Alle gegen alle

Der Niedergang des UN-Systems schadet der Menschheit

In der UNO bildeten blockfreie Staaten und die Sowjetunion einst einen Gegenpol zu den kapitalistischen Großmächten und propagierten ein anderes Entwicklungsmodell. In der heutigen kapitalistischen »One World« dominiert die nationalstaatliche Konkurrenz, internationale Zusammenarbeit wird grundsätzlich in Frage stellt. Was bleibt als Utopie?

»Der Völkerbund ist tot, lang leben die Vereinten Nationen« – mit diesen Worten beendete der Präsident des Völkerbunds, Robert Cecil, 1946 dessen letzte Sitzung. 1920 gegründet, um zwischenstaatliche Streitigkeiten friedlich beizulegen, war der Völkerbund gescheitert. Er war in den 1930er Jahren nicht in der Lage gewesen, etwas gegen die Aggressionskriege Japans und Italiens oder die Aufrüstung Deutschlands zu unternehmen. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er gänzlich bedeutungslos.

Die politischen Ansätze zur Konfliktregelung und internationalen Zusammenarbeit wurden von der UNO weiter gefasst. Die 1945 beschlossene UN-Charta enthält unter anderem Verpflichtungen zur Kooperation für ökonomische Entwicklung und sozialen Fortschritt sowie zur Beachtung der Menschenrechte. Diese wurden 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben, zu ihnen gehören neben individuellen Freiheitsrechten auch soziale Rechte wie das Recht auf Arbeit, Bildung, Gesundheit und Freizeit. Entsprechende Unterorganisationen wie FAO und UNESCO wurden gegründet.

Das war alles andere als perfekt: Die Menschenrechtserklärung folgt einem damals noch kaum hinterfragten reaktionären Familien- und Geschlechterbild, Kapitel XI der UN-Charta erkennt die Kolonialherrschaft an, wenngleich mit der Verpflichtung, »die Selbstregierung zu entwickeln«. Dennoch wurden damals theoretische Grundlagen geschaffen, die eine andere Form der Globalisierung hätten ermöglichen können. Das Grundproblem des Völkerbunds aber prägte zwangsläufig auch seine Nachfolgeorganisation. Die vorgeblich Vereinten Nationen waren ein Zusammenschluss konkurrierender, im Extremfall gar gegeneinander Krieg führender Staaten, deren »nationale Interessen« schnell wieder Oberhand gewannen.

Clubs im Club

Ein Club kann nicht besser sein als seine Mitglieder. Diese können sich zwar gemeinsam vornehmen, bessere Menschen zu werden und sich ein entsprechendes Reglement auferlegen. Ein solches allein wird aber nicht genügen. Wenn zwei mächtige Clubmitglieder um die Führung konkurrieren, werden sie die weniger einflussreichen Mitglieder zwecks Gefolgschaft umwerben – mit allen möglichen Mitteln.

Die internationalen Beziehungen folgen aber einer ähnlichen Dynamik. Der Nationalstaat, die politische Organisationsform der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, ist die Vertretung der nationalen Bourgeoisie im globalen Gefüge und für diese umso wichtiger, je »internationaler« deren Interessen in anderen Ländern sind. Diese Interessen sind, wie die Geschichte des Kapitalismus zeigt, eng gefasst und auf kurzfristigen Profit ausgerichtet. Oft wurde argumentiert, dass hochindustrialisierte Staaten die besten Geschäfte untereinander machen, es also auch in deren Eigeninteresse sinnvoll sei, langfristig in die Entwicklung ärmerer Staaten zu investieren. Auf die politische Praxis hatte das jedoch wenig Einfluss.

Aber das Staatensystem ist dynamisch. Die grenzüberschreitende Entfesselung der Produktivkräfte sorgte, wenngleich wesentlich später als von Marx erwartet, dafür, dass »der Westen« an Macht verlor und die Interessen einstiger Kolonien und ärmerer Staaten berücksichtigen musste. 1955 konstituierten sich 23 asiatische und sechs afrikanische Staaten auf der Konferenz von Bandung als »Dritte Welt«, analog zum Dritten Stand der Französischen Revolution. 1961 wurde daraus die Bewegung der Blockfreien Staaten. Zudem stand den kapitalistischen Mächten bis 1990 die Sowjetunion gegenüber, die mit verbündeten und abhängigen Staaten einen eigenen Block bildete und ebenfalls um die Blockfreien warb.

Die Zeit von den 1960er bis zu den 90er Jahren, vom Ende der Kolonialzeit bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, war die produktivste der UNO – weil in dieser Zeit am meisten gestritten wurde, und zwar auch über Grundsätzliches. So forderten die Blockfreien 1973 eine Neue Weltwirtschaftsordnung, deren Grundlagen in der UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) erarbeitet wurden. Sie sollte unter anderem durch Schuldenentlastung und strengere Regeln für transnationale Konzerne – inklusive der Möglichkeit, diese zu enteignen – die Entwicklung armer Staaten erleichtern. Zentral waren Änderungen der Handelspolitik, die rohstoffproduzierende Staaten begünstigen sollten. »Fair Trade« war hier nicht als individuelles Kaufverhalten gutwilliger Konsumenten gedacht, sondern als Regelwerk des internationalen Rechts. Die UN-Generalversammlung beschloss 1974 die »Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung«, doch es folgten nur rechtlich unverbindliche Abkommen.

Bei der Gründung der UN hatte man versucht, aus dem Scheitern des Völkerbunds zu lernen. Für die friedliche Beilegung von Konflikten war nun der UN-Sicherheitsrat zuständig, in dem die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs (USA, Großbritannien, Sowjetunion, Frankreich, China) ständige Mitglieder mit Vetorecht waren. Als Gremium einer globalen Staaten-Oligarchie war der Sicherheitsrat theoretisch schlagkräftiger, doch blockierten sich während des Kalten Krieges der Westen und die Sowjetunion gegenseitig. Der Generalversammlung hingegen standen keine Machtmittel zur Verfügung. Auch als globales Parlament konnte sie schwerlich gelten, da die formale Gleichheit Indien oder China ebenso viel Gewicht gab wie Kleinstaaten mit einigen hunderttausend Einwohner*innen; überdies repräsentierten autokratische Regierungen nicht die Bevölkerung.

Ende der Entwicklungsmodelle

Von globalen Machtverhältnissen geprägt ist auch die Politik der UN-Unterorganisationen. Meist sind sie von den Beitragszahlungen der Mitgliedsstaaten abhängig, die Führung beanspruchen – aber auch Rücksichten nehmen und Kompromisse eingehen müssen. Zudem entwickelten diese Unterorganisationen eine bürokratische Eigendynamik, was indes nicht nur negativ gesehen werden sollte. Wer als hochqualifizierte Wissenschaftlerin oder Verwaltungsexperte sein Berufsleben dem United Nations Development Programme (UNDP) widmet, hat eine klare Vorstellung von Entwicklungspolitik und versucht, diese durchzusetzen. So war beispielsweise William Draper, zuvor Fondsmanager und Präsident der staatlichen Export-Import-Bank der USA unter Ronald Reagan, nicht der fortschrittlichste Kandidat für die Leitung der UNDP. Aber in seine Amtszeit von 1986 bis 1993 fiel der Beschluss, einen jährlichen Human Development Report in Auftrag zu geben, der das Versagen der westlichen Entwicklungspolitik schonungslos bloßstellte.

Die realpolitische Wirkung der Entwicklungsdebatten während des Kalten Kriegs ist kaum zu ermitteln, schon weil diese Debatten nicht unabhängig von einzelstaatlicher Politik waren, sondern dieser eher ein globales Forum gaben. Eine grundsätzliche Änderung der ökonomischen Machtverhältnisse bewirkten sie nicht. Überdies gehörten zum UN-System von Anfang an auch Internationaler Währungsfonds und Weltbank. Deren Strukturanpassungsprogramme für Länder des Südens, die wegen ihrer Vernachlässigung sozialer Belange berüchtigt sind, gibt es seit den 1950er Jahren. In den 1980er Jahren wurden ihre Bedingungen ungeachtet der Debatten über eine Neue Weltwirtschaftsordnung noch verschärft.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion markierte dann zwar nicht das »Ende der Geschichte«, aber weitgehend das Ende der Debatte über Entwicklungsmodelle. Das Scheitern des »realen Sozialismus« war jedoch nicht die einzige Ursache. Eine weiteres Manko: Die Entwicklungsdebatte in der UNO war staatliche Interessenvertretung, unterstützt von Wissenschaftler*innen und Publizist*innen und zuweilen auch verbal von sozialdemokratischen Regierungen im Westen. Die Sache einer starken sozialen Bewegung war sie aber nie, so dass sie ohne staatliche Repräsentanz schnell verebbte.

Auch den Führungsschichten aufsteigender und aufstrebender Staaten fehlte das Interesse an einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, sie sahen ihren Vorteil im real existierenden Kapitalismus. Beispiel Jugoslawien: Einst für die Blockfreienbewegung bedeutend, sind die daraus hervorgegangenen Staaten Mitglied der EU geworden oder streben dies an. »Tigerstaaten« wie Südkorea, die sich in den 1980er Jahren für den Weltmarkt öffneten, haben nun zum Westen aufgeschlossen. In zahlreichen, vor allem kleinbäuerlich geprägten afrikanischen Staaten reichen die Ressourcen jedoch nicht aus für eine interne Akkumulation, die Voraussetzung wäre, um zum »Löwenstaat« zu werden. Ohne Fürsprache von Großmächten bleibt ihnen nur die Akzeptanz der gegebenen Wirtschaftsordnung und ihres Entwicklungsmodells.

Das ehemals »sozialistische Lager« kommt für eine Fürsprache nicht in Frage. Dessen oligarchischer Neokapitalismus kann schwerlich als Modell gelten. Die ambitionierte Außenpolitik von Wladimir Putin setzt auf Klientelbildung durch die Unterstützung von Diktatoren. China folgt einem staatskapitalistischen Entwicklungsmodell, doch soweit derzeit ersichtlich, soll die chinesische Weltmachtrolle über ökonomische Klientelbeziehungen, nicht über den Aufbau einer von ideologischen oder politischen Gemeinsamkeiten getragenen Bewegung gestärkt werden.

Dass Entwicklung auf kapitalistischem Weg zu erfolgen hat, wird kaum noch in Frage gestellt. Entwicklungsziele werden im Rahmen der UNO jedoch weiterhin propagiert, und in gesellschafts- und umweltpolitischer Hinsicht sind durchaus Fortschritte zu verzeichnen. Die im Jahr 2000 beschlossenen Millenium Development Goals beinhalten Geschlechtergleichheit und Empowerment von Frauen, ein Anliegen, das in den 1980er Jahren noch keine große Rolle spielte. Doch die Rede ist allein von Zielen, nicht von Mitteln, und wo es konkret wird, etwa bei »Ziel 8«, der »globalen Partnerschaft für Entwicklung«, ist von einem »nicht diskriminierenden Handels- und Finanzsystem« die Rede, womit gemeint ist: nicht diskriminierend für transnationale Banken und Konzerne. Diese sind für das UNDP »Schlüsselpartner« in der Entwicklungspolitik und werden ins UN-System eingebunden.

Heute soll das UN-System vor allem der Umweltpolitik dienen. Diese ist seit der Konferenz über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro ein zentrales Thema der UNO. Bei dieser Konferenz hielt die damals zwölfjährige Severn Suzuki eine Rede, in der sie über Umweltschutz, aber auch über »die hungerleidenden Kinder dieser Welt« sprach. Von ihnen ist bei Greta Thunberg nicht mehr die Rede, und auch auf offizieller Ebene ist das »und Entwicklung« aus der Klimapolitik weitgehend verschwunden.

Dass die Verhandlungen über ein Welthandelsabkommen 2005 scheiterten, weil die westlichen Staaten, die nicht auf Agrarsubventionen verzichten wollten, ihre Vorstellungen von »Freihandel« nicht mehr durchsetzen konnten, war ein weiteres Zeichen dafür, dass die »multipolare Welt« Realität geworden ist. Doch so sehr sich die Pole politisch und gesellschaftlich unterscheiden, es ist eine »One World« der kapitalistischen Konkurrenz. In dieser Welt werden Vorrang und Führungsrolle der Unternehmen (die auch riesige Staatskonzerne wie Saudi-Aramco oder China State Construction Engineering sein können) kaum noch in Frage gestellt.

Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass der »Multilateralismus« nun fast überall in Frage gestellt wird. Dass ein großer Teil der Weltbevölkerung sozialdarwinistisches Konkurrenzdenken verinnerlicht hat, brachte unter anderem in den USA und Brasilien rechtsnationalistische Präsidenten an die Macht. Warum nicht auch die internationalen Beziehungen in aller Offenheit nach den Regeln des kapitalistischen Geschäfts gestalten? Politische Rücksichtnahme ist für Welt- und Großmächte nicht mehr erforderlich. Selbst der reaktionärste US-Präsident hätte es während des Kalten Kriegs nicht gewagt, arme Länder als »shithole countries« zu bezeichnen, und die Vorgänger des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro waren wenigstens noch so höflich zu behaupten, der Regenwald liege ihnen am Herzen. Man muss auch nicht mehr vorgeben, an Armutsbekämpfung interessiert zu sein, wenn die eigene Wählerschaft Armut für die Folge von Charakterschwäche hält und hungerleidende Kinder ihr gleichgültig sind.

Aber auch China, das rhetorisch den sogenannten Freihandel propagiert, verabschiedet sich auf andere Art vom »Multilateralismus«. Die Regierung baut über Direktinvestitionen und die Belt and Road Initiative Beziehungen auf, die dem Neokolonialismus ökonomisch ähneln und mit denen ärmere Staaten in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht werden (siehe iz3w 362 und 373).

Ein Forum für »Deals«

Ein Club kann nicht besser sein als seine Mitglieder. Wenn mächtige Mitglieder ihre schlechtesten Charaktereigenschaften offen ausleben und niemand ihnen entgegentritt, kann das den Club sprengen. Dies muss keine offizielle Auflösung sein. Zu einer solchen dürfte es bei der UNO nicht kommen, auch Isolationisten benötigen angesichts der weltwirtschaftlichen Verflechtungen ein Verhandlungsforum für »Deals«. Doch die »internationale Gemeinschaft« dürfte weiter an Bedeutung verlieren. Das mindert die Entwicklungschancen jener armen Länder weiter, die auch vom Klimawandel am härtesten betroffen sein werden.

In keinem anderen Bereich ist die Notwendigkeit globaler Zusammenarbeit so offensichtlich wie in der Klimapolitik. Für deren Erfolg gibt es einen unerbittlichen Maßstab: die globalen Emissionen von Treibhausgasen. Diese stiegen trotz aller Klimakonferenzen seit 1992 immer weiter an, mit Ausnahme des Jahres 2009 infolge der Wirtschaftskrise im Vorjahr. Im aktuellen Corona-Jahr dürfte es ebenfalls einen Emissionsrückgang geben. Der Markt sorgt nur für Umweltschutz, wenn er zusammenbricht. Die auf »marktwirtschaftlichen« Mechanismen beruhende Klimapolitik (tatsächlich handelt es sich bei der Schaffung künstlicher Märkte für den Emissionshandel um einen staatlichen Eingriff) hat versagt. In Zeiten sich verschärfender nationaler Konkurrenz sinken die Chancen weiter, dass rechtzeitig Maßnahmen zur Begrenzung der globalen Erwärmung ergriffen werden.

Immerhin gibt es nun eine Klimaschutzbewegung, die, wenn sie sich weiter verbreitet und politisiert, auch auf staatliche Repräsentanz Einfluss nehmen könnte. Ein »Green New Deal« auf nationaler Ebene (riesige öffentliche Investitionen, Beendigung klimaschädlicher Produktion, soziale Absicherung der Lohnabhängigen) bedarf allerdings eines globalen Pendants: Einer Neuen Weltwirtschaftsordnung 2.0, die Umwelt- und Entwicklungspolitik verknüpft.

Allerdings müsste die Klimaschutzbewegung bei Severn Suzuki anknüpfen und sich für die soziale Frage und Entwicklungspolitik erwärmen. Dann könnte – ein wenig Utopie kann in düsteren Zeiten nicht schaden – ein sozialdemokratischer Internationalismus, der Zugriff auf die Produktionsmittel nimmt, den Weg bereiten für Sozialismus und demokratische transnationale Institutionen. Irgendwann könnte es dann heißen: »Die Vereinten Nationen sind tot – lang lebe die vereinte Menschheit.«

Jörn Schulz ist Redakteur der Wochenzeitung Jungle World.