Vive la France!

November 2005: SPD und CDU verständigen sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf, die Probezeit beim Einstieg in einen Job auf zwei Jahre zu verlängern. Öffentliche Reaktion? Gleich null ...

... Gewerkschaftlicher Protest? Nicht existent, schließlich habe man den Kündigungsschutz ja verteidigt. Mit Ausnahme der Probezeit eben. Da kann ohne Angaben von Gründen geheuert wie gefeuert werden. Faktisch gedenkt die Bundesregierung also, alle (neuen) Beschäftigungsverhältnisse generell zu befristen und zudem die Beschäftigten in dieser Zeit rechtlos zu stellen. Aufregen tut das hierzulande kaum jemanden.

Mitte Januar 2006: Die französische Regierung plant einen Neueinstellungsvertrag für Jugendliche unter 26 Jahren (CPE), der für die Dauer von zwei Jahren den Kündigungsschutz aussetzt. Die erst immer Sommer 2005 dekretierten Lockerungen des Kündigungsschutzes für Kleinbetriebe soll flächendeckend auf Jugendliche ausgeweitet werden. Und damit ist das Ende der Parallelitäten erreicht, denn ab Februar ist in Frankreich der Teufel los: Millionen von DemonstrantInnen im ganzen Land, bestreikte Schulen, Barrikaden vor den Universitäten, in 50 von insgesamt 84 Unis geht nichts mehr. Brennende Autos, prügelnde Bereitschaftspolizei, besetzte Straßen und Bahnhöfe. Und in dieser Dynamik Aufrufe zum Generalstreik, tägliche Massenmeetings und immer mehr Leute auf den Straßen.

Dabei geht es in Frankreich offensichtlich nicht um Revolution und Sozialismus. Analogien zum Pariser Mai 1968 sind nur vordergründig. Es geht um die ganz banale Absicherung und den Schutz der Ware Arbeitskraft. Es ist ein ganz normal-reformistisches ArbeitnehmerInnenbewusstsein, das die Jugendlichen in die Rebellion treibt: Sie wissen, dass sie ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, wenn sie leben wollen. Bei 22,5 Prozent Jugendarbeitslosigkeit wissen sie, wie schwer das ist und wie wichtig es ist, nicht in Wegwerf-Jobs zu landen. Die allermeisten SchülerInnen und StudentInnen sind keine Linksradikalen. Sie gehen davon aus, dass sie als Lohnabhängige ihren Platz in der Gesellschaft finden. Allerdings bestehen sie auf einem solchen Platz, und sie bestehen darauf, dass dieser Platz sehr wohl menschenwürdig, _anständig_ ist. Sie finden, dass sie darauf ein Recht haben. Der Anti-CPE-Widerstand in Frankreich zeigt, zu welch radikalen Formen man greifen muss, wenn man heute nur ganz banale ArbeiterInnenrechte und Sozialstandards verteidigen will. Ob in den radikalen Formen auch radikalere Inhalte entstehen, wird sich zeigen.

Der simpelste sozialstaatliche Reformismus braucht also heute andere, radikalere Durchsetzungs- und Vermittlungsformen. Von dieser Botschaft aus Frankreich sind Gewerkschaften wie soziale Bewegungen in Deutschland weit entfernt. Wieder einmal könnte man am französischen Beispiel über die deutschen Zustände verzweifeln. Die frappierende Diskrepanz zwischen der Parallelität von CPE und zweijähriger Probezeit einerseits und den gänzlich unterschiedlichen Antworten auf den neoliberalen Angriff wirft für die deutsche Linke theoretische wie praktische Fragen auf: nach der unterschiedlichen Funktion von Vermittlungsinstanzen (Gewerkschaften, Parteien, Staat), aber auch nach unterschiedlichen subjektiven Verarbeitungsformen der neoliberalen Erfahrung. Es spricht einiges dafür, dass in Frankreich über alle Zerklüftungen der Arbeitsmärkte und der Prekarisierung hinweg das Bewusstsein sehr viel ausgeprägter ist, dass man letztlich doch auf den gemeinsamen Umstand zurückgeworfen ist, in erster Linie (Lohn-)ArbeiterIn zu sein. In diesem Sinne würden die Kämpfe der französischen SchülerInnen und StudentInnen vor allem einen - wie untergründig auch immer - noch vorhanden Klassenstandpunkt repräsentieren, der in all den Formen prekarisierter Arbeit eben keine Chance, sondern einen Angriff sieht und der demgegenüber auf einer kollektiven Regulierung der Arbeit beharrt.

aus: ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 505/21.4.2006