Meditaktion: nicht alles tun

Vergangenen Freitag, nach einem verregnetem Nachmittag, als es wieder anfing aufzuheitern, spazierte ich in die Innenstadt von Sevilla,

die Stadt in der ich lebe, und setzte mich im Yoga-Sitz, an einem belebten Ort in der Fußgängerzone, meine Atmung genießend und zu meinem Körper zurückkehrend, für eine gute Weile einfach auf den Boden. Mit geschlossenen Augen und vom Straßenlärm entrückt, versuchte ich in den Ozean des Bewusstseins einzutauchen, der durch den Zustand tiefer Meditation geweckt wird. Auch wenn ich ein Anfänger in Übungen der Meditation bin und das laute Umfeld der Straße wenig geeignet schien, konnte ich mich nach und nach von der Situation treiben lassen.
Ich nehme an, dass mehrere FußgängerInnen bei der Begegnung mit einem solchen Individuum verwundert gewesen sein dürften und nicht zu erklären vermochten, ob es sich denn hierbei um eine lebende Statue oder um einen Straßenkomödianten handelt. Wahrscheinlich hätten sie sich nicht allzu sehr gewundert, wenn ich ihnen erklärt hätte, dass ich Künstler bin und dass meine Straßenmeditation eine über Laptop und Webcam im Internet übertragene Intervention für die interntionale Sitzung der internationalen Leistung (PerfoArtNet) war, die 2008 in Kolumbien stattfand. Auch wenn es etwas paradox erscheinen mag, Meditation in einen künstlerischen Handlungsentwurf zu verwandeln, bei der Intervention Meditacción [dt. Meditaktion, Anm. d. Übers.] geht es ebenso darum, in die alltäglichen und sozialen Handlungen eine tief greifende und aus voller Aufmerksamkeit entsprungene liebevolle Absicht zu übertragen, wie auch darum, in den Übungen, die die einstigen chinesischen Meister des Taoismus und Chan als Nichts-tun bezeichneten, die geistigen Landschaften im Inneren zu ergründen - oder Wu Wei, das Beherrschen der authentischen Meditation, in der, auch wenn es scheint, als machte man gar nichts, man aber auch nicht aufhört etwas wichtiges zu tun, und sich so die mysteriöse Energie eines wachen und geöffneten Nichts-tun zeigen kann.

Die verschiedenartigen Interpretationen, die der Verbindung der beiden chinesischen Schriftzeichen Wu Wei zugekommen sind, führen zu missverständlichen Bedeutungen: Nichts tun, nicht handeln, nicht interferieren, nicht anstrengen, nicht behaupten. Paradoxerweise kommt die meistverbreitete von ihnen, Nichts-tun, der vollen Bedeutung am nächsten. All die vom Tao te Ching autorisierten Versionen enthaltenen Hinweise zu den missverständlichen Deutungen, und ebenso bezeichnet es Francois Jullien in seinem Vorwort zu dem von Anne Helene Suárez übersetzten Tao te Ching, das unter dem Titel El Libro del curso y de la virtud auf Spanisch veröffentlicht wurde : "Wenn es ein Thema gibt, das dieses Buch charakterisiert, dann ist es das Nichts-tun (Wu Wei). Aber man muss sich davor hüten, das nicht falsch zu verstehen, wie dies schon oftmals geschehen ist, und es als ein Unverständnis der Welt gegenüber lesen, als eine quietistische Absage, letztendlich als eine Anrufung der Passivität. Die Formel muss in ihrer Gänze verstanden werden: ‚Nichts-tun, aber das nichts ungetan bleibt.Â’ Wenn man sich des Handelns effektiv enthält, dann nicht, weil man nicht an der Welt interessiert ist (...), vielmehr geht es darum die Dinge auf natürliche Weise herbeikommen zu lassen, ‚von sich ausÂ’, ohne sie mit dem Gewicht unserer Projekte zu beladen, mit der Willkür unseres Wollens. Wenn sich der Weise der Handlungen enthält, tut er es, um geschehen zu lassen, und so die Gangbarkeit der Dinge aus sich heraus entstehen zu lassen."
Die Zeit des Nichts-tun ist eine Zeit um einfach "da-zu-sein", eine Zeit der "vollen Aufmerksamkeit". Dieses Konzept ist vom vietnamesischen Zen-Meister, Dichter und Friedensaktivisten Thich Nhat Hanh erforscht worden, der sowohl die volle soziale Aufmerksamkeit, als auch den sozialen Wandel als wesentliche Aufgabe der buddhistischen Praxis erachtet, um den persönlichen Frieden zu finden, als auch, wie Buddha lehrte: "Für das Wohl vieler, für die Glückseligkeit vieler, für das Mitgefühl mit der Erde, für die Glückseligkeit der Götter und der Menschen." (Mahavagga Vinaya).
In den letzten sechs Monaten haben wir zwei vergessene Krisen wieder zu sehen bekommen: Tibet und Myanmar (Birma) zeigten sich von ihrer herben Seite. Viele waren erstaunt, als sie die buddhistischen Mönche auf der Straße Gerechtigkeit fordern sahen. Und viele fühlten sich davon betroffen, wie derart kontemplative Menschen in so unmittelbare und heftige Aktion treten können. Der sozial-spirituelle Aktivismus ist eines der im Buddhismus meist behandelten Themen aller Zeiten. "Den Geist der Frage hin öffnen, warum ich hier bin. Jetzt." - "Was kann ich für die anderen tun?" ist eine der wichtigsten spirituelle Praktiken: "geben und bekommen". Auch wenn der sozial aktive Buddhismus progressistischen Programmen ähnelt, basiert er auf den sehr eigenen Prinzipien der besinnlichen vollen Aufmerksamkeit, der Idee der gegenseitigen Abhängigkeit und der Verbindung der äußeren Veränderung mit dem inneren Wandel.
Während der deutlichste Unterschied zwischen AktivistInnen und PolitikerInnen auf der einen und SpiritualistInnen auf der anderen Seite darin besteht, die Dinge aus dem Inneren oder von Außen anzugehen, haben sie mehr gemeinsam, als es vom Standpunkt einer buddhistischen Ethik aus zunächst scheint. Aus buddhistischer Sicht gliedert sich das Handeln in drei Aspekte: Diagnose der Probleme, die die Welt bewegen; Prüfung und spezifisch buddhistische Antworten auf diese Probleme; die Vorstellung dessen, wie wir wünschen, uns zwischen der augenblicklichen Situation und der gewünschten Gesellschaft zu bewegen. Dualität, Apathie, Verwirrung, Ignoranz und Egoismus sind einige der Ursachen, die sich als Wurzeln dessen ausmachen lassen, was die Bevölkerung zerfrisst. Und nichts davon hat mit der praktizierten Religion, mit politischen Ideen oder sozialem Status zu tun. Da die globalen Probleme miteinander verbunden sind, können sie auch nicht getrennt voneinander gelöst werden. Deswegen darf auch die Solidarität nicht diskriminiert werden. Das Prinzip des uneingeschränkten Respekts vor dem Leben, ahimsa, Gewaltfreiheit, gibt uns eine weitgehende Grundlage zur Behandlung dieser Probleme. Bestimmte buddhistische Prinzipien lassen sich also durchaus für einen künstlerischen Aktivismus adaptieren:
* Das Recht auf Freiheit gegenüber der Diskriminierung durch Glaubensbekenntnisse, Biologie, Kaste, Nationalität, Geschlecht oder jeglicher anderer Unterscheidung. Die menschliche Vielfalt ist ein Grund zur Feier und nicht zur Teilung. Sie rührt dazu an, aus der Hochachtung gegenüber allem Lebendigen gewaltlose Formen der Kräfte auf lokaler und internationaler Ebene zu schaffen und dafür auch die Kunst als eine Form der Emanzipation in den Dienst zu nehmen.
* In Netzwerken arbeiten, offen dafür sein, allen leidenden Wesen ohne Unterscheidung zu helfen, auch uns selbst. Lassen wir uns inspirieren, wir haben Teil an einer Veränderung des sozialen Aktivismus - es ist eine einzigartige Möglichkeit, uns einer Lösung der Probleme aus einer anderen Perspektive zu nähern.

Aus dem Spanischen Übersetzt und überarbeitet von Max Hinderer.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "nicht alles tun", Wien, Sommer 2008.