Atlantische Wertegemeinschaft mbH

Danke, weitermachen! - Bush-Amerika und Alteuropa konnen also fortfahren, einander in herzlicher Hassliebe zu umschlingen, zusammengewachsen und zusammengehörig wie sie nun mal sind.

Beide täten in der entstandenen Situation gut daran, sich einer Bibelweisheit zu erinnern: Wie man sich über den Splitter im Auge des anderen aufregen und dabei den Balken im eigenen vergessen kann (Matthäus 7, 1-5). Befassen wir uns also, ganz antizyklisch, aus Anlass der Wahnsinnstat des amerikanischen Souveräns, George W. Bush wiederzuwählen, mit einigen hiesigen Verrücktheiten oder, sagen wir: Merkwürdigkeiten, zwecks Vermeidung voreiliger Schlussfolgerungen aus der Beobachtung, dass unsere transatlantischen Partner nicht so sind, wie sie sein sollten.

Gewiss, dass die Amerikaner Bush, nach allem, was er in den vergangenen vier Jahren angerichtet hat, mehrheitlich dazu legitimierten, vier Jahre so weiter zu machen, musste in Europa, wie im "Rest der Welt", schockieren. Freunde Amerikas noch mehr als die Vielen, die es ja immer immer schon gewusst haben. Der Konsens, der in den Spalten der deutschen Presse zeitweilig geradezu volksgemeinschaftliche Dimensionen annahm, lautete schlicht: Es hätte nicht passieren dürfen.

Weit weniger Klarheit gibt es bisher in der Frage, was daraus zu lernen wäre, dass ein Kerry und sein Amerika - ausgerüstet mit den Hoffnungen und guten Wünschen großer Mehrheiten in Europa und anderen Teilen der Welt - dem vermeintlich vorsintflutlichen Amerika des George W. Bush nichts entgegenzusetzen hatten.

Kerrys Untergang beschäftigte noch die vorderen Seiten der Tagespresse, da glänzte kein geringerer als Gerhard Schröder, der doch dem Texaner mit bescheideneren Mitteln besser Paroli geboten hat als der Mann aus Massachussetts, mit einem Exempel, wie die Antwort auf das amerikanische Debakel gewiss nicht aussehen kann. Aber dieser Fall Schröder ist leider, was den Alphabetisierungsgrad in Sachen Demokratie und Volkssouveränität angeht, zugleich der Fall Deutschland.

Ein Volk, dessen Nationalfeiertag der Finanzminister mit einem Federstrich abschaffen kann (oder es jedenfalls, im Einvernehmen mit dem Kabinettschef, auch nur einen Augenblick lang glauben kann, ohne aus dem Amt gelacht zu werden), tickt nicht richtig. In dieser Diagnose dürften Amerikaner, um deren Geisteszustand sich die Welt gegenwärtig besonders sorgt, und Alteuropäer wie die Franzosen absolut übereinstimmen. (Dass der Zugriffsversuch mit kurzatmigen Etatmanipulationen, Stabilitätspaktauflagen und, im Zweifel, mit den hohen Kosten der deutschen Einheit begründet wurde, ist dabei nur das Tüpfelchen auf dem "i".)

Nun wird die Zurechnungsfähigkeit der Deutschen in nationalen Fragen, die ja unter citoyens immer auch Demokratiefragen, Fragen des Umgangs mit der Res Publica, dem eigenen Volk und seiner Geschichte sind, international nicht hoch veranschlagt. Das gilt leider auch für die deutsche Linke und, wie er immer wieder demonstriert, nicht zuletzt für den amtierenden Kanzler. Seine Symbolpolitik bleibt, von Fehlgriff zu Fehlgriff, immer noch für jede Überraschung gut. Eben bejubelt er Walsers Auschwitzkeulenrede, dann möchte er ein Holocaustmahnmal, "wo man gerne hingeht", kürzlich die höchstderoselbige Mohrenwäsche für den Namen Flick (jr.) und nun fühlte Schröder sich befugt, mal eben den Nationalfeiertag zu streichen (genauer gesagt, zum beweglichen Fest zu deklarieren und auf den Tag des Herrn abzuschieben). Dass er auch diesmal irrte, macht die Sache nicht weniger symbolträchtig. Bush, Rumsfeld, Rice dürften herzlich über das Staatsverständnis des deutschen Freundfeindes gelacht haben, hätten sie Zeit, Berliner Provinzpossen dieser Art zur Kenntnis zu nehmen.

Bruchlinien, Werte und "Werte"

Greifen wir einfach vier der Punkte heraus, in denen sich Deutsche oder womöglich Alteuropäer ganz allgemein den Amerikanern überlegen fühlen, und gehen der Frage nach, ob sie wirklich dazu taugen, amerikanische Rückständigkeit oder europäische Überlegenheit zu markieren. Vielleicht stellt sich dabei heraus, dass wir es in Wirklichkeit mit ganz anderen Grenzverläufen zu tun haben; vielleicht auch, dass Europa sich selbst aufgibt, wenn es seine Fortschrittlichkeit, (Post-)Modernität, Auf- oder Abgeklärtheit vorrangig aus der Abgrenzung zu seinem alter ego zu gewinnen versucht.

1. Man mag die Amerikaner für hoffnungslos rückständig erklären, wenn sie ihre Nation, ihre vermeintlichen oder tatsächlichen nationalen Interessen, höher einstufen als UNO, Völkerrecht oder die so genannte Internationale Gemeinschaft. Es führt aber kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass die große Mehrzahl der Völker und Staaten dieser Welt ex- oder implizit der gleichen Rangordnung folgt. Im amerikanischen Fall kommt das - einstweilen unwiderlegliche - Demokratie-Argument hinzu, dass nämlich die Regierung in erster und letzter Instanz dem Volk verantwortlich sei, das sie gewählt hat - nicht in gleicher Weise internationalen Gremien wie der UNO, deren Legitimation nicht die gleiche Ursprünglichkeit hat, sondern, wie schon der Name sagt, von den sie erst konstituierenden Nationen abgeleitet ist. Umgekehrt übt ein Volk seine Souveränität, also seine politische Gestaltungs- oder Verhinderungsmacht, in erster Linie über die von ihm so oder so legitimierte Regierung aus und nur mittelbar in "über"- oder "post"-nationalen Gremien. Wie nonchalant die Eurokratie sich über diesen fundamentalen Unterschied hinwegsetzt, erklärt eine Menge Euroskepsis. Es weist das "postmoderne" Brüssel nicht gerade als fortgeschrittenere Alternative zur demokratischen Moderne aus.

2. Die demonstrative Selbstsicherheit, mit der führende Europäer die real existierende Europäische Union als das Zukunftsmodell politischer Selbstorganisation und internationaler Handlungsfähigkeit für alle Welt verklären, steht in keinem Verhältnis zur bisherigen Konsistenz und Effizienz dieses Modells (von seinem auch im Zeichen versuchter Verfassungsgebung keineswegs behobenen "Demokratiedefizit" ganz zu schweigen). Amerikanische Omnipotenzphantasien mögen durch den Realitätsschock der irakischen Nachkriegszeit, zumindest in nichtamerikanischen Augen, ein wenig zurechtgestutzt worden sein. Doch die welthistorische Schrecksekunde, die Donald Rumsfelds wohlkalkulierte Alt/Neu- Unterscheidung dem europäischen Projekt selbstaufklärungsmäßig bereitete, ist bisher nicht einmal ansatzweise geistig oder gar politisch verarbeitet worden. Das Verfassungsgerangel hat die von Rumsfeld so brutal vor Augen geführte Tatsache, dass ein politisches Subjekt "Europa" nicht von dieser Welt ist (jedenfalls nicht von der, in der wir uns bewegen) und weder als Gegenspieler, noch als Partner der Vereinigten Staaten existiert, nur überlagert und geholfen, den Schock zu verdrängen. Und "Kerneuropa" verschwand in der Schweigespirale: Wer es im Sinn hat, spricht besser nicht darüber.

Hier soll gewiss nicht kleingeredet werden, was in Brüssel und Straßburg dafür geleistet wird, dass die Europäer heute friedlicher und effektiver zusammenleben. Aber was Amerikaner und Europäer unterscheidet, ist weniger die heimliche oder explizite Orientierung am Nationalstaat als letzter Instanz als die Offenheit, mit der diese Orientierung zu Hause und auf der Weltbühne vertreten wird. Und natürlich die Tatsache, dass das intergouvernementale "Europa der 25", als Agglomeration großer, gernegroßer und kleiner Nationalstaaten ein Kräfteparallelogramm widerstreitender Interessen, Traditionen und Eifersüchteleien, bis auf weiteres kein mit Washington auch nur entfernt konkurrenzfähiges Zentrum politischer Willensbildung haben wird. Es gibt bisher weder das Zentrum, noch den Willen, noch die politische Öffentlichkeit, in der dieser sich bilden und legitimieren könnte. Was Solana und andere Europäer seines Kalibers anbieten, um die EU auf "gleiche Augenhöhe" mit den USA zu bringen, sieht genauso aus wie die politische Vergangenheit dieses Balkanstrategen, seine dual capability, die Doppelverwendungsfähigkeit zwischen EU und NATO: nämlich wie eine schlechte Imitation des schlechten Vorbilds, das die einst tatsächlich vorbildlichen Vereinigten Staaten als überrüstete "Hyperpuissance" bieten. Und das irakische Lehrstück über den zweifelhaften Nutzen der militärischen Karte hat in Brüssel noch kein erkennbares Abrücken von der Solana-Doktrin bewirkt, vom Bestreben, militärisch irgendwie zu den USA aufzuschließen, als der angeblichen Voraussetzung dafür, von diesen weltpolitisch ernstgenommen zu werden.

3. Ein Schlaglicht auf kulturelle Verwerfungen, die eben nicht auf amerikanisch- europäische Ungleichzeitigkeiten reduziert werden können, warf jüngst der Fall Buttiglione. Ein deutscher Kommentator fand es geistreich, vatikanische Vorwürfe, die Behandlung des katholischen Kommissionsanwärters Rocco Buttiglione erinnere an die Zeiten der Inquisition, als Eigentor zu interpretieren; schließlich besitze Rom das Urheberrecht auf diese mittelalterliche Praxis. Dem Mann entging dabei alles Wesentliche: Dass ausgerechnet der Vatikan nowadays Inquisitionsverfahren kritikwürdig findet, hätte mehr als Spott verdient. Das liberale, laizistische Europa könnte stolz auf diesen Nachweis seiner kulturellen Hegemonie sein, hinterließe es nicht tatsächlich einen unguten Geschmack, dass ein konservativer Katholik aus dem katholischen EU-Gründungsland Italien von Leuten gejagt wird, die sich oft in rührender Weise um die Rechte bekennender Islamist(inn)en gegenüber ihrer säkularen oder christlichen Umwelt bemühen und eine EUMitgliedschaft der Türkei mindestens so plausibel finden wie die etwaige Suspendierung falsch wählender Mitgliedsländer, sagen wir Österreichs oder, wär's nicht so groß, Italiens. Der Vorwurf, Buttiglione sei Opfer einer inquisitorischen Geisteshaltung im europäischen Parlament geworden, wird nicht dadurch falsch, dass er aus dem Vatikan kommt. Der Italiener hatte ausdrücklich versichert, er werde zwischen seinen religiösen Überzeugungen und den Kriterien, die für die Führung eines säkularen Amtes allein gelten, zu unterscheiden wissen. Man mag ihm zutrauen, dass er das könnte, oder nicht. Folgenlos bleibt es in keinem Fall, wenn das EP den Eindruck vermittelt, es stelle Zeitgeistkonformität über Grundrechte wie die Glaubensund Meinungsfreiheit; ein gläubiger Christ könne in Brüssel nicht Kommissar werden, während man gleichzeitig die Weichen für den EU-Beitritt eines (gemäßigt) islamistisch regierten Landes stellt und in Frankreichs Regierungslager erwägt, von Staats wegen Moscheen zu bauen. Einer besseren Verständigung zwischen Brüssel oder Paris und Washington dient dergleichen sicherlich weniger, eher schon dem kulturellen Brückenschlag zwischen Middle America und Middle Europe als Reaktion auf solche Eskapaden.

4. Wenn oder wo man sich nun in Europa so vorkommt, als herrsche hier mehr Toleranz gegenüber den, hier vorwiegend islamischen, Einwanderern oder gegenüber kultureller Diversität, so kann dieser Eindruck wohl nur vor dem Hintergrund der bis zum heutigen Tage sehr viel ausgeprägteren ethnisch- kulturellen Homogenität in fast allen Ländern Europas, auch den ehemaligen Kolonialländern, entstehen. Doch der demographische Wandel erschüttert auf beiden Seiten des Atlantik alte Gewissheiten, während zeitgemäßer Ersatz für die Integrationsformeln der Vergangenheit kaum gesehen, oft nicht einmal mehr gesucht wird. Die tonangebenden Eliten der USA sind schon seit geraumer Zeit vom Leitbild des Schmelztiegels Amerika abgerückt; auch ein George W. Bush gibt sich, zumindest in Wahlzeiten, gegenüber Hispanics und, zurückhaltender, Afroamerikanern multikulturell. Die intellektuelle Linke geht noch darüber hinaus, sie hat sich überwiegend vom Ideal der "farbenblinden" Gesellschaft verabschiedet, um sich auf die Pflege des nun höher eingestuften Wertes der Diversität zu kaprizieren. Im "Landesinnern" - nicht nur der Vereinigten Staaten - verfolgt man beides mit Unverständnis und bei wachsender Angst um Arbeitsplätze mit wachsendem Argwohn, der in Hass umschlagen kann. Die heutige Einfärbung der politischen Landkarte Amerikas zeigt, wer die Ernte einfährt.

Menetekel für Clintons Erben

Die weltweite Ablehnungsfront, die Bushs Amerika gegen sich mobilisiert hat, erweist sich also bei näherem Hinsehen als durchaus nicht homogen. (Das dürfte übrigens für die vielbeschworene Spaltung der USA selbst in zwei feindliche Lager ebenso gelten.) Selbst die lagerübergreifende Distanz der Deutschen zu Amerikas gegenwärtiger Politik und Politikkultur besteht, sieht man näher hin, aus ganz verschiedenen, teils unvereinbaren Elementen, je nachdem, ob sie der Perspektive "provinzieller" Stammtische oder "metropolitaner" Szenecafés entspringt.

Während man sich im liberalen und linksintellektuellen Ambiente Europas über die "Werte" mokiert, mit denen die Bushs und Ashcrofts ihr Publikum begeistern - Nation, Abwehr der Fremden, Familie, Religion und hergebrachte Moral -, sind es in großen Teilen der Welt und "im Innern des Landes" auch bei uns keineswegs diese values, die Anstoß erregen, sondern die double standards der Bushiten (und oft nicht nur dieser, sondern der amerikanischen "Eliten" und ihrer jeweiligen Partner vor Ort überhaupt) sowie der zynische Umgang mit den fraglichen Werten, ihre skrupellose Instrumentalisierung.

Ginge es "nur" um die beschworenen Werte als solche, wäre Middle Germany weit weniger von Middle America entfernt, als die Umfragewerte der Bush- Administration unter den Deutschen nahelegen. Auch hierzulande gibt es eine enorme Diskrepanz der Wertvorstellungen und die herzhafte, wechselseitige Abneigung, ja Verachtung zwischen denen, die in der Öffentlichkeit kulturell den Ton angeben, und dem berühmten Mann auf der Straße, dessen Auffassungen politisch oft nur noch unter dem Allerweltslabel "populistisch" wahrgenommen werden, aber dann vielleicht an der Wahlurne plötzlich und unerwartet zählen.

Kerry unterlag Bush unter anderem deshalb, weil er sich nicht von den ihm anhaftenden Klischees befreien konnte, elitist und disconnected zu sein. Elitäre Distanz, kulturelle Abgehobenheit, Modernisierungshektik warf man ihm vor, kurzum: mangelndes Verständnis für die Sorgen und Nöte der "kleinen Leute". Inwieweit solche Vorwürfe, die ja immer auch die linken und liberalen Milieus der Ostküste und Kaliforniens insgesamt meinen, zu Recht erhoben werden, fällt weniger ins Gewicht als die Tatsache, dass viele Menschen diese Eliten und ihre "veröffentlichte Meinung" exakt so wahrnehmen: als elitär, arrogant und abgehoben.

Cisatlantische Liberale und Linke täten daher sicherlich gut daran, statt sich in Gefühlen politkultureller Überlegenheit einerseits und mehr oder weniger schlitzohrigen Anpassungsmanövern andererseits zu verlieren, schärfer darüber nachzudenken, ob ihnen im ach so aufgeklärten Europa nicht früher oder später das gleiche Schicksal widerfahren wird wie den transatlantischen Geistesverwandten, Clintons Erben. Oder, konstruktiv gewendet, inwieweit sie die Kluft zwischen der Welt, in der sie leben, und den Lebensbedingungen, Ängsten, Hoffnungen, Werten der "Normalverbraucher" spürbar verringern müssen, können, wollen, damit eben dies nicht passiert und das "Projekt der Moderne" auf beiden Seiten des Atlantik mehrheitsfähig bleibt oder wieder wird.

Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 12/2004 - Seite 1415 bis 1419