Die Gewerkschaften und die neue Mosaik-Linke
Dass mitglieder- und durchsetzungsstarke Gewerkschaften einen wichtigen Baustein des traditionellen Wohlfahrtsstaates darstellten, dürfte ebenso unbestritten sein, wie die Einschätzung, dass es um eben diesen Wohlfahrtsstaat nicht gut bestellt ist. Unter Berufung auf Globalisierung, Individualisierung und demographischen Wandel haben sich neoliberale wie neu-sozialdemokratische „Reformstrategien“ so systematisch und absichtsvoll an seinen Stützpfeilern zu schaffen gemacht, dass heute soziale Sicherungsstandards sowie kollektive und individuelle Arbeitsrechte längst ins Wanken geraten sind.
Gleiches gilt, auch dies ist allerorts zu erfahren, für die gesellschaftliche Stellung der Gewerkschaften. Vor allem im neoliberalen Politikentwurf gelten sie als wettbewerbswidrige Monopolanbieter des gesellschaftlichen Arbeitskräfteangebots, als Treiber von Arbeits- und Sozialkosten, als Rationalisierungs- und Innovationsbremse sowie als Hindernis bei der Stärkung der nationalen Wirtschaftsstandorte. Und da auch die neue Sozialdemokratie auf unregulierte Märkte und einen „schlanken Staat“ ohne institutionelle Interessenvermittlungsstrukturen setzt, werden auch die sozialökonomische Ordnungsfunktion und die möglichen korporatistischen Integrationsleistungen, nicht wirklich als wertvoller, gesellschaftlicher Beitrag anerkannt.
Bei diesem, Gewerkschaften grundsätzlich infrage stellenden, Finanzmarktkapitalismus handelt es sich um eine Konfiguration von Institutionen und Regulierungen, in der die Finanzmärkte dominieren. Die Schlüsselakteure und Spielregeln der globalen Finanzmärkte bestimmen die Veränderungsrichtung und -geschwindigkeit in Unternehmen und Gesellschaft. Der renditegetriebene Beschäftigungsabbau und die Prekarisierung der Lebenslagen bis weit in die arbeitnehmerische Mitte hinein, erhöht die Erpressbarkeit der Belegschaften. Betriebliche und wirtschaftliche Restrukturierungen untergraben sukzessive die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht in der Betriebs- und Tarifpolitik. Die erhöhte Kapitalmobilität sowie die weitgehende Bindungslosigkeit der institutionellen Akteure ermöglicht die Drohung mit der „Exit-Option“ und die Stärkung der Verhandlungsposition der Unternehmensleitungen, während die Gewerkschaften an Verhandlungsmacht verlieren.
Unter diesen Bedingungen rutschen die Gewerkschaften in eine Art „Sandwich-Konstellation“. Von unten schmelzen im Zuge der finanzmarktgetriebenen Restrukturierungsmaßnahmen und der Exit-Optionen der Unternehmen die Grundlagen gewerkschaftlicher Organisations- und Verhandlungsmacht. Und von oben wächst der Druck durch die Regierungspolitiken, die durch die Perforierung der Arbeitnehmerschutzrechte, die Privatisierung sozialer Risiken und Förderung der Kapitalmarktakteure die Arbeitsmarktkonkurrenz verschärft und Gegenspieler der Gewerkschaften stärkt.
Im Rahmen der Gewerkschaftsforschung wendet sich dieser Ansatz insbesondere gegen die implizierte Zwangsläufigkeit der diversen Niedergangsprognosen und betont Möglichkeiten und Verantwortung der Gewerkschaften für die Realisierung vorhandener Strategieoptionen, denen Revitalisierungspotenziale inhärent sind
(„strategic choice“).
Ob dem in die Krise geratenen Fordismus dauerhaft der neoliberale Finanzmarktkapitalismus oder ein neues Modell eines re-regulierten, neo-sozialen Wohlfahrtskapitalismus folgt, ist letztlich Resultat sozialer Kämpfe und politischer Aushandlungsprozesse. Gerade weil den Gewerkschaften im Zuge der Abwicklung des fordistischen Wohlfahrtsstaates die externen Organisationshilfen des Korporatismus abhanden kommen, wächst die Bedeutung der Machtressourcen, die sie autonom zu generieren in der Lage sind. In Anlehnung an Max Weber formuliert: Auch für die Gewerkschaften geht es um die Fähigkeit, in sozialen Bezügen eigene Zukunftskonzepte aus eigener Kraft gegen die Gegenentwürfe von Kapital und neusozialdemokratischer Politik durchzusetzen zu können.
Gleichwohl wäre ein erfolgreicher Wiederaufbau gewerkschaftlicher Verhandlungs- und Organisationsmacht eine wichtige Etappe bei der unverzichtbaren „Neugründung“ einer gesellschaftlichen Linken. Diese Neugründung setzt eine breitere zivilgesellschaftliche Aktivierung und die Formierung eines gegenhegemonialen Blocks voraus, der die immer offensichtlicher werdenden Risse im Gebälk des Neoliberalismus nutzt. Es ginge um die politische Zusammenführung jener „Gegenbewegung gegen die Teufelsmühle des (heute vor allem Finanz-)Marktes“ (Karl Polanyi), der erneut die „Substanz der Gesellschaft als solche“ angreift.
Eine solche Gegenbewegung müsste als Bündnis derjenigen Akteure entstehen, die gegenwärtig noch relativ isoliert in ihren Handlungsfeldern an der Bewältigung der Probleme der neuen Kapitalismus- Formation arbeiten. Zu nennen sind neben den Gewerkschaften die globalisierungskritischen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen, Teile der Kirchen, die diversen sozialen Selbsthilfe-Initiativen, Mitglieder politischer Parteien und nicht zuletzt die kritischen Teile der kulturellen Linken, wie etwa WissenschaftlerInnen und Intellektuelle.
Eine solche Bewegung hätte nach dem Prinzip der autonomen Kooperation nach gemeinsamen politischen Projekten und Zielen zu fahnden, sollte sich aber vor einem zu weiten Vereinheitlichungsanspruch hüten. Es spricht vieles dafür, dass eine neue Kultur der wechselseitigen Toleranz und der Akzeptanz der spezifischen Bewegungs- und Organisations-Kulturen die Schlüsselressource eines solchen Bündnisses darstellt. Die Bewahrung der organisationskulturellen Autonomie der Kooperierenden muss der Attraktivität einer solchen Bewegung keineswegs abträglich sein. Wie ein Mosaik seine Ausstrahlungskraft als Gesamtwerk entfaltet, obwohl seine Einzelteile als solche erkennbar bleiben, könnte eine neu gegründete Linke als heterogener Kollektivakteur wahrgenommen und geschätzt werden.
Die Gründung einer solchen Mosaik-Linken im Finanzmarktkapitalismus stellt einen Kontext dar, auf den sich auch die gewerkschaftliche Strategiedebatte beziehen sollte. Wollen die Gewerkschaften in einem solchen Prozess eine relevante Rolle spielen, müssen sie die Anstrengungen zur Weiterentwicklung ihrer Durchsetzungskraft verstärken. Dabei bleibt die Fähigkeit zur Mobilisierung eigener Machtressourcen die entscheidende Vorbedingung dafür, sich als konstruktiver Vetospieler erfolgreich in einen Prozess einschalten zu können, in dem die Überwindung des Neoliberalismus zu einer realen Option wird.
Gleiches gilt, auch dies ist allerorts zu erfahren, für die gesellschaftliche Stellung der Gewerkschaften. Vor allem im neoliberalen Politikentwurf gelten sie als wettbewerbswidrige Monopolanbieter des gesellschaftlichen Arbeitskräfteangebots, als Treiber von Arbeits- und Sozialkosten, als Rationalisierungs- und Innovationsbremse sowie als Hindernis bei der Stärkung der nationalen Wirtschaftsstandorte. Und da auch die neue Sozialdemokratie auf unregulierte Märkte und einen „schlanken Staat“ ohne institutionelle Interessenvermittlungsstrukturen setzt, werden auch die sozialökonomische Ordnungsfunktion und die möglichen korporatistischen Integrationsleistungen, nicht wirklich als wertvoller, gesellschaftlicher Beitrag anerkannt.
Gewerkschaften im Finanzmarktkapitalismus
Entsprechend fielen die Politiken der neoliberal oder neusozialdemokratisch geführten Regierungen in Europa aus. Doch damit nicht genug: Mehr noch als diese Regierungspolitiken machen den Gewerkschaften die Mechanismen der neuen Kapitalismusformation zu schaffen, die sich unter dem Druck von Globalisierung und antiwohlfahrtsstaatlichen Politikstrategien allmählich herausgebildet hat. Der neue Finanzmarktkapitalismus, so eine weit verbreitete Auffassung, benötige aufgrund seiner politischen Ökonomie die Gewerkschaften weder als arbeitsmarktpolitische Schützerin der Arbeitskraft noch als komplementäre Regelungsinstitution zur Wahrung des makroökonomischen Gleichgewichts und gesellschaftlicher Kohäsion. Kurzerhand werden daher die Gewerkschaften zum Anachronismus gestempelt und die Indikatoren der gewerkschaftlichen Schwächung — sinkende Verhandlungsmacht in den betrieblichen und tariflichen Aushandlungsprozessen, Schwächung der gewerkschaftlichen politischen Lobbymacht, sinkende gewerkschaftliche Organisationsgrade sowie abnehmende Mitgliederzahlen und Ressourcen — werden als Belege für einen quasi unaufhaltsamen Niedergangsprozess der Gewerkschaften gedeutet.Bei diesem, Gewerkschaften grundsätzlich infrage stellenden, Finanzmarktkapitalismus handelt es sich um eine Konfiguration von Institutionen und Regulierungen, in der die Finanzmärkte dominieren. Die Schlüsselakteure und Spielregeln der globalen Finanzmärkte bestimmen die Veränderungsrichtung und -geschwindigkeit in Unternehmen und Gesellschaft. Der renditegetriebene Beschäftigungsabbau und die Prekarisierung der Lebenslagen bis weit in die arbeitnehmerische Mitte hinein, erhöht die Erpressbarkeit der Belegschaften. Betriebliche und wirtschaftliche Restrukturierungen untergraben sukzessive die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht in der Betriebs- und Tarifpolitik. Die erhöhte Kapitalmobilität sowie die weitgehende Bindungslosigkeit der institutionellen Akteure ermöglicht die Drohung mit der „Exit-Option“ und die Stärkung der Verhandlungsposition der Unternehmensleitungen, während die Gewerkschaften an Verhandlungsmacht verlieren.
Unter diesen Bedingungen rutschen die Gewerkschaften in eine Art „Sandwich-Konstellation“. Von unten schmelzen im Zuge der finanzmarktgetriebenen Restrukturierungsmaßnahmen und der Exit-Optionen der Unternehmen die Grundlagen gewerkschaftlicher Organisations- und Verhandlungsmacht. Und von oben wächst der Druck durch die Regierungspolitiken, die durch die Perforierung der Arbeitnehmerschutzrechte, die Privatisierung sozialer Risiken und Förderung der Kapitalmarktakteure die Arbeitsmarktkonkurrenz verschärft und Gegenspieler der Gewerkschaften stärkt.
Optionen einer gewerkschaftlichen Revitalisierung
Und dennoch: Auch wenn es leichtfertig wäre, die Dimension der Defensive zu unterschätzen, so lassen sich doch Hoffnungsschimmer ausmachen. Diese werden im Rahmen eines Forschungsansatzes sichtbar, der als „Strategic-Unionism-Approach“ bezeichnet wird und dessen Arbeiten als „Labor Revitalisation Studies“ allmählich einen eigenen Forschungszweig zu konstituieren beginnen. Er beruht auf der Prämisse, dass sozialen Akteuren gerade in Perioden struktureller Veränderungen prinzipiell unterschiedliche strategische Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, die mit Blick auf die anvisierten Ziele unterschiedliche Eignungen aufweisen. Wie erfolgreich die Akteure bei der Auswahl der Strategieoptionen und wie hoch ihre Fähigkeit zur Generierung innovativer Praktiken sind, hängt vor allem von einer realistischen Analyse des Handlungskontextes, problemadäquaten Handlungsstrategien und der Fähigkeit zur Generierung von Durchsetzungsmacht ab.Im Rahmen der Gewerkschaftsforschung wendet sich dieser Ansatz insbesondere gegen die implizierte Zwangsläufigkeit der diversen Niedergangsprognosen und betont Möglichkeiten und Verantwortung der Gewerkschaften für die Realisierung vorhandener Strategieoptionen, denen Revitalisierungspotenziale inhärent sind
(„strategic choice“).
Gewerkschaften als konstruktive Veto-Spieler
Die Nutzung von Freiräumen für strategische Entscheidungen setzt jedoch ein adäquates gewerkschaftliches Rollen- und Strategieverständnis voraus. Der Begriff des „konstruktiven Vetospielers“ versucht ein solches Verständnis zu beschreiben. Es geht davon aus, dass sich der Übergang von der fordistischen Formation zu einem neuen sozial- ökonomischen Entwicklungsmodell über machtbasierte Verteilungs- und Aushandlungskonflikte vollzieht und die Fähigkeit einer hinreichenden Mobilisierung von Machtressourcen die Voraussetzung dafür darstellt, sich als Mitspieler etablieren und behaupten zu können. Insofern kommt der Mobilisierung von Machtressourcen eine Schlüsselrolle zu. Gleichwohl wird die darauf beruhende Veto-Macht „konstruktiv“ in dem Sinne eingesetzt, als sie nicht auf die Konservierung der Status-Quo-Strukturen, sondern auf die Präsentation und Durchsetzung eigener Beiträge zur Neu-Konstruktion des sozial-ökonomischen Entwicklungsmodellssetzt. Der Mobilisierung von Veto- Macht zur Verhinderung problemverschärfender Modernisierungsstrategien wird die Mobilisierung von Veränderungsmacht zur Durchsetzung problemlösender Politikkonzepte zur Seite gestellt.Ob dem in die Krise geratenen Fordismus dauerhaft der neoliberale Finanzmarktkapitalismus oder ein neues Modell eines re-regulierten, neo-sozialen Wohlfahrtskapitalismus folgt, ist letztlich Resultat sozialer Kämpfe und politischer Aushandlungsprozesse. Gerade weil den Gewerkschaften im Zuge der Abwicklung des fordistischen Wohlfahrtsstaates die externen Organisationshilfen des Korporatismus abhanden kommen, wächst die Bedeutung der Machtressourcen, die sie autonom zu generieren in der Lage sind. In Anlehnung an Max Weber formuliert: Auch für die Gewerkschaften geht es um die Fähigkeit, in sozialen Bezügen eigene Zukunftskonzepte aus eigener Kraft gegen die Gegenentwürfe von Kapital und neusozialdemokratischer Politik durchzusetzen zu können.
Perspektive einer Mosaik-Linken
Der Weg hin zu einer Revitalisierung der Gewerkschaften ist zweifelsohne noch weit. Er müsste die Reaktivierung der Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler, die Stärkung der gewerkschaftlichen Repräsentanz in den Betrieben, die Stabilisierung des Flächentarifvertrages, die Reformulierung eines gesellschaftspolitischen Mandats, die Überwindung der gewerkschaftlichen Mitgliederverluste sowie eine sachgerechte Modernisierung der Organisationsstrukturen umfassen.Gleichwohl wäre ein erfolgreicher Wiederaufbau gewerkschaftlicher Verhandlungs- und Organisationsmacht eine wichtige Etappe bei der unverzichtbaren „Neugründung“ einer gesellschaftlichen Linken. Diese Neugründung setzt eine breitere zivilgesellschaftliche Aktivierung und die Formierung eines gegenhegemonialen Blocks voraus, der die immer offensichtlicher werdenden Risse im Gebälk des Neoliberalismus nutzt. Es ginge um die politische Zusammenführung jener „Gegenbewegung gegen die Teufelsmühle des (heute vor allem Finanz-)Marktes“ (Karl Polanyi), der erneut die „Substanz der Gesellschaft als solche“ angreift.
Eine solche Gegenbewegung müsste als Bündnis derjenigen Akteure entstehen, die gegenwärtig noch relativ isoliert in ihren Handlungsfeldern an der Bewältigung der Probleme der neuen Kapitalismus- Formation arbeiten. Zu nennen sind neben den Gewerkschaften die globalisierungskritischen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen, Teile der Kirchen, die diversen sozialen Selbsthilfe-Initiativen, Mitglieder politischer Parteien und nicht zuletzt die kritischen Teile der kulturellen Linken, wie etwa WissenschaftlerInnen und Intellektuelle.
Eine solche Bewegung hätte nach dem Prinzip der autonomen Kooperation nach gemeinsamen politischen Projekten und Zielen zu fahnden, sollte sich aber vor einem zu weiten Vereinheitlichungsanspruch hüten. Es spricht vieles dafür, dass eine neue Kultur der wechselseitigen Toleranz und der Akzeptanz der spezifischen Bewegungs- und Organisations-Kulturen die Schlüsselressource eines solchen Bündnisses darstellt. Die Bewahrung der organisationskulturellen Autonomie der Kooperierenden muss der Attraktivität einer solchen Bewegung keineswegs abträglich sein. Wie ein Mosaik seine Ausstrahlungskraft als Gesamtwerk entfaltet, obwohl seine Einzelteile als solche erkennbar bleiben, könnte eine neu gegründete Linke als heterogener Kollektivakteur wahrgenommen und geschätzt werden.
Die Gründung einer solchen Mosaik-Linken im Finanzmarktkapitalismus stellt einen Kontext dar, auf den sich auch die gewerkschaftliche Strategiedebatte beziehen sollte. Wollen die Gewerkschaften in einem solchen Prozess eine relevante Rolle spielen, müssen sie die Anstrengungen zur Weiterentwicklung ihrer Durchsetzungskraft verstärken. Dabei bleibt die Fähigkeit zur Mobilisierung eigener Machtressourcen die entscheidende Vorbedingung dafür, sich als konstruktiver Vetospieler erfolgreich in einen Prozess einschalten zu können, in dem die Überwindung des Neoliberalismus zu einer realen Option wird.