Jenseits von Autonomie und Kontrolle.

Migration als eigensinnige Praxis

"Warum lässt man uns nicht einfach reisen? Wir sind weder Banditen noch Diebe noch Dealer. Reisen existiert solange die Menschheit existiert...

"Warum lässt man uns nicht einfach reisen? Wir sind weder Banditen noch Diebe noch Dealer. Reisen existiert solange die Menschheit existiert. [...] Sie können nicht alles kontrollieren. Dazu haben sie keine Zeit" (Yusuf, Sangatte/Frankreich). Diese Aussage eines irregulären Migranten aus dem Nordirak, der sich wie mehrere zehntausend weitere zu Beginn dieses Jahrtausends auf dem Weg nach Großbritannien im Durchgangslager Sangatte in der Nähe des Eurotunnels in Frankreich aufhielt, kann wie folgt interpretiert werden: Aus der Perspektive der neueren theoretischen und antirassistischen Diskussion um die "Autonomie der Migration" wird an Yusufs Statement deutlich, dass sich an der grenzüberschreitenden Praxis der MigrantInnen die Staaten die Zähne ausbeißen, da Migration strukturell nicht steuerbar sei. Auch die politikwissenschaftliche Migrationsforschung erkennt die Zunahme irregulärer Migration als Problem an, folglich stelle irreguläre Migration eine der zentralen gegenwärtigen Herausforderungen für staatliche Souveränität dar; es wird vom "Scheitern" der Migrationskontrollpolitik gesprochen. Die erste Position fokussiert auf die autonomen Praxen der MigrantInnen, die zweite auf den (überforderten) Staat. Diese beiden Pole beschreiben die gegenwärtige theoretische Diskussion um Migration und Migrationskontrolle, mit der wir uns im Folgenden auseinandersetzen. Wir zeigen auf, inwiefern beide Pole einer theoretischen Revision bzw. Reformulierung bedürfen. Im Unterschied zu den beiden Positionen schlagen wir den Begriff der Eigensinnigkeit der Migration vor. Diese Perspektive fängt den überschüssigen und nicht staatlich zu regulierenden Anteil von Migrationsbewegungen ein, ohne eine Autonomie zu behaupten, die wir, gerade vor dem Hintergrund einer feministischen Konzeptionalisierung von Ökonomie und Subjektivität, für einen Mythos bzw. zumindest für missverständlich halten.

Zunächst gehen wir auf die politikwissenschaftliche Migrationsforschung und ihre Defizite ein. Anschließend nehmen wir die Diskussion um die "Autonomie der Migration" und die Frage der Migrationskontrolle auf. Mit Bezug auf ein Konzept zur vergeschlechtlichten globalen Restrukturierung von Politik und Ökonomie und konkreten Beispielen stellen wir dar, warum wir den Begriff der Eigensinnigkeit dem der Autonomie vorziehen.

1. Staatlicher Kontrollverlust: Migrationskontrolle ? im politikwissenschaftlichen Blick

Obgleich internationale Migrationsbewegungen ein genuin internationales Thema sind, beschäftigte sich lange Zeit weder die Politikwissenschaft allgemein noch die Subdisziplin der Internationalen Beziehungen ernsthaft damit. Migrationspolitik galt als innenpolitisches Thema. Mit der Zunahme weltweiter Wanderungsbewegungen im Kontext der Globalisierung erwacht in der Politikwissenschaft seit einigen Jahren jedoch ein Interesse an Migrationspolitik. Im Zentrum der Thematisierung stehen dabei Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten, die Nationalstaaten gegenüber Aus-, aber vor allem Einwanderungsbewegungen haben. So ist in nahezu allen Einwanderungsstaaten eine signifikante Lücke zwischen programmatischen Zielen und tatsächlichen Folgen der Migrationspolitiken feststellbar (vgl. die Länderstudien in Cornelius et al. 2004). Diese Diskrepanz wird auf verschiedene Faktoren zurückgeführt: Der politische Wille fehle den Staaten (Weiner 1995); es herrschten divergierende innenpolitische Interessen (Freeman 1998); die Nachfrage nach billigen und rechtlosen Arbeitskräften bestehe fort und werde durch internationale Verflechtungen begünstigt (Cornelius et al. 1994); einmal in Gang gesetzte Migration lasse sich nicht wie ein Wasserhahn abdrehen und setze sich in Ketten- und Familienmigration fort (Massey et al. 1998); die Verankerung liberaler Rechte in den Einwanderungsländern (Hollifield 2003, Freeman 1995, Joppke 1998) bzw. internationale Menschenrechtsregime (Sassen 1996) beschränkten die Handlungsfähigkeit und ein härteres Durchgreifen der Staaten. Bei diesen Erklärungsmustern für das Scheitern von Migrationskontrollpolitiken steht zumeist ein behaupteter und als bedrohlich empfundener staatlicher Souveränitätsverlust im Mittelpunkt. Daraus leiten Autoren wie der aus der realistischen Denktradition der Internationalen Beziehungen kommende Myron Weiner außenpolitische Sicherheitsrisiken und gesellschaftliche Bedrohungsszenarien ab: "Staaten sind in der Lage, sich gegen Raketen, Panzer und Infanterieattacken zur Wehr zu setzen, sind aber oft unfähig, sich gegen das Eindringen von illegalen Migranten zu verteidigen" (Weiner 1995: 134). Auf politischer Ebene äußert sich diese Position in der verschärften Absicherung von Grenzen und Überlegungen militärische Interventionen zur Verhinderung von Migrationsbewegungen zu benutzen.

Wir sehen folgende Defizite in der politikwissenschaftlichen Diskussion: a) ein eingeschränktes Verständnis von Migrationskontrolle, b) die Fixierung auf den Staat als Akteur, c) die Trennung von Staat und Ökonomie und damit verbunden ein statisches Staatsverständnis sowie d) die Nichtberücksichtigung des Wandels von Staatlichkeit.

a) Die Analyse staatlicher Migrationskontrollpolitiken und ihr "Scheitern" ist wichtig, aber verstellt aufgrund der Fixierung auf die repressiven Maßnahmen der Staatsapparate zur Verhinderung von Einwanderung den Blick auf Bereiche, in denen Migrationspolitiken nichtsdestotrotz ihre Wirkung zeigen. Was ist unter Politiken der Migrationskontrolle zu verstehen? Migrations(kontroll)politik ist zunächst einmal die Einwanderungsgesetzgebung eines Landes. Diese setzt Regeln der Ein- und Ausreise in und aus einem staatlichen Territorium in ein anderes. Es gibt ein menschenrechtlich verbrieftes Recht auf Ausreise, nicht aber auf Einreise in einen anderen Staat (vgl. Benhabib 1999: 104-108). Internationale und regionale (z.B. EU, NAFTA) Abkommen und Migrationsregime fallen ebenfalls unter diese Kategorie. Auch die Konditionen des Aufenthalts von "AusländerInnen" werden migrationspolitisch geregelt. Des weiteren wird der Zugang von Nicht-Staatsangehörigen zu sozialen und politischen Rechten bestimmt. Zu ersteren zählt etwa der Zugang zu sozialen Sicherungssystemen, zu letzteren das passive und aktive Wahlrecht. Inwiefern ein legaler Aufenthalt auch das Recht von Familienangehörigen auf Einwanderung nach sich zieht und wie weit "Familie" gefasst wird, wird ebenfalls durch die Migrationspolitik geregelt. Darunter fallen auch die unter dem Schlagwort der Integration zu subsumierenden Maßnahmen. Dabei geht es um Fragen der multikulturellen Gesellschaft, der Minderheitenrechte und der Antidiskriminierung. Betrachtet man den Geltungsbereich all dessen, was Migrationspolitik umfasst, so wird deutlich, dass es bei Migrationspolitiken darum geht, wie sich ein Nationalstaat selbst definiert. Mit der politikwissenschaftlichen Diagnose des Scheiterns von Migrationskontrolle ist jedoch meistens allein die mangelnde Kontrolle über die Einreise in das staatliche Territorium und damit das schlichte Faktum der physischen Einwanderung gemeint. Nicht beachtet wird dabei, dass die (Ausländer-)Gesetze jenseits der Grenzüberschreitung fortbestehen und sich MigrantInnen, auch die mit einem mehr oder weniger gesicherten Aufenthaltsstatus, in einem ständig prekären politischen und sozialen Raum bewegen. Dies wurde Anfang 2005 deutlich als in Deutschland allein rund 50.000 Deutschen türkischer Herkunft die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt wurde, da sie ihre türkische Staatsangehörigkeit wiederbeantragt hatten.

b) Charakteristisch für die politikwissenschaftliche Diskussion ist die Fokussierung auf den Nationalstaat als Akteur. Diese Perspektive ist u.E. nicht nur aus politischer, sondern auch aus wissenschaftstheoretischer Sicht problematisch, da die Politikwissenschaft nicht ihre eigene Positioniertheit reflektiert und damit erstens an einem "methodologischen Nationalismus" (Wimmer, Glick Schiller 2002) festhält. Zweitens sind MigrantInnen in diesem Diskurs vom souveränen Staat - gegebenenfalls unter Zuhilfenahme internationaler Abkommen - zu steuernde Objekte. Aufgrund der Organisation des Wissens und die Analyseperspektive stellt die Politikwissenschaft sich dabei nicht nur auf die Seite des Staates, sondern reproduziert die Entsubjektivierung von MigrantInnen. Mit dem so generierten Wissen werden neue Formen des Migrationsmanagements als scheinbar progressive Politiken im Stil einer "problem solving theory" (Cox 1986) empfohlen. Eine grundlegende Problematisierung von Migrationskontrolle bleibt aus. Die politikwissenschaftliche Debatte ist ein gutes Beispiel für die Reproduktion von Herrschaftswissen.

c) Ein weiteres Kennzeichen ist die Gegenüberstellung von (staatlicher) Politik und Gesellschaft/Ökonomie als zwei voneinander getrennte Bereiche, wobei letzterer durch ersteren kontrolliert werden soll. Die Ursache für das "Scheitern" wird folgerichtig entweder in einer mangelhaften staatlichen Implementierung oder im Wirken von Marktkräften gesehen. Demgegenüber begreifen wir Migration und Versuche ihrer staatlichen Regulierung als ein gesellschaftliches Aushandlungsfeld, auf dem verschiedene Akteure wirken. Dem Staat kommt dabei weiterhin eine wichtige Rolle zu, insbesondere das Gewaltmonopol und die letztendliche Kontrolle über den Gewaltapparat, jedoch fassen wir ihn mit Nicos Poulantzas "als strategisches Feld und strategischen Prozess [...], in dem sich Machtknoten und Machtnetze kreuzen, die sich sowohl verbinden als auch Widersprüche und Abstufungen zeigen" (Poulantzas 2002 [1977]: 167). Diese Perspektive erlaubt staatliche Migrationskontrolle kontextualisierter zu denken. So ist die lange Zeit geringere Kontrolldichte an Montagen entlang der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze oder die relative Durchlässigkeit von südeuropäischen Grenzen "kein Symptom südländischer Mentalität, sondern Ausdruck von Lücken, die durch Kräfteverhältnisse entstehen" (Karakayali/Tsianos 2005: 50).

d) Auch das Verhältnis von Migration, Staat und Nation sowie der Wandel von Staatlichkeit müssen mit in die Analyse von Migrationskontrollpolitiken einbezogen werden. Für die Problematik von Migration und Nationalstaat stellt Étienne Balibar - ebenfalls mit Bezug auf Poulantzas - die Kopplung von sozialen Rechten und Staatsbürgerschaft als zentrale gesellschaftliche Konfliktlinie heraus. Die politische Form desjenigen Nationalstaates, in dem soziale Rechte "national-sozial" (Balibar 2001) organisiert sind, ist als historischer Kompromiss zu verstehen, der angesichts der postfordistischen Transformation von Staatlichkeit brüchig wird. Soziale Rechte gewinnen angesichts eines Wandels hin zum "nationalen Wettbewerbsstaat" (Hirsch 1995) auch für die breite Masse der nationalen StaatsbürgerInnen den Anschein von zu verteidigenden Privilegien, die staatlich verfasste ‚VolkssouveränitätÂ’ erscheint im Globalisierungsdiskurs prekär. Neoliberale Politiken verändern den Gehalt der Staatsbürgerschaft weg von einer sozialen Absicherung hin zu einem Leitbild der BürgerInnen als KonsumentInnen und SteuerzahlerInnen. Die soziale Sicherung wird damit mehr und mehr zur Aufgabe des Individuums. Flexibilität und Autonomie werden im neoliberalen Diskurs zu bürgerschaftlichen Tugenden; soziale Ungleichheiten werden entpolitisiert (und damit privatisiert) indem sie mehr und mehr als individuelles Scheitern gelten (vgl. Bakker 2004). Angesichts dessen können sich die "nationalen Staatsbürger davon überzeugen, dass ihre Rechte nicht nichtig sind, wenn sie sehen, dass die Rechte der Ausländer geringer, gefährdeter oder von ständig wiederholten Loyalitätsbekundungen (sogenannten ‚Zeichen der IntegrationÂ’) abhängig sind" (Balibar 2003: 81). Migrationskontrolle - nicht zuletzt Versuche der Global Governance im Zuge der "Internationalisierung des Staates" (vgl. Hirsch 2002: 131-141) - avancierte in dieser gesellschaftlichen Konstellation zu einem zentralen Thema des politischen Diskurses in den Einwanderungsgesellschaften. Denn Migrationspolitik erweist sich als Feld, auf dem der sich transformierende Nationalstaat Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit populistisch unter Beweis stellen kann (vgl. Balibar 2003: 80; Sassen 1996: 59ff.).

2. Perspektivwechsel: Die "Autonomie der Migration"

In den letzten Jahren gab es vor allem aus der italienischen und französischen Linken wichtige Beiträge unter dem Schlagwort "Autonomie der Migration" (z.B. Moulier Boutang 1993, 2002). Diese sind insofern ein Gegenentwurf zu den oben diskutierten politikwissenschaftlichen Ansätzen als dass sie dem staatsfixierten und objektivierenden Blick auf Migration widersprechen und statt dessen die Subjektivität und das Handeln von MigrantInnen in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellen. Die Praxen der MigrantInnen werden einer staatlichen (Ohn-)Macht gegenübergestellt, wie das Zitat von Yann Moulier Boutang veranschaulicht: "Auch wenn sich Myriaden von Experten und Beamten in den Behörden und staatlichen und internationalen Einrichtungen mit der Emigration beschäftigen, haben sie keine Ahnung von dieser Selbständigkeit, dieser Autonomie der Migrationsflüsse. [...] Man kann zwar der Emigration mit repressiven Mitteln begegnen, die Rückkehr der Immigranten ‚fördern‘, aber man kann nicht die Flüsse nach Programmierung und Dafürhalten öffnen und sperren" (Moulier Boutang 1993: 38f.). Das Handeln und Begehren der MigrantInnen wird als gesellschaftliche und damit politische Praxis erachtet, die Grenzen überwindet und Staaten herausfordert (vgl. Bojadžijev, et al. 2003, Karakayali/Tsianos 2005).

Die Perspektive der Autonomie der Migration hat ihren theoretischen Ursprung im italienischen Operaismus (vgl. zur Theoriegeschichte Wright 2005), darin liegen zugleich ihre Stärken und Probleme. Operaismus bedeutet soviel wie "Arbeiterismus" oder "Arbeiterwissenschaft" und entwickelte sich vor allem in den 1960er und 1970er Jahren in der italienischen Linken aus und in Abgrenzung zu gewerkschaftlichen und parteipolitischen Kontexten. Wichtige Protagonisten waren und sind Sergio Bologna und Antonio Negri. Der Operaismus wurde in anderen Ländern rezipiert und weiterentwickelt, in Deutschland etwa um die Gruppen "Revolutionärer Kampf" aus Frankfurt oder "Proletarische Front" aus Hamburg und in Zeitschriften wie der "Autonomie" bzw. "Autonomie. Neue Folge". "Verkürzt könnte man den Operaismus als eine subjektive - im Sinne von die Einflußmöglichkeiten des Subjekts auf die kapitalistische Entwicklung berücksichtigende - metropolitane Krisen- und Revolutionstheorie bezeichnen, in der vorrangig der Einfluß und die Konstitutionsbedingungen und -formen der Arbeiterklasse als kollektivem Subjekt auf den kapitalistischen Krisenzyklus untersucht wird" (Roth 1993: 31), so Karl Heinz Roth, der in Deutschland die Diskussion um den Operaismus wesentlich mitprägte. Autonomie wird in mehrerer Hinsicht verstanden, erstens als Autonomie der Arbeiterklasse gegenüber dem Kapital und zweitens als Autonomie der ArbeiterInnen gegenüber "ihren" offiziellen Organisationen, d.h. Gewerkschaften und Parteien (Wright 2005: 13).

Wichtige Annahmen des Operaismus sind die der "kontinuierlichen Neuzusammensetzung des Proletariats" und die These des "Massenarbeiters". Insofern fand die Thematik der Gastarbeitermigration und ihre Arbeit in rationalisierten Großfabriken etwa seit 1970 Eingang in die theoretischen Überlegungen und politischen Mobilisierungen. "1970/71 haben wir unsere ganze praktische Arbeit auf die Agitation und Mobilisierung ausländischer Arbeiter umgestellt. [...] Wir haben beispielsweise die Pfingst- und Osterzüge, die bis nach Zagreb oder Spanien fuhren, begleitet und haben dort agitiert und mehrsprachige Flugblätter verteilt" (Frombeloff 1993a: 295). Im Laufe der Zeit gab es eine Ablösung von einem Verständnis der Autonomie, das an die Fabrik und kapitalistische Produktionsweise gebunden ist, und eine Übertragung auf alle Lebens- und Arbeitsbereiche. Antirassistische TheoretikerInnen wie der französische Ökonom Yann Moulier Boutang begannen ihre Perspektive ausdrücklich als "Autonomie der Migration" zu bezeichnen (vgl. Moulier Boutang 1993). Auch Michael Hardt und Antonio Negri heben in "Empire" die Rolle und Bedeutung der neuen, irregulären MigrantInnen heraus: "Ein Gespenst geht um in der Welt, und sein Name ist Migration. Alle Mächte der alten Welt haben sich vereint und kämpfen gnadenlos dagegen an, aber die Bewegung ist nicht aufzuhalten. [...] [J]eder Versuch, die Migrationsbewegungen vollständig zu regulieren, scheitert am gewaltsamen Druck. Wirtschaftsexperten versuchen dieses Phänomen zu erklären, [...] doch auch die liefern [...] keine Erklärung für dieses unstillbare Verlangen nach Bewegungsfreiheit. [...] Desertion und Exodus sind eine machtvolle Form des Klassenkampfs in der imperialen Postmoderne und zugleich gegen sie" (Hardt/Negri 2002: 225).

In letzter Zeit hat es einige interessante Innovationen und Reformulierungen des Konzeptes der Autonomie der Migration gegeben. So integriert Manuela Bojadžijev Rassismus als konstitutive Komponente kapitalistischer Vergesellschaftung in das Konzept (Bojadžijev 2002). Für die stärkere Berücksichtigung der Verbundenheit von staatlichem Handeln und Migrationsbewegungen sowie einer Perspektive der Analyse von Kräfteverhältnissen machen sich Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos stark. Sie schlagen vor, einige Aspekte aus der politikwissenschaftlichen Regimetheorie in eine Theorie der Autonomie der Migration zu übernehmen, um "eine ökonomistische oder systemische Herangehensweise zu vermeiden" (Karakayali/Tsianos 2005: 46).

Eine Analyse derzeitiger Migrationskontrollpolitiken aus einer Perspektive der Autonomie der Migration kann unseres Erachtens einige der Blindstellen der politikwissenschaftlichen Debatte erhellen. Der Aspekt der Arbeit und soziale Auseinandersetzungen und Kämpfe treten wieder mehr in den Vordergrund. Migrantische Arbeit ist und war ein zentraler Faktor der kapitalistischen Entwicklung (vgl. Potts 1988). In der aktuellen Phase ist gerade die illegalisierte Arbeit von MigrantInnen in allen Industrieländern ein entscheidender Wirtschaftsfaktor. Es sind die Mobilität und Flexibilität dieser Menschen, die ihre Attraktivität auf den informellen Arbeitsmärkten ausmachen. Karakayali und Tsianos argumentieren, dass die derzeitigen Grenzregime die Funktion einnehmen, die grenzüberschreitende Arbeitsmobilität zu regulieren (Karakayali/ Tsianos 2005: 49). Die Spezifik der gegenwärtigen Regulation bestehe in der "flexible[n] Abkopplung der Arbeit von ihren Reproduktionsorten, Ressourcen und Rechten" (ebd.). In der Rede über Migration werde jedoch durch die Benennung als "Einwanderer" oder "Migranten" der Begriff des "Arbeiters" verdeckt und aus der Repräsentation ausgeschlossen (ebd.: 59). So seien die "klandestinen MigrantInnen die Vagabunden des 21. Jahrhunderts, eine Bewegung der Arbeit, also eine Bewegung der ArbeiterInnen" (ebd.: 60, Hervorh. im Original). Indem sich die irregulären MigrantInnen der staatlichen Kontrolle entziehen und sich in ihren Lebens- und Arbeitsbereichen autonome Räume und Netzwerke herausbilden, entfalten sie, mit dem Konzept der "Autonomie der Migration" gesprochen, widerständiges Potential. Die aufgerüsteten Grenzen und intensivierten Migrationskontrollen werden dementsprechend als Reaktion auf die Autonomie der Migration und den damit verbundenen Anstieg illegalisierter Migration gewertet.

3. "Autonomie der Migration" - ein brauchbares Konzept?

Trotz der wichtigen Perspektivverschiebungen und theoretischen Erweiterungen vertreten wir bezüglich des Konzeptes der Autonomie der Migration eine skeptische Position. Denn gerade weil wir den Standpunkt teilen, dass der Objektivierung und Viktimisierung der MigrantInnen im Diskurs um Migrationskontrolle entgegenzutreten ist, plädieren wir dafür, die verschiedenen Positionen von MigrantInnen nicht vorschnell unter dem Schlagwort der Autonomie zu subsumieren. Auch wenn es nicht die Absicht des Konzeptes ist, sehen wir, auch aus feministischer Perspektive, aufgrund der Theorietradition und Begrifflichkeit vor allem die Gefahr, das komplexe Verhältnis von Staat, Migration und Gesellschaft als eine schlichte Gegenüberstellung Staat versus MigrantIn als autonomem (Kollektiv-)Subjekt zu konzeptionalisieren und gesellschaftliche Konflikte auf einen Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit zu reduzieren, ohne dass die viel weitreichenderen Rahmenbedingungen und Reproduktionskontexte problematisiert würden. Im Folgenden leiten wir unsere Einwände gegen das Konzept der "Autonomie der Migration" ausführlicher her und schlagen eine veränderte Begrifflichkeit vor.

3.1 Feministische Interventionen - ? Globalisierung und ihr "Intimate Other"

Die theoretischen Probleme aus feministischer Sicht sind auch den VertreterInnen des Autonomiekonzepts nicht neu: "In ihrem ökonomistischen Kern liegt aber auch die Begrenztheit, denn selbst wenn von Kämpfen von Frauen oder ‚FremdarbeiternÂ’ die Rede ist, verkürzt sich der Blickwinkel auf die ökonomischen Bestandteile (und Motivationen) dieser Kämpfe. Sexismus, Rassismus (Patriarchat schon gar nicht) tauchen in der Theorie nicht auf" (Frombeloff 1993b: 325). Um diese zu fassen wurde mit dem Konzept der "dreifachen Unterdrückung" (triple oppression) gearbeitet, das aber auch die Verhältnisse nur unzureichend erfasst und von theoretischen Verkürzungen gekennzeichnet ist. Eine angemessen komplexe Beschreibung, die nicht auf eine Addition von Unterdrückungsverhältnissen hinausläuft, versteht gesellschaftliche Kategorisierungen als relational und in ihrem Zusammenwirken. Eine einseitige Perspektive, d.h. allein der Klassenunterschiede oder der ethnischen oder geschlechtlichen Zuschreibung ist unzureichend, da sich gesellschaftliche Machtbeziehungen und ihre Transformation aus dem Zusammenspiel dieser (und anderer) Kategorisierungen ergeben (vgl. Knapp 2005). Das ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Veränderungen relevant, in denen sich traditionelle Rollenstereotype offensichtlich wandeln ohne dass sich zentrale gesellschaftliche Antagonismen aufheben würden. Ein Gewinn einer solchen Perspektive der Intersektionalität ist die Möglichkeit, gesellschaftliche Antagonismen denken zu können, ohne Herrschaftsverhältnisse in Opfer- und Täterfiguren zu personalisieren. Jenseits von Viktimisierung und Heroisierung geht es um verschiedene Felder von Möglichkeiten, in denen die Subjekte - weder beliebig noch schicksalhaft - agieren. Im Folgenden stellen wir Aspekte eines solchen analytischen Modells vor, in dem der strategische Stellenwert von Geschlechterverhältnissen und ethnischen Zuschreibungen und Diskriminierungen für die globale politische Ökonomie ebenso im Zentrum steht wie die Möglichkeiten widerständiger Subjektivität. Kimberley A. Chang und L.H.M. Ling analysieren die Ambivalenzen der postfordistischen Geschlechterordnung (2000). Sie entwerfen ein Modell zweier aufeinander bezogener Formen globaler Restrukturierung: "Global Restructuring I and II", die sie als "Techno-Muscular Capitalism" und "Regime of Labor Intimacy" bezeichnen. Der dominante Diskurs von Globalisierung, Techno-Muscular-Capitalism, umfasst die "glitzernde, Internet-surfende, strukturell integrierte Welt der globalen Finanzen, Produktion, Handel und Telekommunikation" (ebd.: 27). Mit dieser Form globaler Restrukturierung verbunden sind Normen und Praktiken der "westlich-kapitalistischen Männlichkeit" (ebd.), die allerdings als global und universal scheinen. Die Eliten-Transnationalisierung benötigt auf ökonomischer wie auf symbolischer Ebene ein Gegenüber, welches im Mainstreamdiskurs verschwiegen wird. Dieser parallel verlaufende zweite Restrukturierungsprozess, das Regime of Labor Intimacy, wird repräsentiert von Frauen und Migrantinnen, die in der schlecht bezahlten und oft informalisierten Dienstleistungs- und Reproduktionsökonomie tätig sind. Der postfordistische Staat, der sich aus vielen öffentlichen Bereichen zurückzieht, übernimmt für die Regulierung dieses Regimes eine wichtige Rolle, etwa durch Migrationskontrollpolitiken mit ihren intendierten und unintendierten Folgen. Das Regime of Labor Intimacy stellt "in jeder Hinsicht das intime Andere zum Techno-Muscular-Capitalism" (ebd.) dar. Chang und Ling argumentieren, dass das Ausblenden von Körperlichkeit und Herkunft und die Entwicklung eines "reflexiven Individualismus" ein umkämpftes Privileg des Techno-Muscular-Capitalism ist.

Vergleicht man den Ansatz von Chang und Ling mit dem der Autonomie der Migration fällt auf, dass erstere die Arbeitsverhältnisse nicht als Ausgangspunkt begreifen. Diese sind selbstverständlich Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse, aus ihnen allein ergibt sich jedoch zunächst nicht viel außer einer zunehmenden Prekarisierung für bestimmte Personengruppen. Das Konzept von Chang und Ling geht über die banale Feststellung, dass Migrantinnen oft in schlecht bezahlten Jobs arbeiten insofern hinaus, als dass sie thematisieren, wie von Seiten der Migrantinnen die Subjektkonstitution zwischen Struktur/ Zwang und Handlung/Wunsch zu denken ist. In ihrer Untersuchung der Lebensverhältnisse von Arbeitsmigrantinnen in Hong Kong kommen sie zu dem Ergebnis, dass Migrantinnen, herausgelöst aus ihren traditionellen Umgebungen und damit Geschlechterrollen, ein gewisses Maß an Freiheit bei einer gleichzeitigen Reduktion auf ihre Ethnizität und Geschlechtlichkeit erfahren. Angesichts dessen suchen sie nach Möglichkeiten, mit dieser Situation, die sich auf individueller Ebene als moralisches Dilemma beschreiben lässt, umzugehen. Dies kann ebenso gut eine Zuwendung zu konservativen Werten (z.B. Katholizismus) wie die Erprobung neuer Geschlechterrollen (z.B. "Tom Boyism") bedeuten. Es ist abhängig von den individuellen Ressourcen und Netzwerken, in wie weit emanzipative Auswege realisierbar sind. Subjektives Handeln ist somit nicht ausgeschlossen, sondern ein Arrangement mit den Bedingungen zwischen angestrebter Autonomie und realen Dilemmata, das heißt eine Kombination aus Global Restructuring I und II. Analytisch beabsichtigen Chang und Ling damit der Romantisierung widerständiger Subjekte zu entgehen (ebd.: 33), wie es trotz aller Dementi bei der Autonomie der Migration der Fall ist. Im Gegensatz dazu gilt es, die komplexen gesellschaftlichen Strukturen in denen sich Widerstand artikuliert ernst zu nehmen. Insofern bietet die Gedankenfigur von Chang und Ling auf der Ebene der Subjekte einen differenzierteren Zugang als der Ansatz der Autonomie der Migration und öffnet den Blick für die Bedingungen unter denen Subjekte trotz der Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt sind, einen emanzipativen Umgang finden können. Allerdings bleibt bei Chang und Ling unklar, inwiefern diese Praktiken über die individuelle Ebene hinaus wirken, also beispielsweise eine Kraft entfalten, Institutionen zu verändern. Dies wäre weiter zu untersuchen.

3.2 Die Verknüpfung von Produktion und Reproduktion

Obgleich Migrationspolitiken zweifellos auf die Kontrolle der Mobilität von Arbeitskraft abzielen, halten wir es gerade aus feministischer Perspektive für wichtig, Migration nicht auf eine Bewegung von ErwerbsarbeiterInnen zu reduzieren, deren Reproduktionskontexte nicht ebenso Teil der Analyse sind. Die Relevanz der vor allem von Frauen geleisteten emotionalen und reproduktiven Arbeit brachte die operaistische Perspektive bei der Analyse der Kämpfe von ArbeitsmigrantInnen zu Beginn der 1970er Jahre in Erklärungsnöte. So waren die Operaisten zunächst von den wilden Streiks der migrantischen Fordarbeiter 1973 in Deutschland beeindruckt. Die Streiks ließen aber nach 1973 deutlich nach. Die Gründe lagen in der Wirkung von Repression, dem starken Korporatismus in Deutschland, nicht zuletzt aber auch in der staatlichen Politik, die die Reproduktionsbedingungen der "GastarbeiterInnen" wesentlich veränderte. Vor dem Anwerbestopp 1973 waren die meisten der ArbeiterInnen ohne Familie nach Deutschland gekommen, nach 1973 kam es zum verstärkten Familiennachzug, wenn die "GastarbeiterInnen" im Land bleiben wollten, da sie nicht mehr hin- und hermigrieren konnten. Im Nachhinein wird der Konfliktverlauf aus operaistischer Perspektive wie folgt selbstkritisch interpretiert: "Daß der Konflikt damals mit einer ungeheuren Militanz ausbrach, hatte u.a. aber auch damit zu tun, daß es den Massenarbeitern nicht möglich war, die erlittenen Arbeitsqualen auf dem Rücken ihrer Frauen auszutragen. Nachdem dies wieder möglich war, als nämlich die Arbeitsmigranten ihre Familien nachziehen ließen, ging es mit der damaligen Bewegung rapide bergab. Die Bedeutung patriarchaler Unterdrückung in diesem Zusammenhang wurde nicht (hinreichend) erkannt" (Frombeloff 1993b: 326). Die Spaltung von Produktion und Reproduktion stellt insbesondere für Migrantinnen die Basis ihrer Prekarisierung dar. Dass die (Re-)Privatisierung der Reproduktionsarbeiten ein zentrales Moment postfordistischer Produktionsverhältnisse und globalisierter Restrukturierung im Zuge des Regime of Labor Intimacy und damit Gesellschaftlichkeit sind, zeigt nicht zuletzt die immense Bedeutung der ethnischen Neuorganisierung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung. Ein Ausdruck davon ist die Entstehung globaler Reproduktions- und Pflegeketten (global care chains) analog zu globalen Produktionsketten oder die transnationale Familienführung vieler MigrantInnen und den damit verbundenen geschlechtsspezifischen Verantwortlichkeiten (vgl. Yeates 2004, Shinozaki 2003). Die Aufrechterhaltung der Trennung von Reproduktion und Produktion, produziert durch Gender- und Migrationsregime, ist eine Grundlage der globalen politischen Ökonomie. Ohne die vielzitierte Feminisierung der Migration ist die Feminisierung der Lohnarbeit - wesentliche Grundlage der globalen Restrukturierungsprozesse - nicht zu denken. Lohnarbeitsverhältnisse (und damit Klassenverhältnisse) sind deshalb eben nicht abzukoppeln von den sozialen Bedingungen, in die sie eingebettet sind (vgl. Peterson 2003).

3.3 Problematische Gegenüberstellung von Staat ? und MigrantInnen

Der Begriff der "Autonomie" legt ein Verständnis nahe, welches MigrantInnen tatsächlich als Gegenüber des Staates oder des Migrationsregimes konzipiert. Nicht berücksichtigt werden dabei das Moment, das Chang und Ling als "moralisches Dilemma" und die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Global Restructuring I und II beschreiben. Auch wenn Karakayali/Tsianos betonen, dass "die Vorstellung von Migration als eine ökonomische Robinsonade nicht haltbar ist" (Karakayali/Tsianos 2005: 56), verweist der Begriff der Autonomie auf ein anderes Verständnis. Und selbst wenn Autonomie nicht als formale Unabhängigkeit zu verstehen wäre, sondern als subjektive Haltung, erachten wir es für problematisch, mit Subjektvorstellungen zu operieren, die den tatsächlich komplexeren Positioniertheiten ebenso wenig gerecht werden wie einen emanzipatorischen Ausweg weisen. Autonomie kann in dem Moment kein Widerstandsideal sein in dem Autonomienormen disziplinierend wirken. So ist Autonomie Teil eines Ideals normativer Maskulinität, die zur Verleugnung manifester sozialer Abhängigkeiten beiträgt. Diese Verleugnung ist fester Bestandteil patriarchaler Genderregime.

Unserer Ansicht nach müsste es auch um eine Anerkennung der Nicht-Autonomie und damit Solidarität gehen. Dies würde beides zulassen: zum einen die Aufwertung sozialer Beziehungen als Ressource, andererseits aber auch die Problematik von Abhängigkeit. Denn in der Rede von der Autonomie der Migration geht ebenfalls schmerzlich verloren, dass auch migrantische Netzwerke hierarchische Machtstrukturen und damit Abhängigkeitsverhältnisse aufweisen, die auf Ungleichheit basieren und sie reproduzieren.

3.4 Auf alten und neuen Pfaden: ? Von der "Eigensinnigkeit der Migration"

Vor diesem Hintergrund der Kritik am Konzept der Autonomie der Migration möchten wir den Begriff der Eigensinnigkeit von Migration zur Diskussion stellen. Dieser führt sicherlich nicht aus allen theoretischen Problemen, enthält unseres Erachtens aber einige interessante Konnotationen, die den gegenwärtigen Charakter von (illegalisierten) Migrationsbewegungen und der Subjektivität der MigrantInnen treffen. Ein Ausschnitt aus dem Werk Geschichte und Eigensinn von Alexander Kluge und Oskar Negt veranschaulicht diese sehr schön: "In einer zerstörten Stadt sind nach kurzer Frist über die Trümmer Trampelpfade gelegt, die in gewisser Weise die alten Wegeverhältnisse, besonders der Zeit vor der Zerstörung, wiederherstellen, zugleich aber Abkürzungen und Umwege beschreiben, die offensichtlich neu sind" (Negt/Kluge 2001 [1981]: 66). Die Subjekte handeln und bewegen sich nicht unabhängig von der Geschichte, den Strukturen und den damit verbundenen "eingeübten" Wegen, dennoch entsteht etwas Neues, etwas Eigen-Sinniges. Dieses Eigensinnige ist weder von einer Autonomie noch von Determinismen bestimmt, vielmehr nicht-linear, aber auch nicht beliebig.
Ein Verständnis der Eigensinnigkeit von Migration umfasst somit jene Aspekte, denen wir uns bei der Lesart der Autonomie der Migration von Karakayali, Tsianos u.a. anschließen und die den Kontrast zu den eingangs kritisierten politikwissenschaftlichen Konzepten ausmachen: die Bedeutung von (illegalisierter) Migration im Kontext postfordistischer Produktionsverhältnisse und der Transformation von Staatlichkeit sowie dem Blick auf die MigrantInnen als AkteurInnen im Migrationsregime. Vermieden werden soll mit dem Begriff der Eigensinnigkeit eine normative Aufladung und drohende Vereinheitlichung ebenso wie eine Dichotomisierung Staat versus MigrantIn. Im Unterschied zu Konzepten wie dem der "Migrationssysteme" oder dem der "Migrationsnetzwerke" werden die Migration ermöglichenden und in gewisse Bahnen lenkenden Faktoren mitgedacht, aber nicht deterministisch. Gerade in geschlechterpolitischer Hinsicht eröffnet das Konzept der Eigensinnigkeit den Blick auf die ermöglichenden und beschränkenden Faktoren und deren Kombination - wie wir mit Bezug auf Chang/Ling zuvor ausgeführt haben.

4. Ausblick: Jenseits von Autonomie und Kontrolle

Die Auseinandersetzung sowohl mit den politikwissenschaftlichen Ansätzen zur Migrationskontrolle als auch dem der Autonomie der Migration hat die Notwendigkeit verdeutlicht, Politiken der Migrationskontrolle in ihrer Wechselwirkung mit Dynamiken der Migration zu analysieren. Eine einseitige Fixierung auf den Staat oder eine Idealisierung der Migration, noch dazu unter dem Schlagwort der Autonomie, rechtfertigt das allerdings nicht. Das Gegensatzpaar Autonomie versus Kontrolle droht komplexere Prozesse zu vereinfachen. Dies wird an der gleichzeitigen und doppelten globalen Restrukturierung mit ihren ethnischen und gender-Effekten deutlich. Gesellschaftliche Entwicklungen deren Ausdruck transnationale Migrationsbewegungen sind, halten wir daher nicht für eine Einbahnstraße in Richtung sozialen Fortschritts. Gerade da sie ebenso offensichtlich Tendenzen der Barbarei in sich tragen halten wir es für notwendig, die Möglichkeiten emanzipatorischen Handelns genauer zu untersuchen. Autonomie - ohne die Thematisierung ihrer Bedingungen - scheint dabei kein geeignetes theoretisches und emanzipatorisches Konzept zu sein. Jenseits aller Innovation sollte das Konzept deshalb vor allen auf androzentrische Verkürzungen sowie auf seine Tendenz hin zu einer Romantisierung gesellschaftlicher Konflikte hin überprüft werden.

Vor dem Hintergrund unserer Kritik und dem vorgeschlagenen Konzept der Eigensinnigkeit lässt sich das Eingangszitat des irakisch-kurdischen Migranten Yusuf anders betrachten: Yusuf könnte idealtypisch die "Autonomie der Migration" verkörpern, dennoch wird gerade an seinem Beispiel deutlich, wie voraussetzungsreich seine Aussage "Warum lässt man uns nicht einfach reisen?" und seine Praxis der illegalen Grenzüberschreitung ist. Yusufs Aussage handelt von dem moralischen Dilemma, in dem er sich befindet: denn obwohl er im Rekurs auf sein ‚universelles MenschseinÂ’ die Normalität des Reisens für sich einfordert, wird ihm dieses Menschenrecht aufgrund seines Passes aus einem nicht-privilegierten Staat verweigert. Statt dessen wird er als männlicher Migrant als Drogendealer, Dieb und Bandit stigmatisiert. Yusufs moralisches Dilemma besteht aus der Spannung zwischen Selbstbewusstsein und einer Zuschreibung, mit der er sich auseinander muss. Er reagiert auf diese Situation mit dem Entschluss, sich sein "Recht" zu Reisen nötigenfalls illegal zu nehmen. Dies lässt sich als Eigensinnigkeit bezeichnen. Ihm hilft dabei das Wissen um die Unmöglichkeit einer lückenlosen Kontrolle der Grenze: "Sie können nicht alles kontrollieren. Dazu haben sie keine Zeit". Im Gegensatz zu "ihnen" hat Yusuf Zeit - Zeit eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um durch den Eurotunnel illegal nach Großbritannien einzureisen. Yusuf handelt eigensinnig: er handelt auf der Grundlage seiner Möglichkeiten und lässt sich nicht durch Grenzen aufhalten. Aber handelt er auch autonom? - Wie ist Yusuf bis nach Sangatte gekommen? Warum ist er und nicht seine jüngere Schwester aufgebrochen? Woher hat er die finanziellen Ressourcen und das Wissen um Möglichkeiten der irregulären Reise? Sein Selbstbewusstsein? Auch wenn eine solche Beachtung der Bedingtheit von Yusufs Eigensinnigkeit banal erscheint - sie ist es unseres Erachtens nicht.

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Dieser Artikel erschien zuerst in der 'Prokla - Zeitschrift fuer kritische Sozialwissenschaft', Themenschwerpunkt: Migration, Nr. 3/2005.
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