Wirtschaft & Soziales Über den Stand der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP
Mit der geplanten Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft TTIP zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten soll die größte Freihandelszone der Welt entstehen: ein gemeinsamer Wirtschaftsraum für mehr als 800 Millionen Verbraucher_innen. Beide Seiten erwirtschaften rund 46 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Inzwischen ging im Juli die 10. Verhandlungsrunde zu Ende. Es wird momentan davon ausgegangen, dass das Abkommen nicht vor 2017 abgeschlossen wird. Von einem »Staatsstreich der Konzerne« spricht Thilo Bode, Gründer der NGO Foodwatch. »TTIP festigt die Macht der Konzerne über unsere Wirtschaft, das Ernährungssystem und die Umwelt«, sagt Karen Hansen-Kuhn, Direktorin für Internationale Strategien am Institut für Landwirtschaft und Handelspolitik in Washington.
Durch zahlreiche geleakte Informationen und eine Kampagne, die beide Verhandlungsseiten gezwungen hat, der Öffentlichkeit zumindest partiell Zugang zu gewähren, wird häppchenweise deutlich, welchen Umfang das Abkommen haben wird. Dabei geht es einerseits um Veränderungen, die Verbraucher_innen auf beiden Seiten des Atlantiks direkt betreffen werden. Andererseits ist TTIP der Versuch, die Macht der Konzerne gegenüber Regierungen, Parlamenten und außerparlamentarischer Opposition zu manifestieren.
Am Parlament vorbei
Die immer breiter werdende Protestbewegung hatte sich zunächst auf die Auswirkungen im Alltag fokussiert: Chlorhähnchen und Hormonfleisch in Europa, Zugang zum europäischen Markt für gentechnisch veränderte Produkte, unter anderem, weil es in den USA keine Kennzeichnungspflicht gibt. Zudem wird Gentechnikregulierung in den Abkommen ausschließlich als Handelshemmnis betrachtet, das es abzubauen gilt. Nachteile werden auch im Gesundheitsbereich befürchtet: Eigentlich sollten ab 2016 zwingend alle - auch negative - pharmazeutische Studien öffentlich gemacht werden. Doch nach US-Recht hat die Wahrung von »Geschäftsgeheimnissen« Vorrang. Die Liste möglicher Handelshemmnisse ist lang, über das Stichwort »Regulatorische Kooperation« könnte zukünftig eine Angleichung der Standards sichergestellt werden. Diese Herzensangelegenheit der Industrie wurde bereits in mehreren Verhandlungsrunden angesprochen. Der bisherige, geleakte Vorschlag sieht einen mit Experten besetzten »Regulierungsrat« vor, der »Empfehlungen« bei Gesetzesänderungen an die Parlamente gibt. Die Umsetzung würde auf eine Außerkraftsetzung parlamentarischer Verfahren zugunsten großer Konzerne hinauslaufen.
Ebenfalls in das Kapitel »Außer-Kraft-Setzen« demokratischer Prinzipien gehören die geplanten Investor-Staat-Gerichte (ISDS). Dieses bewährte Instrument ermöglicht bisher auf Ebene der Welthandelsorganisation WTO Prozesse gegen Staaten im Hinterzimmer: Das Privileg zu klagen haben nur Konzerne, die ihre Investitionen in Gefahr sehen. Die Anzahl dieser Schiedsverfahren ist in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. Gemaß Angaben der Vereinten Nationen dürfte die Zahl um die 650 liegen. Nach Protesten in der EU wurde dieser Punkt zunächst ausgesetzt, auch wenn die USA bereits angekündigt haben, dass sie darauf nicht verzichten werden. Von Seiten der EU hat Handelskommissarin Cecile Malmström eine Reform vorgeschlagen: Demnach sollen sich beide Seiten auf eine Liste zugelassener Schiedsrichter_innen einigen. Sie sollen Qualifikationen aufweisen, die auch von Richter_innen ihres jeweiligen Heimatlandes verlangt werden. Zudem soll es ähnlich dem WTO-Verfahren Möglichkeiten zur Berufung geben. An dem Klageprivileg rüttelt dieser Vorschlag jedoch nicht, der Einschüchterungseffekt auf Parlamente oder Regierungen bleibt bestehen. Zudem will die EU-Kommission ausdrucklich nicht die Investitionskapitel und die ISDS-Bestimmungen in dem bereits verhandelten Abkommen mit Kanada (CETA) andern. Sollte CETA also ratifiziert werden, ändert sich wenig: Nahezu alle großen US-Unternehmen sind mit erheblichen Aktivitaten in Kanada vertreten und konnen damit das CETA-Abkommen fur ihre Zwecke nutzen.
Dieses neue Netz bilateraler Handelsverträge ist jedoch nicht nur »Ausdruck der globalen Durchsetzung der konzernbasierten Ökonomie«, wie Helmut Scholz, LINKEN-Abgeordneter im Europäischen Parlament, zu bedenken gibt. Die EU-basierten Konzerne sind auf der Suche nach neuen Absatzmärkten. Nach mehr als 50 Jahren haben die USA im August 2015 Frankreich als wichtigsten Absatzmarkt für Waren aus Deutschland abgelöst, die deutsche Industrie hofft auf immense Profite.
Gleichzeitig sind die neuen Freihandelsabkommen (die USA verhandeln auch mit den pazifischen Staaten) Ausdruck des Scheitern der WTO-Verhandlungen, der sogenannten Doha-Runde. Vor allem die Staaten in Asien und der Pazifik-Region verhandeln zurzeit untereinander eine Vielzahl von Freihandelsabkommen und regionalen Zusammenschlüssen. Dazu zählen die Transpazifische Partnerschaft (TPP) und eine Reihe von bilateralen Abkommen zwischen dem Verband Südostasiatischer Staaten (ASEAN) China, Japan, Australien, Neuseeland, Südkorea und Indien. Vor diesem Hintergrund ist TTIP für die EU umso wichtiger. Gleichzeitig gehen die bilateralen Investitionsabkommen weit über den WTO-Rahmen hinaus: Liberalisierung des Warenhandels, Marktzugang beim Dienstleistungshandel, Regulierungen von Qualitätsnormen, Schutz von geistigen Eigentumsrechten.
Der Widerstand gegen TTIP wächst
All das bleibt nicht unwidersprochen. In den USA wird der Widerstand gegen TTIP hauptsächlich getragen von lokalen Gruppen gegen Gentechnik und Agroindustrie; auch die US-Gewerkschaften mischen sich verstärkt in die Debatte ein. Hintergrund sind für viele die schlechten Erfahrungen mit dem NAFTA-Abkommen, im Vordergrund stehen aber die Proteste gegen die Freihandelsabkommen, die Obamas Regierung momentan mit den asiatischen Staaten aushandelt. In Europa wächst der Protest gegen TTIP stetig und ist inhaltlich breiter geworden. Waren es zunächst einzelne Landwirtschaftsverbände sowie Umwelt- und Verbraucherschützer_innen, so entwickelte sich innerhalb von zwei Jahren eine breite bürgerliche Bewegung gegen TTIP - hauptsächlich in Deutschland. Da viele Kommunen Resolutionen gegen das Abkommen verabschiedet haben, gerät selbst die Basis bei SPD und CDU ins Schwanken, denn es sind ihre Bürgermeister_innen, die sich um die Zukunft kommunaler Versorgungsunternehmen sorgen. Der Deutsche Kulturrat ist inzwischen im Bündnis gegen TTIP ebenso angekommen wie die Gewerkschaften. Letztere hatten sich lange zurückgehalten; sie befürchten auf beiden Seiten des Atlantiks nicht nur massive Arbeitsplatzverluste, sondern auch weitere Angriffe auf Arbeitsrechte. Innerhalb der außerparlamentarischen Organisierung haben sich auch Attac und die Bewegungsmanager_innen von Campact angeschlossen. Linksradikale Gruppen sind bisher kaum vertreten. So ist auf der geplanten Demonstration am 10. Oktober in Berlin bisher kein explizit antikapitalistischer Block in Sicht.
Innerhalb der Parteien ist bei den meisten eine Trennung zwischen Basis und Führung zu erkennen. So versucht besonders Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel die wachsende Kritik bei den Sozialdemokrat_innen im Zaum zu halten. Auch bei Bündnis 90/Die Grünen, denen nach der jetzigen Machtverteilung im Bundesrat eine wichtige Rolle zukommen könnte, sind viele Parteimitglieder dagegen, besonders unter den EU-Parlamentarier_innen. Die grünen Wirtschaftsminister_innen von Hessen und Rheinland-Pfalz, Tarek Al-Wazir und Eveline Lemke, haben dagegen laut der taz im Juni 2015 in Hamburg für einen Beschluss der Wirtschaftsministerkonferenz gestimmt, in dem die Freihandelsabkommen als »wichtige Bausteine transatlantischer Partnerschaft« gelobt werden. Die LINKE scheint momentan geschlossen gegen die Abkommen zu sein.
Wichtiger Baustein im Poker um CETA und TTIP wird das EU-Parlament sein. Dort hat vor allem die SPD ein Problem: Bei einer Resolution im Juni hat Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) eine Abstimmung sogar verschoben, weil er zwischen den sozialdemokratischen und den konservativ-liberalen Fraktionen noch keinen Kompromiss ausgehandelt hatte. Die später verabschiedete Resolution - von linken und grünen Parlamentarier_innen scharf kritisiert - begrüßt das Abkommen grundsätzlich, will aber die darin vorgesehenen privaten Schiedsgerichte durch »öffentlichen« Investorenschutz ersetzt sehen. Direkte Auswirkungen wird die Resolution nicht haben, eher ist sie als Stimmungstest anzusehen, weil das Parlament über den Vertrag abstimmen muss. Ob die Parlamentarier_innen letztlich der Machtübernahme der Konzerne durch die neuen Freihandelsabkommen zustimmen, hängt sicher entscheidend von den außerparlamentarischen Protesten ab.
Erschienen in ak Nr. 608 / 15.9.2015