Eine umstrittene Zwischenbilanz der Lage im Irak und in Afghanistan
Kaum etwas hat die Linke in den letzten Jahren so gespalten wie der US-amerikanische "Krieg gegen den Terror"...
Auch innerhalb der iz3w-Redaktion wurde heftig über die Kriege gegen Afghanistan und Irak gestritten, mit denen die Regime der Taliban und der BaÂ’thpartei gestürzt wurden. Angesichts anhaltender Gewalt in beiden Ländern ist es angebracht, sich die Ereignisse und Debatten der letzten Jahre vor Augen zu halten und eine vorläufige Bilanz zu ziehen.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 führen die USA einen "Krieg gegen den Terror". Man besetzte Afghanistan, nachdem sich die dort herrschenden Taliban geweigert hatten, den mutmaßlichen Hintermann der Anschläge, Osama bin Laden, auszuliefern. Ein neues Regime wurde installiert, das mittlerweile durch eine Verfassung legitimiert, aber angesichts von internationalen Besatzungstruppen, bewaffneten Warlords und weiterhin aktiven Taliban nicht viel mehr als eine Stadtregierung von Kabul ist.
Im Frühjahr 2003 marschierten die amerikanischen und britischen Streitkräfte an der Spitze einer "Koalition der Willigen" dann in den Irak ein und stürzten das Regime Saddam Husseins. Sie protegierten dort einen ebenso widersprüchlich verlaufenden Prozess wie in Afghanistan, der einerseits beispielsweise in eine Volksabstimmung über die neue Verfassung mündete, andererseits auch dieses Land in eine bürgerkriegsähnliche Lage manövriert hat.
All das wäre schon für sich genommen Grund genug, eine Bilanz der heutigen Situation in den "Protektoraten" Afghanistan und Irak zu ziehen. Besondere Brisanz erhält sie jedoch dadurch, dass die internationalistische Linke (nicht nur in Deutschland) ausgehend vom Zweiten Golfkrieg 1991 und vor allem nach dem 11. September die dortigen Vorgänge derart unterschiedlich bewertet, dass einheitliche Grundannahmen des Internationalismus kaum noch zu erkennen sind.
Irritierende Sprechweisen
Schon beim Krieg gegen Afghanistan wurden traditionelle Internationalisten - auch solche, die sich nicht mehr mit den alten antiimperialistischen Weltbildern der 1970er Jahre identifizieren - von neuen Tönen und Thesen überrascht. Beim Kongress der linken Wochenzeitung Jungle World zum 11. September im September 2002 mokierten sich einige der Vortragenden über den "Antiimperialismus der bärtigen Kerls" und diskutierten über Islamismus, Antisemitismus und die "Verdummten dieser Erde". Hier irritierte weniger der Befund, wie reaktionär und gefährlich der Islamismus sei, sondern die Sprechweise. Manche blickten auch schon voraus: "George Bushs Kreuzzug gegen den Terror eröffnet Chancen für Israel und die arabische Welt". "Wer haut wie den Saddam weg?" war eine leitende Fragestellung, und man durfte auch erfahren, dass er nicht nur weggehauen, sondern auch weggehegelt gehörte: "Ca ira, ca ira, le Saddam à la lanterne! Nicht erst nach dem elften September braucht die arabische Welt eine bürgerliche Zivilisation".1
Als im Frühjahr 2003 der Dritte Golfkrieg begann, wurde die Notwendigkeit dieses Krieges von den USA zunächst hauptsächlich mit zwei Argumenten begründet: zum einen sei der Irak verdächtig, Massenvernichtungswaffen herzustellen und zu besitzen, die potenziell gegen Israel, aber auch andere Staaten eingesetzt werden können. Zum anderen sei auch der Irak, ähnlich wie zuvor Afghanistan, auf die eine oder andere Weise in die Terrorattentate des 11.9.2001 verstrickt. Deshalb müsse nun geschehen, was rund zehn Jahre zuvor unterlassen worden war - nämlich den Diktator Saddam Hussein zu stürzen. Der Versuch von Außenminister Colin Powell, von den Vereinten Nationen eine Legitimation für den Krieg gegen den Irak zu erhalten, scheiterte. (Erst zweieinhalb Jahre später räumte Powell ein, dass seine damaligen ‚ArgumenteÂ’ auf Falschinformationen und Lügen beruhten.) Von nun an wurde verstärkt die neokonservative Agenda vom dringend notwendigen "Regime Change" im Irak als Kriegsbegründung in die öffentliche Debatte geworfen.
In der deutschen Linken regten sich die mittlerweile bekannten Reflexe, und die Fanatiker schlugen sich auf die jeweils zu erwartende Seite: Die Antiimperialisten interpretierten den Krieg als einen imperialistischen um Öl, scherten sich wenig um den Terror des Saddam-Regimes, ließen ihren antiamerikanischen Ressentiments freien Lauf und sammelten, nachdem sie den Krieg nicht verhindern konnten, Geld für den "irakischen Widerstand" des jordanischen Terroristen Abu Mussab al-Zarkawi. Die Antideutschen mobilisierten gegen Islamfaschismus und BaÂ’th-Nazismus. Manche von ihnen traten kriegstreiberischer auf als hart gesottene Militärs und sahen im Feldzug gegen das Saddam-Regime einen napoleonischen oder doch zumindest einen, der mit der "Appeasementpolitik" Schluss mache. Man legte Wert darauf, nicht der "postfaschistischen" Volksgemeinschaft der Friedensfreunde anzugehören. Zwischentöne, die gerade in dieser Situation wichtig gewesen wären, wurden kaum noch laut, und wenn doch, wurden sie kaum gehört. Die erregten Debatten entzweiten viele linke Gruppen und Diskussionszusammenhänge.
Positionskämpfe in der iz3w
Auch innerhalb der iz3w-Redaktion führte die Bewertung des 11. September und vor allem des Irakkrieges zu einer Zerreißprobe. Fanatiker hatten wir zwar nicht in unseren Reihen, und doch wurden Diskussionen oft so verbissen geführt, dass sie nicht mehr produktiv waren, geschweige denn eine gemeinsame Stellungnahme zum Ergebnis hatten. Vor und während des Irakkrieges kristallisierten sich innerhalb der iz3w-Redaktion - etwas vereinfacht - zwei unterschiedliche, quantitativ in etwa gleich starke Positionen heraus:
Die kategorische Anti-Kriegsposition stand in fundamentaler Opposition zu den imperialen Ordnungen, wie sie der "Krieg gegen den Terror" herbeigeführt oder zumindest zementiert habe. Sie bezweifelte sowohl eine Verstrickung des Irak in den 11.9. wie die Existenz von Massenvernichtungswaffen. Die KriegsgegnerInnen befürchteten eher eine Ausweitung des islamistischen Terrors als Kriegsfolge denn deren Eindämmung. Hinter den vorgebrachten Gründen der USA vermuteten sie eher traditionell-imperialistische Interessen, etwa am Ölreichtum des Landes, oder das geopolitische Interesse der Herrschaftssicherung. Schließlich stürzten die USA auch anderswo auf der Welt nicht einfach Diktaturen, nur weil sie solche sind, und mit dem Irak des Saddam Hussein hätten die USA lange Zeit eng zusammen gearbeitet. Die zu Recht abgelehnte Herrschaft des BaÂ’th-Regimes abzuschütteln, müsse Sache der IrakerInnen sein, nicht eines militärisch erzwungenen Regime Changes, der ohnehin nur die leeren Versprechungen des westlichen Kapitalismus statt wirklicher gesellschaftlicher Befreiung beinhalte.
Die KriegsgegnerInnen im iz3w wandten sich darüber hinaus explizit gegen die Kriegsbefürworter aus dem antideutschen Spektrum. Letzteren wurde vorgeworfen, durch ihre Wendung zum Bellizismus antimilitaristische und internationalistische Grundpositionen aufgegeben zu haben und der US-Propaganda auf den Leim gegangen zu sein. Den Vertretern der Pro-Kriegs-Position wurde vorgeworfen, jegliche historische Erfahrung der Linken mit "zivilen Heilsbringern" über Bord zu werfen. Die Kriegsgegner im iz3w verwiesen beispielsweise auf die Kritik von Rosa Luxemburg an der deutschen Sozialdemokratie, die sich mit der Befürwortung des Ersten Weltkrieges zum Idioten des deutschen Pickelhaubenimperialismus gemacht habe. Die Slawen müssten vom Joch des Zarismus befreit werden - notfalls auch durch deutsche Bajonette, hatten die Sozialdemokraten damals angeführt. Erst dann wäre eine grundlegende Veränderung möglich. Diese Argumentationslinien der Kriegsbefürworter glichen trotz unterschiedlicher historischer Konstellationen frappierend der Situation beim Irakkrieg.
Die in sich heterogene iz3w-Fraktion der "Äquidistanten" und "Unentschlossenen" stand zwischen allen Fronten. Sie wollte sich nicht auf die Seite der Friedensbewegung stellen, schon gar nicht auf die des irakischen Regimes, aber auch nicht auf die der USA und ihres Krieges. Unter ihnen gab es allerdings Stimmen, die eine Intervention in den Irak nicht ausschließlich negativ bewerteten. Diese bezogen sich hauptsächlich auf jene Gruppen und Einzelpersonen aus dem Kreis irakischer oppositioneller Exilanten, die um jeden Preis die Herrschaft des Saddam Hussein beendet sehen wollten - notfalls mit einer Invasion. Die "Unentschlossenen" verwiesen darauf, dass das amerikanische Projekt des Regime Change immerhin die Verhältnisse in den autoritären arabischen Staaten zum Tanzen bringe: Krieg möge das falsche Mittel sein und seine altruistische Begründung unglaubwürdig, die Befreiung von einer totalitären Schreckensherrschaft sei aber an sich kein falsches Ziel. Die Fraktion der "Unentschlossenen" verwies auf die historische Erfahrung, dass das Saddam-Regime im Krieg gegen den Iran und in Halabja nicht davor zurückschreckt habe, Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Gerade die prekäre Lage Israels, das vom Irak z.B. durch die finanzielle Unterstützung palästinensischer Selbstmordattentäter bedroht werde, müsse mitbedacht werden.
An große Teile der Friedensbewegung, vor allem aber an die Antiimperialisten richteten die "Äquidistanten" im iz3w den Vorwurf, Krieg immer nur mit dem militärischen Vorgehen der USA gleichzusetzen. Indem die Friedensbewegung den jahrzehntelangen Krieg des BaÂ’th-Regimes gegen große Teile der irakischen Bevölkerung weitgehend ignorierte, hätte sie de facto Partei für das Saddam-Regime ergriffen. Der traditionelle Antiamerikanismus der KriegsgegnerInnen führe dazu, dass originär internationalistische Anliegen wie "Freiheit" und "Demokratie", die man z.B. im Falle Lateinamerikas immer gefordert hatte, im Irak vernachlässigt würden. Stattdessen würden viele Friedensbewegte an der Legende vom interessenlosen und friedfertigen Europa mitbasteln.
Außerordentlich gewaltsam
Auch wenn manche in der iz3w-Redaktion unter dem Eindruck der realen Entwicklungen inzwischen Korrekturen an den oben skizzierten Positionen vorgenommen haben, ist wohl jeder Versuch, heute eine Art Zwischenbilanz dieses Krieges und seiner Folgen zu ziehen, mit dem einen oder anderen Wahrnehmungsraster behaftet. So werden etwa die Ursachen für die anhaltende Gewalt im Irak unterschiedlich eingeschätzt. Ist sie direkte Folge des US-Krieges, der Besatzung, des Einsatzes von Phosphorbomben und der davon ausgelösten Gewaltspirale? Oder zeigen die Terroranschläge einmal mehr, wie bitter notwendig es ist, den dafür verantwortlichen mörderischen Ideologien des Islamismus und des BaÂ’thismus entgegenzutreten?
Wenige Differenzen gibt es hingegen darüber, dass die derzeitige Situation im Irak insgesamt negativ zu bewerten ist. Saddam Hussein ist zwar der Macht beraubt und steht inzwischen vor einem Gericht. Das Ende des zentralistischen irakischen Staates, der die verschiedenen Gruppen wie Schiiten, Sunniten und Kurden gewaltsam zusammengehalten hatte, ließ die irakische Gesellschaft jedoch in ethnisch und religiös definierte Interessengruppen zerfallen. Diese sollen nun von der amerikanischen Besatzung zu einem "nationalen Pakt" gebracht werden, mit dem Ziel, im Irak eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. Mittel dazu waren die Wahlen im Frühjahr 2005, aus der - angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Lande wenig verwunderlich - eine von schiitischen Gruppen dominierte Regierung hervorgegangen ist, sowie das Referendum zur Verfassung im Herbst 2005.
Die USA hoffen, mit ihrer Doppelstrategie - einerseits die Errichtung demokratischer Institutionen, andererseits die militärische Niederschlagung derjenigen sunnitischen, baÂ’thistischen und islamistischen Gruppierungen, die auf einen langen Widerstandskrieg gegen die Besatzung setzen - über kurz oder lang in die Lage zu kommen, den Irak verlassen zu können. Diese Strategie scheint jedoch, bisher jedenfalls, nicht aufzugehen. Das Ende des irakischen Zentralstaats hat einen Prozess in Gang gesetzt, der jetzt schon außerordentlich gewaltsam verläuft. Bisher sind 2.000 tote US-Soldaten (laut offiziellen Angaben der US-Regierung) und über 25.000 getötete Zivilisten (deren Zahl nur inoffiziell von der Kriegsgegnerorganisation Body Count Iraq festgestellt wurde) zu beklagen. Ein Ende der Gewalt ist nicht abzusehen. Die gewaltsame Niederschlagung der Terrorgruppen scheint so wenig erreichbar zu sein wie ihre Befriedung.
Die Besetzung Afghanistans und des Irak hat die Büchse der Pandora geöffnet: die Zerschlagung von Al-Qaida in Afghanistan gelang nicht, im Gegenteil schwärmten die Jihad-Kämpfer aus, nicht zuletzt in den Irak. Dort hat der Territorialfürst von Al-Qaida, al-Zarkawi, barbarische Gewalt auf die Tagesordnung gesetzt. Dem amerikanischen "Krieg gegen den Terror" folgte eine Strategie der Angst und des Schreckens, die das "Politbüro" von Al-Qaida bereits im Dezember 2002 unter Bezug auf den Koran androhte: "Tötet die Ungläubigen dort, wo ihr sie findet, bemächtigt euch ihrer, greift sie an." Neben Al-Qaida gibt es noch einen anderen Nutznießer des Irakkrieges: Der Iran, der seinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss im Nachbarland deutlich stärken konnte.
Die angestrebte irakische Ordnungsmacht ist nach wie vor nicht wirklich existent. Wesentliche Geldmittel, für den Wiederaufbau der desaströs maroden irakischen Wirtschaft gedacht, werden für den Unterhalt der Besatzungstruppen gebraucht. Der Plan, mittels der Verfassung zu einem Ausgleich zwischen den Bevölkerungsgruppen zu kommen, gilt den meisten Analysten als gescheitert, obwohl sie formal angenommen worden ist. Die USA und die von ihr protegierte gegenwärtige irakische Regierung bemühen sich, die antagonistischen Bevölkerungsgruppen im gemeinsamen Boot der Verfassung zu halten. Sie gehen dabei Kompromisse ein - Islamisierung des Rechts, Nachsicht gegenüber BaÂ’thisten - die im Widerspruch zur radikalen Demokratisierungsrhetorik stehen. Und die Folterpraxis von US-Army-Angehörigen im Abu Ghraib-Gefängnis sowie ihre Deckung durch die politische Führung zeigten, dass weder Menschenrechte noch eine konsequente Vergangenheitspolitik gegenüber der BaÂ’th-Ära oben auf der US-Agenda standen.
Auch in Afghanistan hat Präsident Karsai längst das Arrangement mit den einstigen Zerstörern des Landes, den Warlords und Mujaheddin, gesucht. Darüber mag und muss man sich empören - allerdings nicht wundern, gehört es doch zum Wesen von Politik, schmerzhafte Kompromisse in einem zerrütteten und zerstörten Land zu schließen. Festzuhalten bleibt aber, dass die neokonservativen Neuordnungspläne für Afghanistan und Irak einer wenig visionären Realpolitik gewichen sind.
Das gilt für die Region insgesamt: Der große US-Plan zur Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens - die "Greater Middle East Initiative" - hat auf dem G-8-Gipfel im Sommer 2004 in Sea Island ein Staatsbegräbnis erster Klasse erhalten. Seitdem gilt ein neuer, von Frankreich und Russland mitgetragener Plan mit dem schönen Namen "Partnership for Progress and a Common Future with the Region of the Broader Middle East and North Africa". In ihm sind die Führer des Nahen Ostens nicht mehr Haupthindernis für Reformen, sondern Partner - zum Entsetzen der Oppositions- und Menschenrechtsbewegungen beispielsweise in Ägypten, Marokko oder Algerien.
Eine Menge in Bewegung
Doch wäre es trotz der vielen negativen Entwicklungen fatal, über die positiven hinwegzusehen. Der Sturz Saddams hat eine Menge in Bewegung gesetzt, und zwar mehr, als die sich immer altruistisch und friedliebend gebende EU-Außenpolitik mit ihrem Dialoggebaren gegenüber autoritären arabischen Staaten jemals erreicht hat. Tahar Ben Jelloun spricht aus, was viele Friedensbewegte und arabische Intellektuelle sich zu denken verbieten: "Paradoxerweise hat sich die arabische Welt wegen des Irak verändert oder besser gesagt, wegen des amerikanischen Gendarmen. Das weltweite Medienspektakel der Festnahme Saddam Husseins in extrem erniedrigender Weise hat einen großen Effekt auf diejenigen arabischen Führer gehabt, deren Legitimation schon vorher brüchig war."
Im Libanon, in Ägypten, im Iran, sogar in Saudi-Arabien regt sich die Opposition mehr denn je. Ein Ende der autoritären Regime scheint auf einmal eine denkbare Option geworden zu sein. Auch wenn die meisten oppositionellen Bewegungen im Mittleren Osten eine islamistische, antiamerikanische und antiisraelische Schlagseite haben (wie z.B. die Kifaya-Bewegung in Ägypten) oder sich explizit liberal-bürgerlich und menschenrechtlich verorten: Gering schätzen sollte man die gegen die Regime gerichteten Veränderungsansätze gerade aus internationalistischer Sicht nicht. Sie sind Suchprozesse von Gesellschaften, in denen Debatten über konkurrierende politische und gesellschaftliche Modelle bisher nur sehr eingeschränkt möglich waren. Obwohl diese Suchprozesse und Bewegungen oftmals keinen ‚Emanzipations-TÜVÂ’ der hiesigen Linken bestehen würden, können sie zumindest teilweise als Schritt in die richtige Richtung gewertet werden.
Dies gilt gerade auch für den Irak selber. Wer angesichts der Zerstrittenheit der einzelnen Gruppen dort keinerlei Fortschritt feststellen mag, möge sich vor Augen halten, dass hier zu einem erheblichen Teil Konflikte ausgetragen werden, die unter Saddam Hussein mit Gewalt unterdrückt worden waren. Das Gerangel um die Machtverhältnisse im neuen Irak ist wenigstens zum Teil auch Ausdruck davon, dass sich viele IrakerInnen nach Jahrzehnten der Agonie und Repression nun als politische Subjekte begreifen. Zwar beherrschen die Terrorgruppen die Schlagzeilen, doch gerade auf Grassroots-Ebene finden politische Prozesse statt, die mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung verdient hätten. Zu nennen sind vor allem die vielen NGOs, die auf lokaler Ebene arbeiten und durchaus erfolgreich die Entstehung zivilgesellschaftlicher Strukturen fördern, etwa in den Bereichen Menschenrechte, Gleichberechtigung, Community Development oder Traumaarbeit.
Ein Beispiel für diese Strukturen ist das Anfang 2005 gegründete Community-Radio Dengue nué (Neue Stimme), das zunächst vom nordirakischen Halabja aus sendet. Die BetreiberInnen sind Überlebende des Giftgasangriffes auf Halabja im Jahr 1988 und haben allesamt Flucht, Exil, Traumatisierung und Rückkehr erlebt. Zielgruppe des Radios sind insbesondere Frauen und Jugendliche. Lange Zeit tabuisierte Probleme wie beispielsweise Gewalt gegen Frauen oder Themen wie Verhütung sollen nun über Dengue nué offen angesprochen werden. Auch andere Projekte und Bildungsprogramme befassen sich damit, etwa die so genannten Frauengeführten Mobilen Teams, die schon seit längerem Frauen medizinische Soforthilfe, psychosoziale Beratung oder Tipps über Gesundheitserziehung anbieten. Nach dem Sturz des BaÂ’th-Regimes konnten diese Teams auch in nunmehr befreiten Städten wie Mossul oder Kirkuk arbeiten. Hier sehen sich die Mobilen Teams jedoch inzwischen der Selbstethnisierung von Araberinnen, Kurdinnen, Turkmeninnen und Assyrerinnen gegenüber, der sie wiederum mit einem gruppenübergreifenden Ansatz entgegentreten.
Die Mehrheit der Kurden und Schiiten (und möglicherweise sogar der Sunniten) begreift das Ende der Herrschaft von Saddam Hussein jedenfalls nach wie vor als Befreiung. Das steht keineswegs im Widerspruch dazu, dass laut Umfragen die meisten IrakerInnen die US-Army und die Briten lieber früher als später aus dem Land hätten.
Moderne? Welche Moderne?
So katastrophal die Lage im Irak vielerorts sein mag - wer bedauert im Ernst das Ende des Saddam-Regimes? Angesichts der aktuellen Widersprüche von Besatzung und Befreiung im Irak bleiben die Dilemmata des Internationalismus die gleichen wie vor dem Krieg: Man möchte die imperiale Kriegslogik nicht siegen sehen, ein Scheitern der neuen Freiheit im Irak kann man jedoch genau so wenig wollen. Man möchte nicht apologetisch bürgerlicher Freiheit und Demokratie mittels einer gewaltsamen Modernisierung das Wort sprechen, aber auch nicht dem traditionellen, meist ökonomisch hergeleiteten Antiimperialismus folgen, der Freiheit für eine bloße Schimäre des Pentagon hält.
Hinter der Beurteilung der Kriege und der Besatzung steht eine andere alte Frage, die nicht minder konfliktträchtig ist: Wie hält es eine internationalistische Linke mit der Moderne, also mit der krisenhaften und oftmals militärischen Durchsetzung des industriellen Kapitalismus, der bürgerlichen Gesellschaft, des demokratischen Verfassungsstaates, von Säkularisierung, Rationalisierung, Individualisierung, Verstädterung, Entfremdung etc.? Und wie hält sie es mit jener Moderne nach dem Ende der gleichfalls modernistischen Alternativen wie dem Sozialismus und im Zeitalter der ökonomischen, politischen und kulturellen Globalisierung im Rahmen westlich-amerikanischer imperialer Herrschaft?
Unabhängig von der Bewertung der "Kollateralschäden" oder -"nutzen" des Krieges stellt sich also auch die Frage, ob - und wenn ja: wie - eine der gegenwärtigen Gesellschaften im Mittleren Osten auf einem anderen Weg in die Moderne finden kann, als ihn die europäischen Gesellschaften über Renaissance, Reformation, Aufklärung hinter sich gebracht haben - also über ein Auseinandertreten der Sphären von Politik und Ökonomie, von Staat und Gesellschaft, von Privatem und Öffentlichem, zumal wenn sämtliche Sphären vom Sakralen durchdrungen sind?2 (Wobei Säkularisierung nicht mit Laizismus zu verwechseln ist: es geht nicht um eine gewaltsame Unterdrückung der Religion wie in der kemalistischen Türkei oder im Irak unter der BaÂ’th-Partei, sondern um das Aufbrechen der sakralen Versiegelung von Staat und Gesellschaft).
Doch auch die Gegenfrage stellt sich sogleich: Warum soll ausgerechnet eine Moderne universale Verbreitung finden, die schon immer durch die Gleichzeitigkeit von Wachstumsprozessen und bitterster Armut, von Menschenrechten und ihrer Missachtung, von Aufklärung und instrumenteller Herrschaft, von Zivilisierung und immer durchsetzungsfähigeren Militärmaschinerien, von individueller Freiheit und Unterordnung unter die Imperative der Kapitalverwertung geprägt war? Die aus den zwei Gesichtern der Moderne erwachsenden Widersprüche verlangen nach einem linken Internationalismus, dessen Anliegen die Kritik der ungleichen und deshalb unfreien Weltgesellschaft unter westlicher Hegemonie und Deutungshoheit bleibt, ohne sich dabei in einer reaktionären Kritik an der Moderne zu verlieren, die noch hinter die Errungenschaften der Aufklärung (so kümmerlich ihre bürgerlichen Formen sein mögen) zurück will.
Ob sich aus der gewaltsamen Zerschlagung des BaÂ’th-Regimes im Irak und der blutigen Vertreibung der Taliban aus Kabul nun offenere Gesellschaften entwickeln oder die furchtbare Tragödie sich fortsetzt, hängt zwar wesentlich von den Menschen ab, die dort leben. Da äußere Bedingungen wie die konkrete US-, EU- und UN-Politik jedoch ebenfalls eine gewichtige Rolle spielen, bleibt aus internationalistischer Perspektive vor allem eine Schlussfolgerung: jene emanzipatorischen Kräfte in den Ländern zu stärken, die jeglicher Kriegs- und Terrorlogik widerstehen. Freiheit und Gleichheit sind in der Geschichte selten durch Bajonette erfolgreich verbreitet und verordnet worden. Und die Demokratisierung eines politischen Systems bedeutet noch lange keine freiere Gesellschaft. Solange junge Frauen und Männer nicht ihren eigenen Lebenspartner aussuchen dürfen, ist der "Herbst der Patriarchen" noch lange nicht angebrochen und Demokratie kaum mehr als ein Regierungssystem.
Anmerkungen:
1 So Thomas Uwer in dem Kongress-Reader "Elfter September Nulleins. Die Anschläge, Ursachen und Folgen" (Hg. Redaktion Jungle World, Berlin 2002).
2 Aufgeworfen hat die Frage jüngst Dan Diner in seinem Buch "Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamische Welt" (Berlin 2005).
Der Artikel ist eine Gemeinschaftsproduktion von Stephan Günther, Georg Lutz, Christoph Seidler, Jörg Später und Christian Stock (alle iz3w). Sie stimmen, wie unschwer zu erkennen ist, in der Bewertung des Irakkrieges nicht immer überein und machen dennoch zusammen diesen Themenschwerpunkt.