Grenzenloser Wissensdrang

Zur Rolle der Arbeitswissenschaft im Nationalsozialismus

Arbeitswissenschaft entwickelte sich wesentlich durch Impulse, die von der Rationalisierung der Produktion und der Intensivierung der Arbeit ausgingen.

Deren Auswirkungen speziell auf die NS-Wirtschaft und die Arbeitswissenschaft als angewandte Wissenschaft, die das Ziel der „Leistungserhöhung"verfolgt, stellt Irene Raehlmann dar.

Im Vergleich zur beschämend spät einsetzenden politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik über den Nationalsozialismus haben sich WissenschaftlerInnen mit der diesbezüglichen Rolle ihrer Disziplinen noch sehr viel später befasst. Diese Verspätung lässt sich zumindest ansatzweise erklären. Da in der Wissenschaft Lehrer-Schüler-Verhältnisse eine herausgehobene Rolle spielen und auch die Karrierechancen mitbestimmen, bestand in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, als die Mehrzahl der Hochschullehrer noch eine Kontinuität aus der NS-Zeit aufwies, beim wissenschaftlichen Nachwuchs eine zwar verständliche, aber kaum akzeptable Scheu, ihre Lehrer1 nach ihrer politischen und wissenschaftlichen Vergangenheit sowie allgemein nach der damaligen Rolle der von ihnen vertretenen Fachwissenschaft zu befragen. Mit dem Generationswechsel haben sich diese Lehrer-Schüler-Verhältnisse aufgelöst. Nun stellt eine jüngere Generation die längst überfälligen Fragen, wobei erleichternd hinzukommt, dass sich das gesellschaftspolitische Klima hinsichtlich der NS-Zeit zugunsten solcher Forschungen seit Ende der achtziger Jahre deutlich verbessert hat. Das zeigen beispielsweise zwei Ereignisse, die in einem zumindest mittelbaren Zusammenhang mit meinen nachfolgenden Ausführungen stehen und an die ich erinnern möchte. Der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Nachfolgerin der früheren Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, entschuldigte sich in den neunziger Jahren öffentlich bei den Überlebenden der medizinischen Experimente des Dr. Josef Mengele in Auschwitz. Herausgefordert durch internationalen Druck gründete die Regierung Schröder/Fischer zu Beginn ihrer Amtszeit 1998 unter Beteiligung der deutschen In­dus­trie eine Stiftung, die die Überlebenden der NS-Zwangsarbeit „entschädigen" sollte. Damit wurde das erlittene Unrecht offiziell - wenn auch äußerst spät - anerkannt. Ein weiterer wichtiger Tatbestand ist, dass sich seit der politischen Wende von 1989 die deutschen und osteuropäischen Archive öffneten. Ohne diesen Zugang, vor allem auch zu den ostdeutschen (Universitäts-)Archiven, wäre diese Forschung nur sehr eingeschränkt möglich gewesen.

Meine Studie2 thematisiert die Rolle der Arbeitswissenschaft in der NS-Zeit in Universitäten und sonstigen Hochschulen, und darüber hinaus nimmt sie auch außeruniversitäre wissenschaftliche Institutionen in den Blick. Außer den organisatorischen Kontexten untersuche ich auch die Akteure des Wissenschaftssystems in ihrem politischen und wissenschaftlichen Handeln, denn dieses ist durch die jeweiligen Rahmenbedingungen, zu denen auch allgemein politische zählen, nicht voll determiniert, sondern es weist einen gewissen Spielraum mit zwar begrenzter, aber dennoch vorhandener Handlungsautonomie auf. Die Arbeitswissenschaft versteht sich als angewandte Wissenschaft, und daraus resultiert ihr interdisziplinärer Anspruch. Unter diesem Zielkonzept versammeln sich arbeitsbezogene natur- und ingenieurwissenschaftliche sowie sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Disziplinen.

Im Folgenden werde ich einen wichtigen Forschungsausschnitt vorstellen, nämlich das Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie, Mitglied der gleichnamigen Forschungsgesellschaft und der späteren Max-Planck-Gesellschaft. Auch in der Bundesrepublik wurde die Arbeitswissenschaft durch dieses Institut maßgeblich geprägt. Hier interessieren vor allem das Forschungsprofil und einzelne Vorhaben. Da die Forschungen aus der NS-Zeit vielfach keinen radikalen Neuanfang bedeuten, sondern durchaus Kontinuität zur bisherigen oder auch späteren Forschung aufweisen, gilt es diesen Sachverhalt zunächst zu verdeutlichen. Daher richtet sich mein Blick im ersten Schritt auch auf die Forschungssituation in der Weimarer Republik, mit der ich mich bereits Jahre zuvor befasst habe3. In den zwanziger Jahren entwickelte die Arbeitswissenschaft ihr Selbstverständnis und ihre maßgeblichen Forschungsfragen. Die Radikalisierung während der NS-Zeit bestand nun darin, dass bisherige normative Begrenzungen offiziell, häufig auch inoffiziell außer Kraft gesetzt wurden und mithin überschritten werden konnten. Nicht wenige Wissenschaftler nahmen diese Möglichkeiten wahr. Ihre wissenschaftliche Neugier war allemal größer, als es ihre eventuell noch vorhandenen moralischen Skrupel waren. Allerdings führten erst die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu normativer Entgrenzung. Das NS-System verfolgte von Beginn an alle politischen Gegner und verbot mit Ausnahme der NSDAP alle politischen Parteien. Zudem wurden die Gewerkschaften zerschlagen und mithin die demokratischen Errungenschaften wie das Betriebsrätegesetz bzw. Betriebsräte eliminiert. Der imperialistische, die Weltherrschaft anstrebende Drang des totalitären und rassistischen Regimes führte zum Zweiten Weltkrieg, zum Vernichtungskrieg gegenüber der Sowjetunion bzw. Osteuropa und zum Holocaust. Auf diese Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Forschung werde ich mich im Folgenden exemplarisch konzentrieren.

Meinen wissenschaftshistorischen Ausführungen liegt ein doppeltes Motiv zugrunde. Zum einen tragen sie zur Aufklärung über die Vergangenheit bei, zum anderen geht es um die Gegenwart und vor allem auch um die Zukunft. Der Blick in die Vergangenheit kann für aktuelle Gefährdungen sensibilisieren.

Arbeitswissenschaft
in der Weimarer Republik

Die mit der kapitalistischen Industriegesellschaft einsetzende inner- und überbetriebliche Rationalisierung und die damit einhergehende Gründung einschlägiger Organisationen war ein wichtiger Impuls für die Entwicklung der Arbeitswissenschaft. Der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit hat vielfältige Erscheinungsformen. Für die betriebliche Ebene lässt er sich wie folgt darstellen: Während der Unternehmer bzw. das Management von den Beschäftigten eine größtmögliche Produktion von Gütern und Dienstleistungen mit einer bestmöglichen Qualität erwartet, können die ArbeitnehmerInnen nicht an einer solchen unternehmensseitig erwünschten, tendenziell maximalen Verausgabung ihrer Arbeitskraft auf Dauer interessiert sein, denn dadurch besteht die Gefahr eines frühzeitigen Verschleißes und mithin der Verlust der Erwerbsfähigkeit. Insofern handelt es sich um einen Gegensatz zwischen kurz- und langfristigen bzw. längerfristigen Interessen. Dieser krasse Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, typisch für die Phase der Frühindustrialisierung, ist durch den Kampf und Erfolg der Arbeiterbewegung, durch sozialstaatliche Entwicklungen und durchaus auch durch Maßnahmen einiger sozialorientierter Unternehmer zwar heute gemildert, aber keineswegs aufgelöst. Das zeigt sich besonders augenfällig darin, dass arbeitsbedingte Belastungen und Beanspruchungen nicht nur weiterhin existieren, sondern durch den vielfach globalen Wettbewerbsdruck sogar zunehmen.

Die Verdichtung von Arbeit begann, als eine Verkürzung der überlangen Arbeitszeiten während der Frühindustrialisierung, etwa 14 bis 16 Stunden, sich als zwingend erwies, denn beispielsweise waren Jungen nicht mehr wehrfähig und junge Frauen nicht mehr gebärfähig, da ihre Gesundheit schon beschädigt war.

Das System der Wissenschaftlichen Betriebsführung, nach seinem Begründer Frederick Winslow Taylor (1856-1915) auch als Taylorismus bekannt geworden, trieb die Intensivierung voran, indem die Arbeitsteilung zur Arbeitszersplitterung erweitert und vertieft wurde, d.h. Planung, Ausführung und Kontrolle getrennt und unterschiedlichen Arbeitskräften zugewiesen wurden. Daraus entwickelte sich als eine besondere Form des Leistungsentgelts der Akkordlohn. Die Produktion am Fließband ist der sichtbare Ausdruck dieses Systems, das aber höchst ambivalente Folgen für die Arbeitskräfte hat. Gleichzeitig können den Konsumenten durch die Massenfertigung attraktive Güter wie Autos, Kühlschränke, Radios und Fernseher zu erschwinglichen Preisen angeboten werden.

In der Arbeitswissenschaft gilt Taylor bis heute als ein wichtiger, wenn auch umstrittener Gründer. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Taylorismus von der Wissenschaft und den Gewerkschaften kritisiert. Es wurde argumentiert, dass für die Arbeitskräfte das System einerseits Arbeitserleichterungen und Lohnsteigerungen bringen und andererseits Arbeitsverdichtung, Lohnsenkung, Hierarchisierung der Arbeiterschaft, Erwerbslosigkeit und Entleerung der Arbeit erzeugen könne. Die zunächst ablehnende Haltung der Gewerkschaften veränderte sich durch die Kriegsniederlage von 1918 grundlegend. Unternehmerische Maßnahmen der Produktions- und Produktivitätssteigerung wurden als notwendig anerkannt, um die desolate Lage der abhängig Beschäftigten zu verbessern, was für die Unternehmen zugleich bedeutete, internationale Wettbewerbsfähigkeit wieder zu erringen. Weitgehend wurde daher die Forderung akzeptiert, dass der Einsatz der Arbeitskraft rationeller als bisher gestaltet werden müsse. Neben der Technik rückte von nun an auch die Arbeitsorganisation in das Blickfeld betrieblicher Rationalisierung. In Deutschland verlief die Einführung des Taylorismus zwar zunächst weit weniger dramatisch, als die seinerzeit so intensiv geführte Diskussion vermuten lässt. Erst in der NS-Kriegswirtschaft wurde dieses System der Massenproduktion auf breiter Front umgesetzt, um schließlich in der Bundesrepublik den Massenkonsum zu befördern.

In der damaligen Debatte um die Steigerung der Arbeitsleistung distanzierten sich die Vertreter zentraler arbeitswissenschaftlicher Disziplinen wie der Betriebswissenschaft bzw. der Ingenieurwissenschaft, der Physiologie und der Psychologie von der Wissenschaftlichen Betriebsführung. Taylor, so ihre Argumentation, orientiere sich letztlich an Maximalleistungen und betreibe dadurch Raubbau am Menschen. In den Diskussionen tauchten unterschiedliche Begriffe auf, etwa physiologische Rationalisierung, psychoenergetisches Optimum, Optimalisierung, Arbeitsbestgestaltung. Sie können als Leitbild gelten. Gleichwohl waren sich die Vertreter der Wissenschaft trotz aller anders lautenden Rhetorik in der Mehrzahl bewusst, dass die betriebliche Praxis eher Maximal- denn Optimalleistungen anstrebt. Es geht ihr stets um Kosten- und nicht um Kraftersparnis. Für die Arbeitswissenschaft als angewandte Wissenschaft bedeutet diese Tatsache, dass deren Vertreter stets der Spannung zwischen Optimum und Maximum ausgesetzt sind. Da sie nicht wie das Management und der Betriebsrat direkte betriebliche Akteure sind, ist ihr Einfluss bei der Arbeitsgestaltung zudem eher indirekter Art. Sie können in der Regel nicht damit rechnen, dass ihre Empfehlungen unmittelbar umgesetzt werden. Die Umsetzung war und ist zumeist erst Ergebnis eines Verhandlungsprozesses zwischen den maßgeblichen betrieblichen Akteuren. Die diesbezüglichen Erfahrungen wissenschaftlicher Experten sind daher insgesamt durchaus ernüchternd, denn Verbesserungen der Arbeitsbedingungen gehen - wie schon angedeutet - in der Regel zugleich mit einer Verschlechterung einher. Insofern ist der betriebliche Rationalisierungsprozess grundsätzlich von erheblichen, auf unterschiedlichen Interessen basierenden Widersprüchen geprägt. Eine Intensivierung der Arbeit kann für die Arbeitskraft Gesundheitsverschleiß und aufgrund der gewachsenen Arbeitsproduktivität auch Erwerbslosigkeit bedeuten. Die diesbezüglichen Folgekosten trägt nicht das Unternehmen, sondern die Volkswirtschaft insgesamt. Diese drei nicht immer, aber doch häufig widersprüchlichen Interessen sind seither leitende Gesichtspunkte in den Debatten über Rationalisierung und deren Folgen, wobei heutzutage auch ökologische Aspekte und Interessen der Zweiten und Dritten Welt immer stärker zu berücksichtigen sind.

Arbeitswissenschaft im NS

Von Beginn an galten in der Arbeitswissenschaft vor allem die physiologischen und psychologischen Faktoren als maßgeblich bestimmend für die Leistungsfähigkeit der Arbeitskräfte. Bis heute stellen sie wichtige Untersuchungsaspekte dar. Mit dem Ende 1912 gefassten Beschluss der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, unter ihrem Dach ein Ins­ti­tut für Arbeitsphysiologie zu gründen, erhielt diese Forschungsrichtung früh einen institutionellen Rahmen. Das Institut, zunächst in Berlin angesiedelt und Ende der zwanziger Jahre ins Ruhrrevier nach Dortmund, dem industriellen Zentrum Deutschlands, verlagert, entwickelte sich zu einer der wohl wichtigsten Einrichtung arbeitsphysiologischer Forschung. Professor Dr. Edgar Atzler (1887-1938), der von 1926 bis zu seinem Tod 1938 die Leitung des Instituts innehatte, war einer der herausragenden Physiologen seiner Zeit und gilt als Begründer einer physiologischen Arbeitswissenschaft.

An den Forschungen dieses Instituts lässt sich aufzeigen, wie die klassischen Themen von Arbeitsphysiologie und -psychologie - das Institut erhielt später auch eine psychologische Abteilung - im Verlauf der NS-Herrschaft radikalisiert wurden, und zwar in dem Sinne, dass bisherige, bereits in der antiken Philosophie entwickelte, im Prozess der Aufklärung bekräftigte und als verbindlich erklärte normative Standards außer Kraft gesetzt wurden.4 Eine solche zügellose Jagd nach Wissen war in der NS-Zeit keine Ausnahme, sondern in der Wissenschaft weit verbreitet. Dass noch letzte moralische Hemmungen ziemlich leicht beiseite geräumt wurden, hat auch mit folgendem allgemeinem Umstand zu tun. In der Forschung Tätige können durch ihren maßlosen Wissensdurst sich selbst, ihre private Lebenswelt vernachlässigen, bisweilen sogar schädigen und dabei eine durchgängige Rücksichtslosigkeit entwickeln, die sich schließlich auch gegen berufsethische Forderungen richtet. Sie können sich so in Besessene verwandeln. In der monomanischen Suche nach Erkenntnis werden dann nur allzu leicht alle normativen Maßstäbe suspendiert. Dieser potentielle Widerspruch, ja Konflikt - nicht immer manifest, sondern eher latent - ist durchaus typisch für die Rolle der WissenschaftlerIn, der For­scher­In. Insofern handelt es sich um allgemeine und nicht nur um spezifische berufliche Gefährdungen in einer Ausnahmesituation wie der NS-Zeit. Als Folge verschärften Wettbewerbs im Zuge der Globalisierung wird heutzutage eine Beschleunigung des Innovationsprozesses gefordert. Dadurch erhöht sich die Konkurrenz im Wissenschaftsbetrieb, so dass das Risiko für moralisches Fehlverhalten ebenfalls zunimmt. Dafür gibt es immer wieder empirische Belege wie etwa die aktuelle Beteiligung von Medizinern der Universität Freiburg am Doping im Radsport. Dieser Sport symbolisiert das heute allgegenwärtige Prinzip der Beschleunigung, die Forderung nach ständig steigendem Tempo besonders augenfällig. Als Folge dessen sind die SportlerInnen einem starken Leistungsdruck ausgesetzt. Andererseits steigen in einer Gesellschaft, die sich seit dem Aufstieg des Kapitalismus als Leistungsgesellschaft versteht - wobei sich Zeit grundsätzlich in ein knappes Gut verwandelt -, solche Menschen zum gesellschaftlichen Vorbild auf, sofern die Schattenseiten ihrer Existenz nicht allzu offen zutage treten. Sie werden als Leistungsträger, als Leistungselite gefeiert und geehrt und zu einer gesellschaftlichen Identifikationsfigur erhöht.

Offiziell distanzierten sich die Wissenschaftler des Instituts für Arbeitsphysiologie auch während der NS-Herrschaft von der Forderung nach Maximalleistungen und hielten das Prinzip der Optimalleistung hoch. Ja mehr noch, sie beschworen immer wieder das Prinzip der Wertfreiheit und stilisierten das Institut zu einer „Pflegestätte unabhängiger Forschung". Dieses Selbstverständnis, größtenteils Selbsttäuschung, wurde auch in der Nachkriegszeit aufrechterhalten und gepflegt. Vor dem Hintergrund des eben erwähnten Dopingskandals im Radsport - im Sommer 2007 wird das langjährige Kartell des Schweigens endlich aufgebrochen - kann nicht erstaunen, dass schon damals die Leistungsforschung nicht allein die industrielle Arbeit zum Gegenstand hatte, sondern auch für Sport und Militär gleichermaßen relevant war. Das signalisiert auch der Titel der von Atzler herausgegebenen Publikation „Arbeitsphysiologie. Zeitschrift für die Physiologie des Menschen bei Arbeit und Sport", die 1929 gegründet wurde. Einen weiteren Hinweis bietet die Tatsache, dass mit Kriegsbeginn das Fach Arbeits-, Sport- und Wehrphysiologie im Verbund flächendeckend an den deutschen Hochschulen gelehrt wurde. Bereits 1935 wurde die Aufnahme leistungs- und wehrmedizinischer Themen in die Lehrinhalte von Seiten des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung angeordnet.

Die Möglichkeiten der Leistungsforschung verbesserten sich nachhaltig, zumal es während der NS-Herrschaft bis zur Befreiung durch die alliierten Truppen zu einem erheblichen und kontinuierlichen Anstieg der öffentlichen Forschungsmittel für die Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kam. Betrug beispielsweise die Zahl der Mitarbeiter im Institut für Arbeitsphysiologie 1933 noch 25, so erhöhte sich deren Zahl bis 1943 auf 93. Die Leistungsforschung eröffnete die Chance, grundlegende Kenntnisse über die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit zu gewinnen. Darin bestand die Attraktivität für die beteiligten Wissenschaftler. Erst die ethische Entgrenzung ihrer Forschung ermöglichte es ihnen, in wissenschaftliches Neuland vorzudringen. Es waren zuvörderst diese Interessen, die sie motivierten, und nicht die immer wieder geäußerte Hoffnung, die Verhältnisse, d.h. die Arbeits- und Lebensbedingungen der ZwangsarbeiterInnen, durch Forschung verbessern zu können. Eine solche Erwartung war angesichts der Gesamtsituation illusionär, zumal schon die bisherigen Erfahrungen mit betrieblichen Gestaltungsvorschlägen die Wissenschaftler längst eines anderen belehrt hatten. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass weder in demokratisch verfassten Gesellschaften, die unterschiedliche Interessen anerkennen und zahlreiche Arenen der Verhandlung aufweisen, noch in autoritären oder gar totalitären gesellschaftlichen Ordnungen eine umstandslose Umsetzung von Wissenschaft erfolgt, denn die Umsetzung ist stets an eine wie auch immer politisch legitimierte Willens- und Entscheidungsfindung gebunden. Das heißt, dass erst die zuständigen Personen in den Unternehmen selbst über eine mögliche Umsetzung entscheiden und nicht die ForscherInnen. Das NS-System versetzte die Unternehmer zusammen mit dem Management wieder in eine uneingeschränkte betriebliche Macht- und Herrschaftsposition, wie sie im Obrigkeitsstaat gegolten hatte. Mit Hilfe von Top-Down-Strategien war es nun im Prinzip möglich, betriebliche Forschung durchzusetzen und deren Ergebnisse umzusetzen.

Forschung: Leistungssteigerung

Die Massenerwerbslosigkeit der Weltwirtschaftskrise am Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre war um die Mitte des Jahrzehnts überwunden, wozu die Aufrüstungsprogramme der Nationalsozialisten erheblich beigetragen hatten. Nun rückte neben der Verlängerung der Arbeitszeit deren Intensivierung in das Zentrum des Forschungsinteresses. Es entwickelte sich kein neues Forschungsfeld, als in diesem Zusammenhang die Wissenschaftler des Instituts für Arbeitsphysiologie auch pharmakologische Substanzen wie Alkohol, Koffein, Nikotin, ferner Phosphat, Lecithin, Colanuss, Vitamine, Traubenzucker und Pervitin sowie auch Narkotika, etwa Kokain, Morphium, Meskalin, Haschisch und Schlafmittel hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Arbeitsleistung und deren Steigerung offensichtlich verstärkt erforschten. Häufig handelte es sich um Aufträge pharmazeutischer Hersteller. Die Anzahl der Versuchspersonen war wegen der gesundheitlichen Gefährdungen klein, vielfach waren es Einzel- und Selbstversuche. Die Forscher konstatierten nahezu durchgängig eine Steigerung der Leistungsfähigkeit, die insofern allerdings eine Gefahr darstelle, als die subjektiven Grenzen des Nichtmehrkönnens hi­naus­ge­scho­ben und die Leistungsreserven verbraucht würden, die normalerweise der Organismus als Schutz gegen eine zu weit gehende Ausschöpfung zurückhalte. Sie wiesen außerdem darauf hin, dass es sich teilweise um Doping handele, d.h. eine momentane Leistungssteigerung, ja Höchst­leis­tung führe bei dauerhafter Anwendung zur Schädigung des Körpers, und zudem bestehe die Gefahr der Gewöhnung bzw. der Sucht. Dennoch wurde in den diesbezüglichen Veröffentlichungen das Hintanstellen der Gefährdungen in bestimmten Ausnahmesituationen gerechtfertigt, etwa im Krieg, wenn es darum gehe, einmalig Maximalleistungen zu erbringen, der Raubbau erfolge dann im Interesse übergeordneter Ziele.5 So fand beispielsweise Pervitin, obwohl die Suchtgefahr bekannt war, in allen militärischen Bereichen faktisch eine uneingeschränkte Anwendung. Die Wirkung des Pervitin wird in einem Dokument so beschrieben: „Nach Einnahme von 1-5 Tabletten schwinden Schlafbedürfnis und Müdigkeit, statt dessen treten Arbeitslust, Aktivität, Redefluss und Wohlbefinden auf; werden die Tabletten am Abend genommen, so kann man die ganze Nacht ohne Müdigkeit durcharbeiten in voller Leistungsfähigkeit und bei erhaltener Arbeitskraft (...). Es ist z.B. ganz auffallend, wie stark die Arbeitskraft gerade bei Personen, welche träge und unlustig bei der Arbeit sind, gehoben wird".6 Versuche mit Landarbeitern, so in einem weiteren Dokument, dessen Herkunft nicht identifizierbar ist, nachzulesen, führten zu folgendem Ergebnis: Eine große Zahl bekomme Pervitin und arbeite regelmäßig 36 Stunden, nach sieben Stunden Schlaf werde wieder 36 Stunden durchgearbeitet. Die Arbeiter würden das Mittel fordern, um durch Überstunden ihren Verdienst zu erhöhen.7

Bei den Forschungen über Ernährung und Leistung handelt es sich ebenfalls um ein Thema, das bereits in den ersten Jahren des Instituts aufgegriffen worden war. Wie schon im Ersten Weltkrieg erfuhr dieses Forschungsfeld nun auch vor, im und nach dem Zweiten Weltkrieg einen enormen Bedeutungszuwachs. Fragen der Ernährung wurden zu einem Thema ersten Ranges, weil die mangelhafte Ernährung während des Ersten Weltkrieges als eine wesentliche Ursache für Kriegsmüdigkeit und die Entstehung einer politischen Opposition angesehen wurde. Mit Hilfe von Ausbeutung und Vernichtung der Bevölkerung in den eroberten Ländern wurden die Deutschen bis Kriegsende einigermaßen ausreichend ernährt. Mit Ernährungsfragen war zeitweilig das gesamte Institut beschäftigt, und zwar unter der Federführung des Ernährungsphysiologen Professor Dr. Heinrich Kraut (1893-1992). Dieser trat schon vor dem Krieg als Herausgeber eines Volkskochbuches für das rheinisch-westfälische In­dus­trie­ge­biet hervor. Mit Beginn und im Verlauf des Krieges wurden nach Dokumentenlage verschiedene Untersuchungen mit Zwangsarbeitern über die Bedeutung der Kalorienzufuhr für Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft durchgeführt. Dem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis der Forscher entsprechend handelte es sich um experimentelle Untersuchungen, die nicht im Labor, sondern im betrieblichen Feld stattfanden. Schon früh hatte sich in der Arbeitswissenschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass Ergebnisse von Laborexperimenten nicht ohne weiteres auf die betriebliche Realität übertragen werden können. Eine der umfangreichsten, vom Reichsernährungsministerium geförderten Untersuchungen mit 6.800 Zwangsarbeitern fand 1944 in Unternehmen des Ruhrgebiets statt. In den Nürnberger Prozessen der Alliierten gegen Kriegsverbrecher wurden Zwangsarbeiter als Sklavenarbeiter bezeichnet. Das war mitnichten eine Übertreibung, da deren Arbeits- und Lebensbedingungen insgesamt, also auch hinsichtlich der Ernährung, katastrophal waren. Die Forscher verlangten, die Versuchspersonen der Studie, die in den Genuss einer Ernährungszulage kamen, von den übrigen Zwangsarbeitern getrennt zu halten, um Tauschgeschäfte zu unterbinden. Es wurde nach vier Wochen eine Leistungssteigerung in bestimmter Höhe erwartet. Falls diese Steigerung nicht eintrat, wurde die Ernährungszulage wieder entzogen. Ein Ergebnis dieser Untersuchungen war, dass mit der Zulage die Leistungsbereitschaft bisweilen derart stark anstieg, dass ein Gewichtsverlust eintrat und die Untersuchungen abgebrochen werden mussten, weil diese Arbeitsintensität auf Dauer zum völligen Zusammenbruch der Arbeitskräfte geführt hätte. Ein vergleichbares Resultat war ­bereits zuvor bei der Gewährung von Prämien in Form von Zigaretten für hohe Leis­tun­gen festgestellt worden. Auch mussten Zwangsarbeiter erst hochgepäppelt werden, d.h. ihr Körpergewicht musste durch eine bessere Ernährung angehoben werden, um überhaupt an den Experimenten teilnehmen zu können. Eine solche Strategie, nämlich letztlich die Vernichtung durch Arbeit, wurde in den NS-Arbeitsprogrammen für alle Kategorien von Zwangsarbeitern jedoch gezielt und durchgängig verfolgt. Dass einzelne Unternehmer bzw. Unternehmen zusätzliche Nahrung bereitstellten und die Arbeitsbedingungen insgesamt erträglicher waren, was auch mit der Branche zu tun hatte, änderte an der Gesamtsituation nichts. Ein an dieser Forschung beteiligter wissenschaftlicher Mitarbeiter, der die Betriebe besuchte und den Fortgang der Untersuchung kontrollierte, beschrieb in seinem Protokoll die Lage der Zwangsarbeiter hinsichtlich Ernährung, Gesundheit, Kleidung und Unterkunft als äußerst miserabel. Die Zahl der Versuchspersonen verringerte sich durch Flucht, Selbstverstümmelung und Sabotage um etwa 200. Kraut beklagte als Leiter der Untersuchung zwar das verkleinerte Sample, konstatierte aber zugleich erleichtert, dass für die statistische Auswertung dieser Verlust zu vernachlässigen sei, denn es handele sich gleichwohl um - so seine Wortwahl - „einwandfreie Befunde". Mitnichten zu vernachlässigen sind jedoch die forschungsethischen Probleme. Darüber schweigen die Untersuchungsberichte, die von der menschlichen Not, Verelendung, ja Vernichtung durch Arbeit abstrahieren. Über die darüber hi­naus gehende Degradierung der Zwangsarbeiter - nämlich zu bloßen Untersuchungsobjekten - findet sich in den Protokollen ebenfalls kein Wort.

Dieses immense Erfahrungswissen ist zumindest ein Faktor, der die rasante Nachkriegskarriere Krauts zum international anerkannten Ernährungsexperten vom Dritten Reich in die Dritte Welt, so als Präsident der Welthungerhilfe, mit erklärt. Auch diese steile Karriere ist für die Bundesrepublik nicht untypisch, sondern lässt sich durch zahlreiche Beispiele belegen.

Anmerkungen

1) Weibliche Endungen sind nicht immer opportun, da Frauen erst ca. seit den 70er Jahren eine nennenswerte Rolle in der Wissenschaft spielen.

2) Raehlmann, Irene (2005): Arbeitswissenschaft im Nationalsozialismus. Eine wissenschaftssoziologische Analyse, Wiesbaden: VS

3) vgl. Raehlmann, Irene (1988): Arbeitswissenschaft in der Weimarer Republik. Eine wissenschaftssoziologische Analyse. Opladen: Westdeutscher Verlag

4) vgl. Raehlmann 2005: 98 ff.

5) vgl. ebd.: 115

6) zitiert nach: ebd.: 115

7) vgl. ebd.: 115

 

Irene Raehlmann lehrt als Professorin Arbeitswissenschaft an der Otto-Friedrich Universität Bamberg. Sie ist dort Vertrauensdozentin der Hans-Böckler-Stiftung. 2006 erhielt sie für ihre Studie „Arbeitswissenschaft im Nationalsozialismus – Eine wissenschaftssoziologische Analyse“ den Hans-Martin-Preis des Instituts für Arbeitswissenschaft der Universität Kassel.