollen wir werden. Jene erfüllt also keine Tatsache als tätiges Bekenntnis, sondern lehnt sich akkurat wie praktisch gegen die eigene Konstitution auf. Die Transformation der bürgerlichen Gesellschaft wird sich außerhalb antiquierter Muster vollziehen.
Da wir an einem Ende stehen, stehen wir auch an einem Anfang. Wir sollten diesen nicht übersehen und als Opposition gleich Kapital und Staat weiterhin die von der Krise geschüttelte Gesellschaft simulieren.