Business as usual

Wie uns die Finanzkrise erklärt wird

Seit über einem Jahr herrscht Krise an den Finanzmärkten. Das fordert die professionellen BeobachterInnen des Geschehens heraus. Sie sehen etwas im Gange, das eigentlich nicht sein kann, nicht sein darf. Also machen sie sich daran, die Krise zu erklären - sich selber und dem staunenden Publikum. Es soll lernen, dass die gigantische Wertvernichtung mit Marktwirtschaft eigentlich nichts zu tun hat, dass die Politik es schon richten wird und dass es auf die Milliarden, mit denen die Banken derzeit gerettet werden, keinen Anspruch hat.

Seit Monaten erhalten ZeitungsleserInnen und FernsehzuschauerInnen Schreckensmeldungen aus einer Sphäre, die sie sonst nichts angeht, über die sie sich jetzt aber Sorgen machen sollen: die Finanzmärkte. Dort herrscht Krise, Milliarden lösen sich in Luft auf. (1) Was ist passiert?

Banken in den USA haben Kredite an Menschen vergeben, die sich Häuser bauen oder kaufen wollten. Für den Kredit müssen die Schuldner Zinsen an die Banken zahlen. So weit so gut. Doch haben sich die Banken nicht damit begnügt, den Zins für die Hypothekenkredite zu kassieren, sondern haben die Ansprüche auf Zinszahlungen "kapitalisiert". Das heißt: Sie haben aus dem Rechtsanspruch auf Zinszahlung, auf die erwarteten Einnahmen ein Papier gemacht. Wem das Papier gehört, der erhält das Recht auf Zinsen plus Kreditrückzahlung. Dadurch erhält das Papier einen Wert, es wird zum Wertpapier, das die Bank verkaufen kann. Die Schaffung derartigen "fiktiven Kapitals" gehört zum Alltagsgeschäft von Banken. (2)

Diese Hypothekenwertpapiere - an den Weltfinanzmärkten zu großen Summen gehandelt - haben jedoch einen Haken: Ihr aktueller Wert beruht auf künftigen Zinszahlungen. Treten die nicht ein, so verlieren sie an Wert.

Als die Immobilienpreise in den USA fielen und die Zinsen stiegen, konnten immer mehr HypothekenschuldnerInnen ihre Kredite nicht mehr bedienen. Zwar betraf dies nur einen kleinen Teil aller KreditnehmerInnen. Dennoch wurde mit ihrer Pleite der Wert der Hypothekenpapiere prinzipiell fragwürdig. Wer sie besaß, geriet in Misskredit und musste daher höhere Zinsen zahlen, um selber Kredit aufnehmen zu können.

Es kam ein ganzes Geschäftsmodell der Banken ins Rutschen - das Modell, zu niedrigem Zins Geld zu borgen, mit diesem Geld Hypothekenpapiere mit höherem Zins zu kaufen und die Differenz als Gewinn einzustreichen. Banken gerieten daher in Bedrängnis und mussten Wertpapiere notverkaufen, was deren Wert weiter drückte. Dies verschlimmerte weiter die Lage der Banken und so weiter. Mit ihrem Misstrauen untereinander bescheinigen sich die Banken, dass sie nicht mehr an ihre Fähigkeit glauben, aus erwarteten Zahlungen fiktives Kapital zu schaffen. Damit bröckelt der Grundpfeiler des Finanzsystems.

Eine Spekulationskrise - nur mit ungewöhnlichem Ausmaß

Inzwischen hat sich das Misstrauen unter den Banken so weit ausgebreitet, dass sie einander kaum noch Geld leihen - und das ist tödlich für die Kreditwirtschaft, deren Geschäft es ist, mit geliehenem Geld Geschäfte zu machen. Banken haben jetzt Zahlungsverpflichtungen, kommen aber nicht an Geld, um diese zu begleichen. Also springt der Staat ein, vergibt Kredite, kauft Banken, schießt ihnen Milliarden zu und ersetzt so das Vertrauen in die Funktionsweise der Märkte durch das Vertrauen in die Staatsmacht. Inzwischen hängt das Weltfinanzsystem an einem 700-Milliarden-Dollar-Rettungspaket der US-Regierung, und auch in Europa springen die Staaten mit Steuergeldern für geplatzte Kredite ein.

Von daher handelt es sich um eine normale Spekulationskrise. Nur ihr Ausmaß ist ungewöhnlich. Das Publikum wundert sich über die gigantischen Summen, die sich da auflösen und die die SteuerzahlerInnen jetzt für die Rettung der Banken ausgeben sollen. Es entsteht Erklärungsbedarf, den der wirtschaftswissenschaftliche Sachverstand zu decken sich anschickt. Als Ursache des Elends findet er Verfehlungen, Unvernunft, Missmanagement. Hier eine kleine Liste gängiger Erklärungen, die zwar wenig erklären, aber einiges leisten.

Gier und Größenwahn: "Die Chronik der Krise gleicht einer Saga aus Gier und Größenwahn", hat der Stern herausgefunden (Stern, 40/2008), die BankerInnen hätten einen "schier unerschöpflichen Glauben an die eigenen Fähigkeiten". Das mag schon so sein - aber worüber wird sich hier beschwert? Mit dem Vorwurf "Gier" soll weder die Risikobereitschaft von UnternehmerInnen, noch ihr Gewinnstreben prinzipiell kritisiert sein. Hier trennen die KritikerInnen streng zwischen angemessenem und irgendwie übertriebenem Gewinnstreben.

Erklärungen, die wenig erklären, aber einiges leisten

Wo die Grenze zwischen beiden verläuft, vermögen sie nicht zu sagen. Aber das stört sie nicht. Wissen sie doch, dass unternehmerisches Gewinnstreben gut ist und zu Wohlstand führt. Im Umkehrschluss wissen sie damit auch: Wenn die Sache schief läuft, dann war wohl "Gier" am Werk gewesen. Der "Gier"-Vorwurf mündet stets in das Loblied auf den "ehrbaren Kaufmann", der mit "pedantisch-tugendhafter Ehrbarkeit" (Süddeutsche Zeitung, 23.9.08) eine angemessene Rendite aus den Lohnabhängigen herausholt.

Auch die Allianz Global Investors KAG sieht Irrationalität am Werk und fragt sich bang: "Kehrt die Vernunft an die Kapitalmärkte zurück?" (Pressemitteilung 1.10.08) Damit stellt sich selbst der größte Finanzinvestor Deutschlands ignorant gegenüber der Tatsache, dass sich mit den Milliardenverlusten genau die herrschende Vernunft die Bahn bricht. Denn wer Papiere verkauft, weil er fürchtet, ihr Wert könnte fallen, der ist nicht irre, sondern agiert gemäß den Regeln des Marktes.

Doch statt dies einzusehen, wird über "Marktversagen" geklagt: "Die Märkte haben kläglich versagt", so die Mitteldeutsche Zeitung in Halle. Aus ihrer Sicht ist das Desaster nicht logische Folge der Funktionsweise von Märkten, sondern Folge ihres Nicht-Funktionierens, ihrer Störung. Auch dies ist eine gängige Weise, den Nutzen von Märkten selbst im Moment der Katastrophe zu behaupten und die Marktwirtschaft vor ihren Resultaten in Schutz zu nehmen.

Missmanagement: Vielfach wird die Ursache der Krise in der Unprofessionalität der Bankvorstände lokalisiert. Sie hätten ihre Geschäfte nicht mehr verstanden, aber dennoch investiert, "ohne auf die Risiken zu achten" (SZ, 23.9.08) - ein Vorwurf, der weder zu widerlegen noch zu beweisen ist. Um Managerschelte zu betreiben, müssen die KritikerInnen die komplizierten Finanzgeschäfte auch nicht verstanden haben. Sie schließen sie schlicht vom Ergebnis auf Fehlverhalten: Eine Bank kracht, also waren die Entscheidungen der Verantwortlichen lauter Fehlentscheidungen, ihr Wissen über das Finanzgeschäft war Unwissen und ihre Risikokalkulation war reine Unvorsichtigkeit. Beweis: Hätte das Management "weitsichtig" gehandelt, hätte es sein Geschäft verstanden und das Risiko richtig berechnet, dann wäre die Bank ja nicht pleite.

Hinter derartigen Erklärungen steht die Idee, der Erfolg eines Unternehmens in der kapitalistischen Konkurrenz sei eine Frage der "richtigen" Geschäftsstrategie von "weitsichtigen" ManagerInnen. Milliardenverluste sind damit nie normales Ergebnis des Kapitalismus, sondern Folge individueller Fehler. Der Verweis auf "Nieten in Nadelstreifen" erhält die Kontrollillusion aufrecht - die Illusion, Erfolg in der Konkurrenz sei letztlich lediglich eine Frage der "richtigen" Methode, so als handelte es sich beim Kapitalismus um eine Planwirtschaft, in der die Ergebnisse des Wirtschaftens im Voraus berechnet werden könnten. Damit bleibt den Manager-KritikerInnen die Erkenntnis erspart, dass in der Marktwirtschaft die Menschheit ihr Wohl nicht in der Hand hält, sondern an den Konjunkturen des Kapitals hängt.

Mangelnde Transparenz: Das Ideal der Berechenbarkeit der kapitalistischen Konkurrenz steht auch hinter der Forderung nach mehr "Transparenz" an den Finanzmärkten. Ursache der Krise sei die Intransparenz der Märkte, heißt es, die GeldhändlerInnen hätten daher "die Übersicht verloren" (Stern 40/2008). Doch was heißt "Transparenz"? Letztlich nur, dass jedeR SpekulantIn weiß, was die anderen so treiben. Wer Transparenz für die Lösung hält, der glaubt also, dass die Spekulation aufgeht, wenn der Spekulant nur weiß, worauf die anderen spekulieren.

Casino: Gerade in linksliberalen Kreisen beklagt man gern, die Finanzmärkte seien zu einem "Börsen-Casino" (Spiegel 30/2008) geworden, die Banker "sind zu Zockern geworden, dem Rausch nah" (Stern 40/2008). Auch hier wird unterschieden zwischen einer soliden Investition und der haltlosen Spekulation - eine Unterscheidung, die nicht zu treffen ist. Denn jede Investition ist Spekulation auf einen künftigen Geldertrag. Und auch hier funktioniert der Befund durch einen Rückschluss: Wenn ein Geschäft platzt, dann hat es sich wohl um eine haltlose Spekulation gehandelt - sonst wäre es ja nicht geplatzt.

Zudem steht hinter dem Casino-Vorwurf die Idee, Banken sollten nicht mit Wertpapieren herumhandeln, sondern dienten im Grunde der Gesellschaft: Aufgabe der Bank sei es, Unternehmen mit Kredit zu versorgen, damit diese Güter herstellen oder Arbeitsplätze schaffen; oder den KonsumentInnen Geld zu leihen, damit die sich Häuser und Autos kaufen können. Wer so denkt, der trennt das Bankgeschäft in zwei Sphären: eine gute, investive, "deutsche" Sphäre, die sicher und volkswirtschaftlich nützlich sein soll; und eine böse, spekulative, "angelsächsische" Sphäre, die gefährlich und unnütz ist. In der Realität sind beide Sphären zwar nicht zu trennen. Mit ihrer ideellen Unterscheidung aber bewahrt man den Glauben an ein solides, nützliches Finanzkapital.

Zu wenig Staat: All die Horrorstories vom Treiben der Finanzmärkte, all die Geschichten von Gier, Casino und Unvernunft sollen aber keine prinzipiellen Argumente gegen die Kreditwirtschaft sein, sondern ein Appell an den Staat: Er habe sich zu lange aus dem Finanzgeschäft herausgehalten, die Krise sei letztlich ein Ergebnis mangelnder Regulation. Dahinter steht die Annahme, mit "richtigen" Regeln könnten krisenfreie Finanzmärkte per Gesetz verordnet werden. (3)

Der Vorwurf fehlender Regulation führt in die Irre

Einerseits ist das Argument banal: Hätte der Staat die Geschäfte, die jetzt geplatzt sind, zuvor verboten, hätte es diese Krise nicht gegeben. Daneben aber führt der Vorwurf der fehlenden Regulation in die Irre. Denn er übersieht das ausgedehnte Regelwerk, mit dem der Staat die Finanzsphäre bereits regelt. Dass die Politik den Finanzmärkten per Liberalisierung jede Menge Freiheit der Spekulation eingeräumt hat bedeutet nicht, sie hätte sich um diese Sphäre nicht gekümmert. Die Staatsorgane waren nicht abwesend, sondern wollten dem Finanzkapital am Standort Deutschland jede Freiheit einräumen, Profit zu machen. Die Freiheit der Finanzmärkte ist somit kein Versäumnis der Politik, sondern ihre Absicht. Angesichts der Krise wird diese Entscheidung der Politik nun umgelogen in eine Untätigkeit.

So soll das Publikum sich die Krise erklären: An den Finanzmärkten sind zwar lauter Verrückte unterwegs, die ein fragiles System geschaffen haben. Da dieses System aber prinzipiell in Ordnung ist, soll der Staat es durch Regelwerke wieder stabil machen. Darauf sollen sich die BürgerInnen verlassen - und nicht auf die Idee verfallen, das herrschende System anzuzweifeln oder die Steuergelder zu verweigern, mit denen die Banken jetzt gerettet werden. Die Gewerkschaften mögen sich zwar beschweren, dass für die Kreditwirtschaft Milliarden locker gemacht werden, für die Lohnabhängigen jedoch nicht. Dies aber kontert der ökonomische Sachverstand mit der Warnung: Wenn die Spekulanten untergehen, gehen wir alle mit unter.

So werden die Horrorgeschichten von den Finanzmärkten ergänzt um den Hinweis, dass wir alle von ihnen abhängen und das auch so bleiben soll. Denn ein weltmarktfähiger kapitalistischer Standort braucht Kredit und daher florierende Finanzmärkte. Von daher gilt: Wer über den Irrsinn des Kapitalismus nicht reden will, sollte über den Irrsinn kapitalistischer Finanzmärkte schweigen.

Anna Blume, Nick Sinakusch

Anmerkungen:

1) Ein Überblick über die Krise findet sich in: http://wipo.verdi.de/wirtschaftspolitische_informationen/data/08-03_finanzmarktkrise.pdf. Eine genauere Analyse liefert der Gegenstandpunkt 3-07: "Anmerkungen zu einer Finanzkrise der ganz modernen Art"

2) Auch Anleihen oder Aktien sind letztlich nichts anderes als kapitalisierte, also zu einem Wert hochgerechnete Ansprüche auf künftige Zins-/Dividendenzahlungen.

3) Dass dies möglich ist, bezweifelt selbst der Bundesverband Deutscher Banken, ein zweckbedingt optimistischer Verein. Die jüngsten Vorschläge der EU-Kommission zur Finanzmarktregulation hält er einerseits für viel zu streng; andererseits seien "die vorgeschlagenen Regeln ... in Summe geeignet, auch das Risiko zukünftiger Finanzmarktkrisen zu begrenzen". (Pressemitteilung 41/2008). Mehr als "Risiko begrenzen" ist also nicht drin.

aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 532/17.10.2008