Formen der Politik

 

Im Kontext des neuen residency-Programms des Nordic Institute for Contemporary Art (NIFCA) (http://www.nifca.org/2006/) fand Anfang Juni 2006 ein zweitägiges Seminar zum Thema Social Perspectives on Architecture and Design statt. Eine Frage, die immer wieder aufkam, war die nach der komplexen Beziehung zwischen Gesellschaft, Politik, Design und Architektur. Ich habe mich seit langer Zeit mit diesem Thema auseinandergesetzt und es scheint mir, dass dies das richtige Forum dafür ist, um meine Gedanken dazu auszubreiten.

Es heißt oft, dass Kunst (und manchmal auch Architektur, niemals aber Design) als das Gegenteil von Massen- oder Populärkultur gesehen werden sollte, dass sie geradezu eine Negation kommerzieller Kultur konstituiert. Wir kennen alle Walter Benjamins Beschreibung davon, wie das Kunstwerk mit dem Aufkommen der Reproduktionstechniken (v. a. der Photographie) seine „Aura“ verliert, was dazu geführt hat, dass Kunst in das Werte- bzw. Wertschöpfungssystem der Massenproduktion und letztlich des Kapitalismus integriert wurde. Mit dem Auftauchen dieser veränderten Vorstellung von Kunst, hat sich auch der Status der Gebrauchsegenstände verändert. Während das Kunstobjekt seine Aura verlor, gewann der Gebrauchsgegenstand eine Aura, indem er ästhetisiert wurde – Konsumartikel, alltägliche Objekte, ersetzten die Kunstobjekte als Zuflucht vor der Realität. Dies kann als Desintegration oder Transzendierung der disziplinären Grenzen zwischen Kunst und Gebrauchsgegenstand gefasst werden, und selbst heute können wir ein anhaltendes Oszillieren zwischen diesen beiden Polen ausmachen – der Kommerzialisierung oder Kommodifizierung der Kunst und der Ästhetisierung der Gebrauchsgegenstände.

In manchen Fällen ist dies eine bewusste Handlung, eine transzendente Strategie, bei der wir versuchen, Kunst innerhalb des ökonomischen und kulturellen Feldes als Instrument zu benutzen. In anderen Fällen ist es lediglich eine unfreiwillige und zerstörerische Konsequenz, deren Gründe wir nicht benennen können. Für die Avantgarden war diese Transzendenz eine politische Aktion, die die Grenzen der kontemplativen Kunst einriss, ihre Räume öffnete, dabei die Zuflucht eliminierte und den/die BetrachterIn mit der Wirklichkeit konfrontierte. Kunst und Leben wurden auf diese Weise dasselbe: Es gibt keine Zuflucht! In vielen Fällen können wir jedoch beobachten, dass die Ansprüche einer relationalen Ästhetik, künstlerische und politische Aktion zu verknüpfen, immer ineffektiver erscheinen als die Beseitigung der Grenzen zwischen Kunst und Leben, die die Integration der Kunst in das ästhetische Universum der Ware mit sich bringt. Wie also können wir als KünstlerInnen, ArchitektInnen und DesignerInnen heute politisch und sozial aktiv sein, wo die Strategie der Transzendenz als Methode nicht mehr zu Verfügung steht? Ist es überhaupt möglich und lohnt es sich, es darauf anzulegen? Kann Design, das per definitionem eine Form des Eskapismus zum Ausdruck bringt (indem es auf etwas außerhalb des Objektes selbst verweist), ein politisches Potenzial haben?

Design wurde oft als Gesamtheit der Merkmale eines Objektes beschrieben (Farbe, Form, Umriss), die nicht sein „Wesen“ ausmacht, die also, anders formuliert, einen Tisch nicht zu einem Tisch macht oder einen Stuhl zu einem Stuhl. Man kann das die „sekundäre Funktion“ eines Objektes nennen. Die „primäre Funktion“ ist dann alles, was einen Tisch zu einem Tisch macht. Wir können weiterhin Design als jene Merkmale spezifizieren, die auf etwas jenseits des Objektes selbst verweisen, die Assoziationen herstellen sowie Verbindungen und Wahrnehmungen, die zur Wirklichkeit jenseits des Objektes gehören. Die Beziehung zwischen primärer und sekundärer Funktion ist allerdings komplexer, seitdem die sekundäre Funktion selbst eine primäre Funktion geworden ist, sofern sie sich ausreichend gewandelt hat. Wenn zum Beispiel die Form eines Tisches dermaßen verändert wurde, dass er nicht länger als Tisch dienen kann und ihm eine neue Funktion gegeben werden muss, dann hat Design oder Ornamentierung dahin geführt, dass die Neudefinition des Objekts bis zum Aufkommen einer neuen Funktion ausgeweitet werden muss – und damit wurde ein neues Handlungsfeld geschaffen. Diese mögliche Verschiebung in der Bedeutung von Design ist eine für Experimente mit Veränderungen offene Sphäre und sie besitzt ein inhärentes Potenzial, unsere Aktionen und Handlungen zu verändern, indem sie den „Gebrauch“ verändert.

Der Philosoph Jacques Rancière beschreibt Politik als eine „Konfiguration des Raumes“, „die Aufteilung eines spezifischen Raumes der ‚gemeinsamen Angelegenheiten’. Politik ist der Konflikt um die Frage, welche Gegenstände diesem Raum angehören und welche nicht.“ Politik ist der Konflikt um die Bedeutung von als „gemeinsam dargestellten Objekten“. Bedeutung geben kann mit der primären Funktion verglichen werden, die einen Tisch zu einem Tisch macht. Das Wort „Tisch“ ist eine akzeptierte Bedeutung, die Teil unserer gemeinsamen Sozialität ist. Rancière bezieht sich auf Aristoteles, der behauptet hatte, dass der Mensch politisch sei, weil er eine Sprache hat, wo Tiere nur über Geräusche verfügen. Das wirft die Frage auf: Wer verfügt über eine Sprache und wer nur über Geräusche? Wenn die primäre Funktion als „Sprache“ definiert wird, wäre die sekundäre Funktion das „Geräusch“ – die individuellen Assoziationen und Vorstellungen, die nicht an die Definition gebunden sind, aber nichtsdestotrotz über die Macht verfügen, „etwas in etwas anderes zu übertragen“. Wenn Design vollkommen frei agiert und es sich zwischen primärer und sekundärer Funktion hin und her bewegt – wenn der Tisch aufhört ein Tisch zu sein –, dann werden neue Objekte und Funktionen erzeugt. Ähnlich werden neue, bis dahin allgemein nicht anerkannte Bedeutungen erzeugt: Eine neue Bedeutungsgebung kann von einem zuvor anonymen Subjekt festgelegt werden. Diese Diskussion kann auf Objekte praktisch jeden Ausmaßes angewandt werden – von kleinen, beweglichen Geräten bis zu architektonischen Strukturen.

Architektur handelt von räumlichen (Ein-)Teilungen, oder, um einen Satz von Rancière aufzugreifen, von „der Aufteilung des Raumes“. Sie stellt eine Segmentierung einer offenen Oberfläche dar, die dazu dient, Bedeutung, Sozialität und Politik zu schaffen. Sie tritt häufig in der Kombination physischer Elemente (Steine, Holz, Balken, Dächer, Wände, etc.) auf, kann aber auch mit Elementen ohne Materialität wie Hitze, Licht und Sound erreicht werden: eine unsichtbare räumliche Politik. In der Architektur lässt sich ebenfalls von primären Funktionen sprechen: über das, was ein Badezimmer zu einem Badezimmer, eine Küche zu einer Küche, ein Haus zu einem Haus oder ein Zelt zu einem Zelt macht. Die sekundäre Funktion wären die Merkmale, die beispielsweise eine Küche von einer anderen Küche unterscheiden oder ein Badezimmer von einem anderen. In der Architektur nennt man den Bauplan (und die Konfiguration der Elemente) „Programm“. In der zeitgenössischen Architektur (z. B. bei den niederländischen Architekturbüros MVRDV und Office for Metropolitan Architecture, OMA) lässt sich eine Tendenz erkennen, in der das Programm als Dekoration betrachtet wird, als Ausdruck von Design, als Merkmal, das für die Bedeutung (oder primäre Funktion) des Objektes nicht unbedingt notwendig ist. Das Programm wird in dekorative Elemente integriert, die sich auf etwas jenseits der tatsächlichen Funktion der Architektur beziehen. Ähnliche Szenarien wie das gerade beschriebene wären auch für alltägliche Objekte vorstellbar: Eine Situation vollkommener Handlungsfreiheit zwischen den primären und den sekundären Funktionen, zwischen dem, was wir normalerweise Design und was wir Funktion nennen.

Die Strategie der Verschiebungen zwischen Funktion und Gebrauch durch die Mittel des Designs ist in der Architektur ausgeprägter als in der Sphäre der Alltagsgegenstände. Es gibt verschiedene Beispiele für Räumlichkeiten (etwa die von MVRD gestaltete Villa für den Rundfunk in Hilversum, VPRO), die von einer spezifischen Funktion zu einer kaum mehr festgelegten zu gleiten scheinen. In solchen Fällen definiert Architektur die Funktion weniger als umgekehrt – „form follows function“ wird ersetzt durch „function follows form“. Diese Strategie bedeutet oft, in räumlichen Neutralitäten oder Lücken zu bauen, die keinem bestimmten Zweck dienen außer lediglich räumliche „Dekorationen“ oder Designelemente zu sein. Was ist Rem Koolhas´ „junk space“ (Räume, die übrig geblieben sind und anscheinend keinen Nutzen haben), wenn nicht ein programmatisches Ornament? Ein faszinierender Aspekt dabei ist, dass es das Design, die Ornamentierung und die Überflüssigkeit sind, die den Anstoß dazu geben, Raum und Funktion zu re-programmieren, was zweifelsohne sowohl soziale als auch politische Implikationen hat.

Wohin kann uns all das also führen? Zunächst müssen wir Design und Architektur als politische Aktivitäten insofern anerkennen, als sie Konfigurationen von Räumen, Orten und Gegenständen sind. Dies bedeutet auch, dass die ästhetische Sphäre als durch und durch politische Sphäre begriffen werden kann, in der Reorganisierungen, Reprogrammierungen und Rekonfigurationen akzeptabel sind, die in den Alltagsrealitäten nicht erlaubt wären. Dies wiederum öffnet den Weg für eine Strategie, die jener der Avantgarden komplett entgegengesetzt ist, und häufig auch jener der relationalen Kunst: Anstatt die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben, kann diese Grenze genutzt werden und was gemeinhin als Gemeinplatz betrachtet wird, kann in ein ästhetisches Spielfeld überführt, dort „reprogrammiert“ werden, um anschließend als Kunst in einer wirklichen Situation zu dienen.

Die Soziologin Saskia Sassen hat in ihrer Diskussion über die Effekte der Globalisierung auf das Potenzial einer ähnlichen Reprogrammierung hingewiesen, allerdings auf der Ebene des Urbanen. Sie betont, dass es gegenwärtig ein verbreitetes Narrativ über die Globalisierung gebe, formuliert von „Subjekten, die anerkannt sind, es zu formulieren.“ So wie Alltagsgegenstände und architektonische Objekte, verfügt die Stadt über Räume und Orte, die bereits ihre Bestimmung und ihren Zweck haben, häufig festgelegt von den herrschenden globalen ökonomischen und politischen Machtfaktoren. Sassen meint: „Gleichzeitig sind diese Städte voll von ungenutzten Geländen, die häufig von der Vergangenheit mehr geformt werden als von der Gegenwart. Die Gelände gehören zu den Innenstädten, sind aber marginalisiert in Bezug auf die Stadtplanung und die Rahmungen, die ihre Gestaltung (design) definieren.“ Orte wie diese, die zum städtischen Zentrum und seiner rechtlichen Peripherie gehören, können mit den programmatischen Ornamenten verglichen werden, da sie auf ähnliche Art und Weise diese neuen Bedeutungen und Zwecke ermöglichen. Hier können Geräusche wieder zu Sprache werden. Wenn wir ein architektonisches System, ein Haus oder ein Viertel schaffen, teilen wir den Raum und erzeugen Grenzen und Öffnungen. Diese Handlungen sind als Machtausübung zu betrachten, weil sie bestimmte Durchgänge ermöglichen – und es bestimmten Leuten erlauben, sie zu passieren, während sie andere aus- und einschließen. Jemandem einen Zugang zu gewähren ist eine Frage der Repräsentation und dadurch eine Frage der Demokratie – und der Politik.

Jacques Rancière betont, dass es die Aufteilung des Sinnlichen ist, die die Politik konstituiert: „Politik ereignet sich, wenn die, die ‚nicht die Zeit haben’, sich die Zeit nehmen, die notwendig ist, um als Bewohner eines gemeinsamen Raumes aufzutreten, und um zu beweisen, dass ihr Mund sehr wohl eine Sprache erzeugt, die das Gemeinsame ausspricht und nicht nur eine Stimme, die den Schmerz signalisiert. Diese Verteilung und Umverteilung der Identitäten, dieses Zerlegen und Neueinteilen der Räume und Zeiten, des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Lärms und der Sprache konstituieren das, was ich die Aufteilung des Sinnlichen nenne.“ Design, Architektur und Urbanismus sind alles Disziplinen, die von (und mit) der Aufteilung des Sinnlichen handeln, und diese Praxis beinhaltet zugleich das Potenzial, Raum zu schaffen, in dem diejenigen, die keine Sprache haben, das Allgemeine mit Bedeutung versehen können.


Helena Mattsson ist Architektin und lehrt an der KTH School of Architecture in Stockholm.

Dieser Text erschien zuerst in Markus Degerman (Hg.): Social Perspectives on Architecture and Design, Helsinki 2006 (NIFCA). Für den Bildpunkt aus dem Englischen übersetzt von Jens Kastner.

Literatur:
Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006 (b_books).
Jacques Rancière: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007 (Passagen Verlag).
Saskia Sassen: Globalization and Ist Discontents, New York 1998 (The New Press).

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Herbst 2008, „formal sinnvoll“.