Im Rückblick scheint es, den größten Teil des Krieges hätten die Alliierten mit und gegen sich selbst ausgetragen. Obwohl man das auch ganz wörtlich verstehen kann, weil bekanntlich ...
... ein unverhältnismäßig großer Teil der britisch-amerikanischen Verluste auf freundliches Feuer der eigenen Kameraden zurückging, reicht die Beobachtung weiter: Das hypertrophe Sicherheitsdenken, das, sozusagen nach außen gestülpt, Rumsfelds Megamaschine den Weg nach Bagdad bahnte, um dort, einige Tausend Meilen fern der Heimat, Amerikas "Recht auf Selbstverteidigung" zu exekutieren, verlieh dem ganzen Krieg ausgesprochen surreale Züge. Es war ja, wie wir spätestens jetzt wissen, nicht etwa unerwartet verbissene Gegenwehr der Iraker, die the blitzkrieg ins Stocken brachte und sogleich die ersten Katastrophenszenarien ins Kraut schießen ließ. Nein, sobald Amerikaner oder Briten unter Beschuss gerieten, war es aus mit der Intelligenz, nicht nur der smart weapons und des vielgerühmten Masterplans aus dem Pentagon. Da zählten mit einem Schlag weder Leib und Leben der zu Befreienden mehr, noch der Vorsatz, die Infrastruktur des Landes zu schonen. Da zählte, panic stricken, nur noch eines, der Schutz der eigenen Sicherheit vor Gefahren, für deren Abschätzung, ob eingebildet oder real, offenbar kaum Maßstäbe zur Verfügung stehen. Welch makabres Sinnbild verselbständigter Sicherheitsbedürfnisse, am Rande der Hysterie, kaum weniger als die Homeland Security-Exzesse daheim. Fasst man die Inszenierung der "Irakkrise" als Ganze ins Auge, so fällt die Feststellung schwer, wo der Hauptkriegsschauplatz lag - am Golf oder am East River - und wo die Hauptkampflinien verliefen - zwischen dem Schurkenstaat und seinen Invasoren oder zwischen den Partnern der Wertegemeinschaft beiderseits des Atlantik? Oder zwischen altem und neuem Europa? Oder zwischen den Anführern der Koalition der Willigen und ihren unwilligen Völkern? UN-Sternstunde und toter Punkt Bushs zwischenzeitlicher Ehrgeiz, sich seinen Krieg vom Weltsicherheitsrat legitimieren zu lassen, hat die Bedeutung der UNO jedenfalls für kurze Zeit enorm gesteigert. Doch für sie endete das Ringen um Verhinderung oder Legitimierung des Krieges schmerzlich ambivalent: Sternstunde und toter Punkt lagen dicht beieinander. Die Weltorganisation hat Stärke und Autorität bewiesen, indem sie sich trotz beispielloser Pressionen nicht dazu nötigen ließ, dem Recht des Stärkeren ihren Segen zu geben. Doch der Triumph verpuffte. Dass der Stärkere dennoch angriff und die UNO sich unfähig zeigte, der Aggression entgegen zu treten (ja sie nicht einmal als solche zu brandmarken vermochte), demonstrierte zweierlei: Die Vereinten Nationen sind derzeit tatsächlich nicht in der Lage, den Weltfrieden zu sichern. Jedenfalls nicht gegen ihr stärkstes Mitglied. Insofern hat Bush demonstriert quod erat demonstrandum: Ohne die Vereinigten Staaten droht der UNO das Schicksal des Völkerbundes. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die erregenden Wochen, während derer der Sicherheitsrat (Wo blieb die Generalversammlung?) überraschend zum zentralen Austragungsort des Ringens um Kriegslegitimierung oder -verhütung avancierte, sollten nicht gleich wieder vergessen, sondern sorgfältigst analysiert werden. Zu den allseits unvorhergesehenen Konsequenzen des Bush-Kriegskurses gehört das Auftauchen einer "Achse" Paris-Berlin-Moskau. Vor allem die französische Diplomatie, Bundesaußenminister Fischer, aber auch Generalsekretär Kofi Annan, haben sich im Vorfeld des Krieges erstaunlich gut "geschlagen". Sie waren die Sieger der Kraftprobe im Sicherheitsrat. Doch warum mussten die Kriegsgegner - wenn wir sie so nennen dürfen - gleich anschließend derart beflissen Bagdad den Bombern preisgeben? Mag ja sein, dass der Generalsekretär arbeitsrechtlich, haftungsrechtlich verpflichtet ist, UN-Personal unverzüglich in Sicherheit zu bringen, wenn es zwischen die Fronten oder unter direkten Beschuss geraten könnte. Obwohl das inzwischen bereits zu einem makabren Ritual geworden ist: Wenn im Irak UNSCOM (1998) oder im Kosovo die OSZE-Beobachter (1999) die Koffer packen, heißt das: Es ist so weit. Für die Zurückbleibenden, die Einheimischen lautet die Botschaft: Lasst alle Hoffnung fahren. Mag sein, dass Gerhard Schröder und Joschka Fischer sich von ähnlichen Dienstherrenpflichten leiten ließen, als sie - Nein zum Krieg hin oder her - die deutsche Botschaft in Bagdad vor allen anderen räumen ließen. Aber was zwingt die Begünstigten, was zwingt etwa Botschafter Blix und seine Mitarbeiter, die sich dem Anliegen friedlicher Abrüstung verschrieben haben, so willfährig und widerstandslos dem Druck des Aggressors zu weichen, statt - unmögliche Vorstellung?! - ihrem Engagement durch zivilen Ungehorsam, "begrenzten Regelverstoß" gegenüber dem fürsorglichen Dienstherrn Nachdruck und weltweit Respekt zu verschaffen? Gleiches gilt für die Botschaftsmitarbeiter, die Vertreter der Hilfsorganisationen und manche andere. Konnten sie nicht alle unterstellen, durch demonstrativen Verbleib an der Seite der designierten Opfer ein zunächst - vor der Gewöhnung an die täglichen Bomben - ziemlich begrenztes Risko einzugehen, wenn sie der militärischen Drohkulisse mit Zivilcourage, mit einer zivilgesellschaftlichen Machtdemonstration begegnet wären? Hätten Bush oder Blair es denn im Vorfeld des 20. März, vor dem Hintergrund derweltweiten Demonstrationen und ihrer eigenen, peinlichen Unfähigkeit, eine Sicherheitsratsmehrheit zu Stande zu bringen, tatsächlich wagen können, Herrn Blix und seine UNMOVIC-In-spekteure oder das Botschaftspersonal verbündeter Mächte mit Bomben zu belegen? Nun ja, alle Welt erinnerte sich noch des Schicksals der chinesischen Botschaft in Belgrad während der NATO-Luftangriffe 1999, mag man einwenden. - Eben! Alle Welt hätte sich erinnert, und entsprechend riskant wäre es für Washington diesmal gewesen, das Recht auf Irrtum abermals zu strapazieren. Der Tod der Rachel Corey Gewiss, die hypothetische Option, der so offenkundig anachronistischen, weil viel zu grobschlächtig wirkenden Militärmacht mit der Macht der Zivilgesellschaft zu begegnen, lässt viele Fragen offen. Zum einen scheint die civil society auf "die Stunde der Exekutive", den Ernstfall staatlicher Gewaltanwendung, bisher nur unzureichend vorbereitet. Vielleicht kann das auch gar nicht anders sein, weil die modernen, sub- und suprastaatlichen Verkehrsformen der Gesellschaftswelt (Czempiel), der zivilen Gesellschaft im Maßstab der Globalisierung, so ganz einfach nicht funktionieren, sondern ihre Wirkung längerfristig, eher subkutan entfalten. "Das weiche Wasser bricht den harten Stein", sang die Friedensbewegung der frühen 80er Jahre. Dass Bush und Blair es nicht gewagt hätten loszuschlagen, wenn beispielsweise die deutschen oder französischen Diplomaten an ihren Plätzen geblieben wären - nach dem mehrstündigen Beschuss russischer Boschaftsangehöriger in der Endphase des Krieges klingt die Hypothese weniger überzeugend, und doch scheint sie mir nicht falsifiziert. Dramatisch ins Bewusstsein getreten ist wohl primär, welches Ausmaß der Verrohung und Abstumpfung von einem Tag auf den anderen zur Normalität wird, sobald die Schwelle des Krieges erst einmal überschritten ist. Sinnfälligster Ausdruck der Verrohung, die mit der "postheroischen" (Münkler) Kriegführung der zivilisierten Welt einhergeht, ist neben diversen Gewaltakten entnervter Koalitions-Sol-daten gegen irakische Zivilisten und gegen die eigenen Leute wohl das Schicksal der amerikanischen Friedensaktivistin Rachel Corey. Sie gehört zu den Opfern israelischer Staatskriminalität im Windschatten des Irakfeldzugs. Das sind nicht wenige, auch wenn die Welt wenig Notiz von ihnen nahm. Nicht einmal von dem der Rachel Corey, deren Geschichte in alle Schulbücher gehört: Sie starb, als sie einem Bulldozer der Besatzungsarmee, dessen Fahrer sich anschickte, ein palästinensisches Wohnhaus einzureißen, die klassische Form gewaltfreien Widerstands entgegen zu setzen versuchte. Sie stellte sich der Planierraupe in den Weg - und der Fahrer überrollte die junge Frau. Sehenden Auges, wie Beobachter berichten, was der Täter natürlich bestreitet. Als Rachel Corey merkte, dass der Fahrer die Regeln des "Spiels" ignorierte und sich anschickte, sie zu töten, versuchte sie sich zu retten, wurde jedoch umgeworfen, mit Erde zugeschüttet, überrollt. Danach setzte der Fahrer zurück und überrollte sein Opfer ein zweites Mal. Welche Schlüsse sind aus den jüngsten Erfahrungen mit Gewalt und Gegengewalt zu ziehen? Haben der Fortschritt der Zivilisation, die Ausbreitung der Demokratie, der Siegeszug der Globalisierung alle Maßstäbe des Erlaubten außer Kraft gesetzt? Maßstäbe, die es noch unter den Bedingungen des Kolonialzeitalters einem Mahatma Gandhi ermöglichten, das Paradigma des gewaltfreien Widerstandes zu schaffen? Liegt es am übersteigerten Sicherheitsbedürfnis, an der Sterbensangst der postheroischen Armeen, die die einzige Supermacht in alle Winkel der Welt entsendet, seit das Ende von "Blockkonfrontation" und "Systemkonkurrenz" offenbar auch die checks und balances der modernen Weltpolitik außer Kraft setzte, ohne dass bisher Ersatz gefunden worden wäre? Zeigt sich in diesem Spezifikum metropolitaner Machtprojektion - dass der Westen Soldaten entsendet, die töten sollen, aber ihr eigenes Leben weder einsetzen wollen noch dürfen - nicht letztlich die gleiche Art der Verwundbarkeit, die sich die Terroristen des 11. September zu Nutze machten? Schließt sich hier der Kreis? Dass nämlich der Westen sich selbst am meisten schadet, wenn er glaubt, seine Sicherheit im Zweifel militärisch gewährleisten zu können? Sind es doch die Offenheit und Interdependenz der OECD-Welt, die diese Staaten, diese Gesellschaften so überlegen und gleichzeitig so verletzlich machen. An diesem Punkt springt ins Auge, dass das alte, tatsächlich revolutionärneue EU-Europa in Wirklichkeit die besseren Karten hat. Es müsste mit Blindheit geschlagen sein, ließe es sich durch die vordergründige Erfolgsgeschichte militärischer Machtentfaltung am Golf zuletzt doch noch auf den Irrweg locken, den Amerika eingeschlagen hat und, wie es scheint, aus eigener Kraft nicht mehr zu verlassen vermag.Bush ist nicht Amerika
Die gängige Sicht, es habe sich um eine Auseinandersetzung zwischen amerikanischem Unilateralismus und Multilateralismus gehandelt, verkürzt die Dinge in irreführender Weise. Die sicher richtige Feststellung, dass Großmächte, zumal die dominierende Macht, ihr politisches Handeln ungern Mehrheitsentscheidungen unterwerfen, sollte nicht zur Nivellierung des gewaltigen Unterschiedes führen, der zwischen den unilateralistischen Zügen der herkömmlichen US-Diplomatie und dem rücksichtslosen Machtwillen der gegenwärtigen Administration besteht. Es kommt nicht etwa darauf an, "Amerika" zu isolieren und eine Art antiamerikanischer Weltallianz zu schmieden. Selbst wenn dergleichen durchführbar wäre und nicht angesichts der ungleichen Bettgesellen, die da zusammenkämen, unweigerlich zum Inbegriff der Mésalliance geriete: Man würde sich von der besseren Hälfte Amerikas isolieren, wo es doch darum geht, die Selbstheilungskräfte dieser "Mutter aller Demokratien" freizusetzen. Worauf es sehr wohl ankommt, ist die Isolierung der extremistischen Kräfte, die mit dieser Administration an die Schalthebel der Macht gelangt sind, und die Stärkung aller erdenklichen Gegenkräfte gegen die Fortsetzung und Konsolidierung ihres Kriegskurses. Der Vorwurf des Antiamerikanismus geht gegenüber einer aufgeklärten Politik, die auf das bessere Amerika - und auf Glanzpunkte amerikanischer Nachkriegsdiplomatie wie UNO und EU - setzt, gänzlich ins Leere. Aber wie macht man das? Sicherlich nicht durch Ergebenheitsadressen à la Berlusconi, Aznar, Merkel oder, um noch tiefer in die politische Provinz zu schauen, Brandenburgs bewährter General a.D. Schönbohm und andere Neueuropäer von Rumsfelds Gnaden. Aber sicher auch nicht mit dem Westenta-schen-Unilateralismus, dem Gerhard Schröder in allzu regelmäßigen Abständen frönt. Ein Glück, dass er den "deutschen Weg" jetzt wohl für etwas längere Zeit aus seinem Repertoire gestrichen haben dürfte. Zweckbündnisse wie die ad-hoc-Alli-anz der zeitweiligen Sicherheitsratspartner Berlin, Paris und Moskau haben, wie sich zeigte, ihren Wert, besonders wenn sie als Überraschung kommen. Aber das macht noch keine Achse. Gewiss, Schröder war gut beraten - hatte in seiner selbstverschuldeten diplomatischen Klemme aber auch kaum eine andere intelligente Wahl -, Moskau diesmal nicht so schnöde abfahren zu lassen wie 1999 im Vorfeld des Jugoslawien-Krieges, als Bonn/ Berlin den herbeigeeilten russischen Premier Primakow wie einen lästigen Bittsteller abfertigte. Aber kein Flirt mit Moskau kann die funktionierende EU-Kooperation ersetzen. Nicht einmal während der Kosovokrise 1998/99 machte die strukturelle Außenpolitikunfähigkeit dieser Union sich so bitter bemerkbar wie jetzt, im peinlichen Gegeneinander von Peripherie und Kern. Der Wiederaufbau nach diesem Irakkrieg erfordert mehr als einen Marshallplan. Und nicht zuletzt wiederum ein European Recovery Program - das diesmal zweifellos nicht von Washington, sondern von Paris und Berlin ausgehen muss und 2003 ff. vor allem eine Sache des politischen Willens sowie diplomatischer Finesse, nicht so sehr der Wirtschaftshilfe für andere wäre. Ohne wirtschaftliche Stärkung der eigenen Kräfte dürfte allerdings aus einer europapolitischen Offensive des "Kerns" nichts werden. Auch auf ökonomischem Gebiet erfordert die Befreiung aus einer steril gewordenen Orthodoxie des Denkens jetzt eine außergewöhnliche Kraftanstrengung der politischen Phantasie und, in erster Linie, Willenskraft. Dass sich in der politischen Klasse sowohl Frankreichs, hier vor allem, als auch Deutschlands entsprechende Tendenzen anbahnen, haben die jüngsten Emanzipationsversuche im Umgang mit dem Gesslerhut "Stabilitätspakt" und den Schulmeistereien der Brüsseler Gralshüter signalisiert. Aber die bisher an den Tag gelegte Zaghaftigkeit erlaubt keine großen Hoffnungen.