Schwache Staaten? Überlegungen zu einer fragwürdigen entwicklungspolitischen Kategorie

in (15.04.2005)

Für Immanuel Wallerstein (1979, 20ff) sind die Staaten der Peripherie ex definitione "schwach" - und dies ist sowohl eine der wesentlichsten Ursachen als auch eine Konsequenz ihrer Unterentwicklung..

Für Gunnar Myrdal (1970, 202 ff) ist "der schwache Staat ein Aspekt aller Probleme der Unterentwicklung" (ebd. 203). Als paradigmatisch für diese mutmaß-liche Schwäche der peripheren Staaten werden neuerdings von Vertretern der un-terschiedlichsten Ansätze in aller erster Linie die des afrikanischen Kontinents angeführt, welche wahlweise als "weak states" (Jackson/Rosberg 1982, Migdal 1988), "failed" oder "collapsed states" (Zartman 1995), "decaying states" (Schlichte 2000), usw. beschrieben werden. Wenn irgendwo, dann müsste die These in Afrika ihre Bestätigung finden. Anhand von afrikanischen Beispielen soll sie deshalb im Folgenden diskutiert werden. Dazu werde ich zunächst einige empiri-sche Befunde darstellen, die die These zu bestätigen scheinen - v.a. insofern als sie deutlich machen, dass vielerorts nicht-staatliche Akteure Funktionen übernehmen, die in der bürgerlich-kapitalistischen Moderne üblicherweise als staatliche Hoheitsfunktionen angesehen werden. Auffällig ist allerdings, dass diese Akteure in aller Regel nicht nur in Konkurrenz-, sondern auch in Koopera-tionsbeziehungen zu den staatlichen Apparaten stehen und dass dieses Arrangement der Reichtumsakkumulation weder auf der einen noch auf der anderen Seite im Wege zu stehen scheint. Im zweiten Teil geht es dann um die theoretische Interpreta-tion dieser Befunde. Zentral hierfür scheint mir die Unterscheidung zwischen der "Regulationsmacht" des Staates und seiner "Akkumulationssicherungsmacht" zu sein. Die erstere ist im heutigen Afrika generell schwach entwickelt, die letz-tere dafür umso stärker. Historisch betrachtet ist dies allerdings keineswegs die Ausnahme; erst mit der Herausbildung der spezifisch kapitalistischen Form der Trennung der Sphären von Politik und Ökonomie, die dem Staat im ökonomischen Bereich ausschließlich die Sicherung der Rahmenbedingungen des Marktgeschehens überantwortete, wurde die Regulationsmacht des Staates zu dessen wichtigster Funktion. Diese Sphärentrennung konnte aber in Afrika aus weiter zu diskutieren-den Gründen nur sehr unvollkommen durchgesetzt werden, was zwar sowohl wirt-schaftlicher als auch demokratischer Entwicklung im Wege steht, nicht aber der Reichtumsakkumulation im "Block an der Macht". Was die Akkumulationssicherungs-macht angeht, sind die meisten dieser Staaten starke, nicht schwache.

Empirische Befunde Das koloniale Erbe

Die afrikanischen Staaten, die in den 1960er/70er Jahren die Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialmächten erlangten, waren nahezu ausnahmslos eth-nisch, sprachlich, kulturell und ökonomisch extrem heterogene Gebilde, die bis dato alleine durch die gemeinsame Unterwerfung unter die Herrschaft der jeweili-gen Kolonialadministrationen innerhalb der von diesen abgesteckten Grenzen zu-sammengehalten worden waren. Von deren Verwaltungs- und Herrschaftsapparat er-erbten sie in der Regel den Unterbau; die oberen, zuvor den Weißen reservierten Etagen mussten sie meist ziemlich schnell mit kurzfristig ausgebildeten eigenen Kräften aufstocken, was selten ohne Schwierigkeiten und Effizienzprobleme zu bewerkstelligen war. Gemessen am Weberschen Idealtyp eines ausschließlich an Sachgesetzlichkeiten orientierten, ohne Ansehen der Person und ohne Eigeninteressen entscheidenden und eben deswegen ein Optimum an Effizienz erreichenden bürokratischen Apparates weisen jedoch schon die kolonialen Administrationen erhebliche Defizite auf. Bürokratisch-legale Herrschaft im Sinne von Weber (1964, 160 ff) gab es in den kolonialen Staaten wohl als Fassade, in den Hauptstädten und in den Selbstdar-stellungen des Apparates; das einzige oder auch nur das dominierende kolonial-staatliche Ordnungsprinzip stellte sie jedoch nirgendwo dar. Sie musste regelmä-ßig schon am Zensus scheitern - ohne Statistik keine bürokratische Herrschaft. Gegenüber der zahlenmäßigen Erfassung durch die Behörden aber besaßen die Bevöl-kerungen des agrarischen Hinterlandes zwei entscheidende Trümpfe: die Waffe der Mobilität und die Subsistenzproduktion. Land war fast auf dem ganzen Kontinent im Überfluss vorhanden, weshalb man sich dem Zugriff der Zensus- und Steuerbe-hörden relativ leicht durch Flucht in den Busch und gegebenenfalls durch Neuan-siedlung in bisher nicht als besiedelt erfasstem Land entziehen konnte (vgl. z.B. Alber 2000, 180ff, 206 ff). Und auch Produktionsziffern waren kaum zu erhe-ben, solange Subsistenzproduktion dominierte und nur ein Bruchteil der Arbeits-produkte den Markt erreichte. Wenn die Zensusbeamten und Steuereintreiber es nicht schafften, in einem Überraschungsangriff das ganze Dorf zu umzingeln, hat-ten die Dörfler bei ihrem Eintreffen meist schon einen Großteil der Güter und Menschen in den Busch verfrachtet. Zudem blieb der Verwaltungsapparat aus finan-ziellen Gründen in allen Kolonien viel zu klein, um im gesamten Territorium prä-sent sein zu können. Deshalb waren die Kolonialmächte überall gezwungen, außer auf Bürokratie auch auf Formen der "intermediären" und der "willkürlichen" bzw. "willkürlich-despotischen" Herrschaft zurückzugreifen (vgl. Spittler 1981, 21 ff). Ein Großteil der administrativen Aufgaben inklusive eines Teils der Steuer-einziehung wurde an einheimische Potentaten auf der Dorf- oder Kantonsebene de-legiert - "intermediäre Herrschaft". In die Willkür dieser Potentaten blieb es dann gestellt, auf welche Weise sie die Lasten dafür intern verteilen und welche Art von Zwang sie dabei ausüben wollten - eine Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols insofern, als von der Zentralinstanz nicht kontrollierte und nicht kontrollierbare Gewalt (mehr oder weniger ausdrücklich) akzeptiert wurde. Die höheren Stufen der Verwaltung konnten zwar mithilfe ihres Militär- und Poli-zeiapparates einzelne Maßnahmen an einzelnen Orten mittels Gewaltandrohung oder auch brutaler Gewaltanwendung recht effektiv umsetzen - In-Schutt-und-Asche-Legen von ganzen Dörfern durch Gewehr- oder Kanonensalven war ein durchaus ge-bräuchliches Mittel (vgl. z.B. Ranger 1979; Trotha 1994). Aber solche Aktionen waren immer nur als punktuelle und exemplarische möglich, niemals flächendeckend als Sanktion gegen jede Normabweichung ein und derselben Art - "willkürlich-despotische Herrschaft". Auch diese Defizite - gemessen am idealtypischen Modell der bürokratisch-legalen Herrschaft - erbten die Regierungen der neuen Staaten von ihren kolonia-len Vorgängern. Wenn man zusätzlich ihre Heterogenität und die Qualifikations-verluste auf den oberen Verwaltungsstufen in Rechnung stellte, mussten sie zwangsläufig als extrem schwach erscheinen. Was sie überhaupt in den alten Gren-zen zusammenhielt (die überwältigende Mehrzahl seit nunmehr 40 Jahren!) musste als Rätsel anmuten - Jackson und Rosberg fragen sich schon 1982 verwundert "why Africa's weak states persist". Des Rätsels Lösung sehen sie und in ihrer Nach-folge zahllose weitere Autoren in der juristischen Anerkennung der Souveränität dieser Staaten von außen - durch die Vereinten Nationen v.a. Es handle sich um rein "juridische" Staaten, nicht wie im Okzident, aber auch in Japan, Russland, China etc. um "empirische", die ihre Staatlichkeit (und das heißt in dieser Sicht vor allem: Gebietsherrschaft und Gewaltmonopol) schon lange vor ihrer ju-ristischen Anerkennung von außen handgreiflich etabliert hatten (vgl. dies. 1982; Schiel 2000).

Privatisierung staatlicher Hoheitsfunktionen

Die Interpretation hat einiges für sich. Die aus der Kolonialzeit überkomme-ne Brüchigkeit des zentralstaatlichen Monopols der legitimen physischen Gewalt-anwendung hat sich in der nachkolonialen Epoche, insbesondere in den 1980er/90er Jahren, eher noch verschärft. Zum Teil wurde dies über durchaus offizielle Kanä-le bewerkstelligt: Im Gefolge der Auflagen zur Reduzierung der Staatsausgaben mittels Privatisierung, die der IWF allüberall mit seinen Strukturanpassungspro-grammen verband, wurden nicht nur staatliche Wirtschaftsunternehmen in private Hände überführt; auch eine Vielzahl von staatlichen Hoheitsfunktionen wurde pri-vatisiert. Symptomatisch erscheint der Fall Mosambik (vgl. zum Folgenden Hibou 1999, 15 ff), wo zunächst die Zollkontrolle an eine private Wachgesellschaft übertragen wurde, dann auch die Hafenkontrolle und die Vergabe von Hafennut-zungsrechten (an eine andere), schließlich die Überwachung der gesamten Seegren-ze des Landes an ausländische Privatfirmen. Die im Lande tätigen Großkonzerne besitzen ihre privaten Polizeien, die die Einhaltung des Rechts wie der Firmen-ordnungen auch mit Waffengewalt durchsetzen. Die Fischereirechte in den mosam-bikanischen Hoheitsgewässern liegen fast ausschließlich in den Händen ausländi-scher (südafrikanischer, japanischer und spanischer) Firmen; ähnliches gilt für die Forstnutzungsrechte. Und Mosambik ist kein Einzelfall; in Kamerun und Elfen-beinküste z.B. sieht es kaum anders aus. Eher in der Grauzone zwischen dem Legalen und dem Illegalen, dem Offiziellen und dem Inoffiziellen stoßen wir dann auf den Markt der privaten Sicherheits-dienste und des militärischen Söldnertums. Beide werden sowohl von Regierungen als auch von Oppositionellen- oder Rebellengruppierungen als auch von privaten Wirtschaftsinteressen in Anspruch genommen. Einige private Sicherheitsgesell-schaften haben sich zu kontinentweit agierenden Großunternehmen entwickelt; und sie alle pflegen enge Beziehungen zu den Großmächten - Executive Outcomes und Sandline zu Großbritannien (und Südafrika), MPRI und Wackenhut zu den Vereinig-ten Staaten, Africa Security und Secrets zu Frankreich (vgl. ebd. 26).

"Parasouveräne"

Noch tiefer in der Grauzone finden wir dann lokale Potentaten oder Machtal-lianzen, die sich als "Parasouveräne" (Klute 1998, 1999) den zentralstaatlichen Gewaltmonopolansprüchen weitgehend entzogen haben - Warlords, Gewaltunternehmer, kriegerische Propheten, sich "ethnisch" oder "traditionell" legitimierende Re-bellenführer, Schmuggelbarone u. dgl. mehr. Als paradigmatisch behandelt Klute einen Fall aus dem Norden Malis, wo es im Gefolge der Tuaregrebellionen in den frühen 1990er Jahren zu einer Allianz zwischen einer der Rebellenbewegungen (MPA - Mouvement Populaire de l'Azawad) und einer schon etablierten Herrschergruppe um den administrativen Häuptling der Region, aus dessen Untertanen sich die Auf-ständischen größtenteils rekrutierten, gekommen war. In dieser Verbindung zwi-schen einer über Gewaltmittel verfügenden Kriegergruppe und einer über politi-sche Erfahrungen und Verbindungen verfügenden etablierten Herrschergruppe sieht er den entscheidenden strategischen Vorteil dieser Partei in der Auseinanderset-zung mit ihren zahlreichen Konkurrenten um eine "parasouveräne" Position in der Region. Sie ermöglichte es ihr, in einem Bündnis mit der Zentralregierung und mit logistischer Unterstützung durch die Armee die anderen Rebellengruppen ent-weder militärisch zu besiegen oder politisch zu isolieren - was die Staatsfüh-rung zuvor über viele Jahre hinweg vergebens versucht hatte. Als Gegenleistung forderte die Allianz von der Zentralmacht bedeutende politische Zugeständnisse und eine Umleitung beträchtlicher Teile des Entwicklungshilfegelderstroms auf ihre Mühlen. Als wichtigste politische Zugeständnisse erscheinen dem Autor, dass die Region, in der die Allianz dominierte, vier Abgeordnetensitze im Zentralpar-lament zugestanden bekam, anstelle eines einzigen, auf den sie nach ihrer Ein-wohnerzahl Anspruch gehabt hätte; und dass mehr als 1.000 ehemalige Rebellen der MPA (mehr als die Hälfte der zur Verfügung stehenden Plätze) in die regulären staatlichen Sicherheitskräfte der Region aufgenommen wurden. Bei den nach wie vor stattfindenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Allianz und konkurrierenden Gruppen greift die Armee als solche nicht ein; und auch die Po-lizeigewalt im Innern überlässt sie den "Parasouveränen". Bemerkenswert er-scheint Klute weiterhin, dass die "Parasouveräne" erstmalig in der Region ver-suchten, ihre Herrschaft als "Gebietsherrschaft" zu organisieren - ein Prinzip, das die Nomaden zuvor niemals akzeptiert hatten. Im Rahmen der Dezentralisie-rungsreformen des malischen Staates wurden die Wahlbezirksgrenzen nach geogra-phischen Gesichtspunkten festgelegt, wodurch die nomadischen Herrscher ihre au-ßerhalb dieser Bezirke siedelnden Untertanen eigentlich als "vote banks" hätten verlieren müssen. Um dem entgegenzuwirken, bemühen sie sich mit allen Mitteln einschließlich der militärischen Gewalt um Erweiterung ihrer Gebietsherrschaft auf Kosten ihrer verbliebenen Konkurrenten. Etwas andere Akzente beim gleichen Thema setzt Janet Roitman (1999) in einer Arbeit über trans- und subnationale Akkumulations- und Macht-Regimes im Tschad-Becken, die sie sowohl durch Konkurrenz- und Rivalitäts- als auch durch Rezipro-zitäts- und Komplizitäts-Beziehungen zu den nationalstaatlichen Zentralinstanzen bestimmt sieht. Für das Emporkommen dieser Regimes macht sie vor allem zwei Ur-sachen aus: 1. die ökonomische Marginalisierung der Region auf dem Weltmarkt infolge des Verfalls der Nachfrage nach ihren agrarischen Exportprodukten; 2. ihre Funktion als Drehscheibe für die gewinnträchtige Versorgung der Konfliktzo-nen im Niger, im Tschad, in der Zentralafrikanischen Republik, im Sudan mit Waf-fen, Benzin, Kraftfahrzeugen, Zement und anderem kriegswichtigem Material sowie für den Handel mit Diamanten, Elfenbein und Drogen. Der boomende, aber offiziell illegale Handel mit diesen Produkten liegt größtenteils in den Händen von Mili-tärs, ehemaligen Militärs und Anführern von Privatarmeen oder Rebellengruppen (die Grenzen zwischen all diesen Kategorien sind fließend) sowie von mit diesen kooperierenden etablierten Fernhandelskaufleuten, die ihre alten Exportgeschäfte zugunsten der lukrativen neuen aufgegeben haben. Auch für Hilfsarbeiter jedweder Art - Begleiter, Wächter, Führer, Träger für die Transportkolonnen z.B. - gibt es einigen Bedarf, was den Anstieg der Arbeitslosenzahlen im Gefolge der Struk-turanpassungsprogramme einigermaßen in Grenzen hielt. Die so entstandenen, mit erheblichen Gewaltmitteln ausgestatteten Allianzen zwischen Militärs und Kauf-leuten kontrollieren nicht nur die Transportrouten für ihre Güter in den Grenz-regionen aus eigener Machtvollkommenheit; sie haben sich auch Stützpunkte, Spei-cher- und Lagerplätze, Versorgungs- und Tauschstationen geschaffen, die sich oftmals zu Marktflecken, bisweilen gar zu richtigen Städten entwickelten. Hier üben sie quasistaatliche Hoheitsrechte aus: Sie besitzen das Gewaltmonopol (zu-mindest de facto) und nutzen es rücksichtslos aus. Sie erheben Steuern und Abga-ben bzw. Schutzgelder, erteilen Marktkonzessionen und Zugangsrechte, garantieren den reibungslosen Ablauf des Marktgeschehens und gewähren Schutz vor konkurrie-renden Allianzen. In Mbaiboum, einer dieser neuen Städte im Grenzgebiet von Tschad, Kamerun und der Zentralafrikanischen Republik haben sie sogar schon eine Kirche gestiftet.

Beziehungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren

In eben diesem Mbaiboum jedoch zeigt sich auch deutlich, dass das Verhältnis zwischen der zentralen Staatsmacht und den neuen "Parasouveränen" (um Klutes Terminus weiter zu benützen) nicht nur eines der Konkurrenz und der Rivalität, sondern eben auch eines der Komplizität und der Reziprozität ist. 1992 wurde dort eine kamerunische Zollstation errichtet. Und "obwohl der Staat dieser flo-rierenden 'Stadt' weder Wasser noch Elektrizität liefert, schafft er es, jähr-lich 20 Millionen Francs CFA für den Verkauf von 'Marktrechten' und Lizenzen zu erheben" (ebd. 181). Den Akkumulationschancen der parastaatlichen "inoffiziellen Regulateure" steht dies kaum im Wege. Sie kassieren 5.000 bis 10.000 Francs CFA pro Fahrzeug an Gebühren für Ein- und Ausfahrt ins Stadtgebiet, 10.000 bis 50.000 Francs CFA pro Lastwagen an Mautgebühren auf den Zugangsstraßen - von den Kommissions- und Schutzgebühren für den lukrativen Gold-, Waffen- und Diamanten-handel ganz zu schweigen. Und darüber, wiederum, sehen die staatlichen Behörden wohlwollend hinweg. Bisweilen geht die Kooperation zwischen staatlichen und pa-rastaatlichen Akteuren sogar noch weiter: Zolltrupps begleiten Transportkonvois über die Grenzen hinweg, angeblich um sicherzustellen, dass sie sich nicht mit Schmuggelgütern versorgen, in Wirklichkeit, um sie vor dem Zugriff anderer Zöll-ner zu schützen - nicht umsonst, versteht sich. Und in Niger steht der Staat selbst im Zentrum des offiziell verbotenen Transithandels mit amerikanischen Zigaretten, die dann von Schmugglerbanden in Nigeria, Algerien oder Libyen (wo die Einfuhr untersagt oder hoch besteuert ist) vertrieben werden - eine wichtige Devisenquelle für die nigrische Regierung. Ähnlich symbiotische Beziehungen zwischen staatlichen Akteuren und ihren mutmaßlichen Konkurrenten um Macht und Souveränität gibt es aber nicht nur hier, sondern auch in den zuvor angesprochenen Bereichen: Die Bosse der privaten Si-cherheitsgesellschaften und Söldnerarmeen sind größtenteils ehemalige, z.T. so-gar noch aktive Offiziere der Ordnungskräfte (Armee, Polizei); und viele ihrer Teilhaber gehören den exklusivsten Machtzirkeln afrikanischer Staaten an - wie der Sohn von Daniel arap Moi (Staatspräsident Kenia) und der Halbbruder von Yo-weri Museveni (Staatspräsident Uganda) im Falle von Executive Outcomes (Hibou 1999, 27). Ihre wichtigsten Verhandlungspartner sind Provinzgouverneure, Minis-ter und Generäle. Ihre Fußtruppen rekrutieren sie z.B. in Mosambik nahezu aus-schließlich aus den demobilisierten Armeen von Frelimo und Renamo. Mit Hibou (ebd. 23) muss man demnach wohl davon ausgehen, dass diese Art von Privatisie-rung der Gewalt "weit entfernt davon, einen Beweis für die Schwäche des Staates zu liefern", dessen Macht über die strategisch entscheidenden Bereiche durch Verdoppelung der Kontrollorgane (Armee plus private Sicherheitsdienste) eher noch verstärkt. Auch die großen ausländischen Produktionsunternehmen, die in Mosambik Quasi-Souveränitätsrechte ausüben, unterhalten engste Kontakte mit den Vertretern des Staatsapparats und der Parteien. Herausstechend ist der Fall der Veräußerung der Forstrechte im Rahmen des Projekts Mosaflorestal an M. Blan-chard, "Finanzier der Renamo während des Bürgerkriegs, seit kurzem jedoch mit der Frelimo verbunden" (ebd. 17). In "Begriffen der Schwäche der afrikanischen Regierungen und der 'Bedrohung ihrer nationalen Souveränitäten'" ist all dies nur schwer zu interpretieren (ebd. 27). Statt den Staat und die "Parasouveräne" jedweder Art als diskrete, in einem Nullsummenspiel miteinander konkurrierende Einheiten zu behandeln, er-scheint es sinnvoller, die Vielzahl der individuellen und kollektiven Akteure in Herrschafts- und Ausbeutungschancen verleihenden Positionen jedweder Art, ihre Verflechtungen untereinander und ihre jeweiligen Strategien und Gegenstrategien zu studieren - was im Übrigen auch zu Klutes eigenen Überlegungen passen würde: Er betont ja selbst, dass die für seine Argumentation paradigmatische Allianz zwischen MPA und etablierter Herrschergruppe im Norden Malis erst durch das Bündnis mit der Zentralregierung ihre und deren Konkurrenten besiegen konnte; dass sie dafür Gegenleistungen erhielt, darunter eine überproportionale Reprä-sentation im Zentralparlament und die Integration eines großen Teils ihrer Kämp-fer in den zentralstaatlichen Gewaltapparat; und dass sich schließlich ihr Um-schwenken auf das Prinzip der Gebietsherrschaft der regierungsamtlichen Dezent-ralisierungsgesetzgebung verdankt. Das Verhältnis scheint eher eines der wech-selseitigen Durchdringung als eines des Ausschlusses zu sein. Und von diesem Arrangement scheinen unterm Strich die angesprochenen individuellen und kollek-tiven Akteure in Herrschafts- und Ausbeutungschancen verleihenden Positionen in ihrer Gesamtheit zu profitieren, Rebellen und etablierter Häuptling und Regie-rung, Schmuggler und Zöllner, Kriegsherren und Kaufleute und Staatsapparat - was eben nicht ausschließt, dass sie über das Ausmaß und die Verteilung der Profite immer wieder in Konflikt geraten.

Theoretische Interpretation

Geben wir dem Kind nun einen Namen. Die angemessenste Bezeichnung für jene Gesamtheit von Akteuren in Herrschafts- und Ausbeutungschancen verleihenden Po-sitionen scheint mir Antonio Gramscis Konzept eines "Blocks an der Macht" zu liefern (vgl. z.B. Gramsci 1974, III, 1584, 1591). Konkret auf Afrika bezogen geht es demnach darum, zu untersuchen, wie es die verschiedenen herrschenden (d.h. ein gesellschaftliches Mehrprodukt aneignenden) Klassen und die diesen angehörenden Fraktionen, Schichten und sonstigen Untereinheiten anstellen, ein "kompromisshaftes Gleichgewicht" sowohl untereinander als auch mit den be-herrschten Klassen als auch mit den herrschenden Mächten in den westlichen Met-ropolen herzustellen und darüber hinaus einen Legitimitätsglauben zur Rechtfer-tigung ihrer Herrschaft zu etablieren (vgl. Bayart 1979; Hauck 2001). "Kompro-misshaftes Gleichgewicht" bedeutet dabei alles andere als symmetrische Machtver-teilung. Die Mehrproduktaneignung durch die herrschenden Gruppierungen steht bei seiner Herstellung ohnehin nicht zur Diskussion; sie zu festigen, ist gerade das Ziel des Unternehmens. Und das Streben einer jeden von diesen Gruppierungen richtet sich auf "Hegemonie", d.h. darauf, die Generallinie des Kompromisses so zu gestalten, dass er "die Bedingungen für ihre größtmögliche Ausdehnung" (Gramsci 1974 III, 1584) liefert. Ob überhaupt eine - und wenn ja, welche - Gruppierung eine Hegemonialstellung erreicht, ist eine Frage der Auseinanderset-zung; gelingt es keiner, ist die Stabilität des Systems gefährdet.

Regulationsmacht und Akkumulationssicherungsmacht

An dieser Stelle erscheint es notwendig, eine weitere begriffliche Unter-scheidung einzuführen: die zwischen der Macht des Staatsapparats, die Akkumula-tions- bzw. Mehrproduktaneignungs-Chancen des Blocks an der Macht (einschließ-lich seiner eigenen) zu garantieren, und seiner Macht, die Einhaltung von Normen zu erzwingen - einschließlich derer, die das Akkumulationsverhalten regulieren. Ersteres könnte man abkürzend seine Akkumulationssicherungsmacht nennen, letzte-res (in Anlehnung an Hibou 1999, 38) seine Regulationsmacht. Seine Akkumulati-onssicherungsmacht kann sehr stark ausgeprägt sein, auch wenn seine Regulations-macht sehr schwach ist - was mir in der Tat die Situation in vielen afrikani-schen Staaten zu kennzeichnen scheint. Belege für die geringe Regulationsmacht des Staatsapparats liefern alle oben zitierten Beispiele. Seine Chancen, die eigenen Normen auf den Gebieten der "Pa-rasouveräne" der offiziellen wie der inoffiziellen Art in Mosambik, Mali oder den Tschadbecken-Anrainerstaaten "auch gegen Widerstreben" (um an Webers Macht-definition zu erinnern) durchzusetzen, streben gegen null. Den Akkumulations-chancen der Herrschenden tut dies jedoch keinerlei Abbruch. Die Einkommen-sungleichheit ist in Nigeria mit einem Gini-Index von mehr als 0.7 eine der höchsten der Welt (auch Kamerun, Kenia, die Elfenbeinküste, Namibia und Südafri-ka liegen hier weltweit in der Spitzengruppe); dazu passt das häufig zitierte Beispiel, dass die Auslandsguthaben von 30 der reichsten Nigerianer in den 1980er Jahren ausgereicht hätten, um die gesamten Auslandsschulden des Landes zu begleichen. Die Akkumulation im Block an der Macht funktioniert prächtig - trotz der geringen Regulationssicherungsmacht des Staatsapparats. Auch für direkt gewaltsame Belege für die im Vergleich zu seiner Regulati-onsmacht extrem stark ausgeprägte Akkumulationssicherungsmacht des Staatsappa-rats, liefert Nigeria die "schlagendsten" Beispiele. Wo immer die Aktionen von irgendwelchen Außenseitern die Akkumulationschancen des Blocks an der Macht oder auch nur dessen hegemonialer Fraktion zu gefährden drohten, schlug er mit höchs-ter Brutalität zu. Am bekanntesten wurden seine Aktionen gegen die Ogoni-Bewegung, welche den Shell-Konzern samt seinen einheimischen Mitprofiteuren für die Umweltzerstörung im Nigerdelta zur Verantwortung zu ziehen suchte; die Hin-richtung von Ken Saro Wiwa und seinen engsten Mitstreitern bildet hier nur die Spitze des Eisbergs der Repression. Eine ähnlich deutliche Sprache spricht aber auch die Annullierung des Ergebnisses der Wahlen von 1993, die der Kandidat der hegemonialen Fraktion (Tofa) verloren hatte, was deren Akkumulationschancen e-norm geschwächt hätte - wodurch sich die noch amtierende Militärregierung veran-lasst sah, gewaltsam einzuschreiten, den Demokratisierungsprozess rückgängig zu machen, schließlich eine neue Militärdiktatur der schlimmsten Sorte zu errichten und den eigentlichen Wahlsieger (Abiola) ins Gefängnis zu stecken. Ein ver-gleichbares Beispiel aus Kenia wäre der Fall von Josiah M. Kariuki, dem letzten Vertreter einer "radikalen", auf Umverteilung setzenden Position nach der Um-wandlung des Landes in einen de facto Einparteienstaat, der 1975 einen vehemen-ten Angriff gegen die Verbindung der Kenyatta-Familie mit dem britischen Multi Lonrho gefahren hatte und kurze Zeit später unter kaum verhüllter Mitwirkung des Innenministeriums ermordet wurde. Die Beispiele ließen sich endlos vermehren - bis hin zu dem Extremfall der Horrordiktatur von Macias Nguema in Äquatorialgui-nea, dem beispielsweise schon die Überreichung einer Petition für eine Änderung der Wirtschaftspolitik durch runde hundert hohe Funktionäre und Beamte ausreich-te, um sämtliche Unterzeichner ins Gefängnis zu stecken und den größten Teil von ihnen hinrichten zu lassen (vgl. Liniger-Goumaz 1989, 332).

Ursprünge des bürgerlich-kapitalistischen Staates

"Schwache" Staaten sind die des heutigen Afrika demnach allenfalls in Bezug auf die Regulations-, nicht in Bezug auf die Akkumulationssicherungsmacht des Staatsapparats. Historisch betrachtet sind sie damit allerdings alles andere als die Ausnahme. Wenn Anthony Giddens (1987) recht hat, waren die Staaten der vor-kapitalistischen Epochen samt und sonders nur mäßig daran interessiert, den Be-wohnern des Hinterlandes ihre eigenen Normen aufzuzwingen und deren Einhaltung gewaltsam durchzusetzen. Was den Staatsapparat interessierte und was er mit al-len ihm zur Verfügung stehenden Gewaltmitteln durchdrückte, war, dass diese die - oftmals sehr drückenden - Steuern, Abgaben und Arbeitsleistungen, die er von ihnen verlangte, ablieferten. Wie sie intern miteinander umgingen, interessierte ihn allenfalls am Rande. Von besonderem Interesse ist, dass für das Verhalten der Menschen auf den Märkten - mit der gewichtigen Ausnahme der Fernhandelsmärk-te in den vom Fernhandel lebenden Staaten - im Grunde das Gleiche gilt: Auch hier griffen die Staatsapparate zwar immer wieder gewaltsam ein, um sich Abgaben zu sichern; die Einhaltung der Marktregeln, gar die Gewaltfreiheit der ökonomi-schen Austauschprozesse zu garantieren, zählten sie jedoch nicht zu ihren zent-ralen Aufgaben. Dies konnte man gut und gerne lokalen "Parasouveränen" überlas-sen - im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Westeuropa etwa den Städ-ten, denen zwar von den Fürsten oder Königen das "Marktrecht" verliehen, aber eben dadurch auch die interne Regulierung des Marktgeschehens überlassen wurde. Erst mit der Verallgemeinerung der Warenproduktion, mit der Durchsetzung einer kapitalistischen Marktgesellschaft änderte sich dies grundlegend. Der Aufstieg des Bürgertums und der Sieg des Kapitalismus über den Feudalis-mus in Westeuropa bedeutete gesellschaftsstrukturell vor allem die Durchsetzung einer neuen Form der Trennung der Sphären von Ökonomie und Politik. Gewaltsame Eingriffe des Staatsapparats in das Marktgeschehen wurden zunehmend ausgeschlos-sen. Gewinne zu erzielen war idealiter in legitimer Weise nur noch durch den Kauf und Verkauf von Waren (einschließlich der Ware Arbeitskraft) möglich, nicht mehr durch gewaltsame Konfiskation durch irgendwelche Herrscher. Und eben dies ermöglichte der Ökonomie, sich gemäß einer neuartigen Eigendynamik, der spezifisch kapitalistischen Akkumulationsdynamik, zu entwickeln. Der Staatsapparat wurde dadurch alles andere als überflüssig, nur seine ökonomische Rolle verla-gerte sich: nicht mehr tagtägliches Eingreifen in den Produktionsprozess (wie in der Feudalgesellschaft), sondern Sicherung der Rahmenbedingungen für die Profit-erzielung mittels Kauf und Verkauf von Waren. Der Vertrag genügt sich nicht selbst, die Einhaltung der Verträge in einer auf Kontraktfreiheit beruhenden Marktgesellschaft kann nicht ihrerseits ins Belieben der Marktparteien gestellt werden (vgl. Durkheim 1977; Marx 1969). Um sie zu garantieren, braucht die bür-gerliche Gesellschaft einen ihr gegenüber relativ autonomen und zudem berechen-baren Staatsapparat. Recht darf ebenso wenig zur käuflichen Ware werden wie Gewalt zum Mittel der Gewinnerzielung. Eben deshalb musste der Staatsapparat nun seine Regulierungsmacht in gewaltigem Umfang verstärken; und dies ging wohlge-merkt nicht auf Kosten der Reichtumsakkumulation im Block an der Macht, insbe-sondere in der Bourgeoisie, sondern war seinerseits notwendige Voraussetzung für die spezifische Form, die diese Akkumulation in der kapitalistischen Gesellschaft annahm.

Pfründenkapitalismus

In den meisten Staaten Afrikas ist die Situation eine andere - am Beispiel Nigerias habe ich sie anderwärts als "pfründenkapitalistische" zu analysieren versucht (vgl. Hauck 1984; 2001). Die Trennung zwischen den Sphären von Politik und Ökonomie ist praktisch aufgehoben. Staatliche und parastaatliche Gewalt als Mittel der Gewinnakkumulation ist ebenso gebräuchlich wie Geld als Mittel zum Kauf von Rechten - und die Bourgeoisie entwickelt wenig Interesse, daran etwas zu ändern. Dies hat vor allem zwei Ursachen, die beide in der Nachfragestruktur in jenen Ländern zu finden sind. Zum einen ist der private Bedarf für indus-triell-kapitalistisch produzierte Waren durch die generell extrem ungleiche Ein-kommensverteilung bestimmt, welche eine starke Konzentration der kaufkräftigen Nachfrage auf Luxuskonsumgüter, insbesondere auf technisch hochwertige, kapital-intensiv hergestellte Produkte zur Folge hat. Dieser Markt aber ist fest in der Hand ausländischer Konzerne. Mit ihnen in Konkurrenz zu treten wäre für das ein-heimische Kapital selbstmörderisch; der einzig nennenswerte private Markt bleibt ihm daher verschlossen. Der größte Teil der Nachfrage ist aber in aller Regel gar nicht privater, sondern staatlicher Natur. Der Staat hat das große Geld, er ist zur primären, alle anderen an Bedeutung weit überragenden Akkumulationsquel-le geworden - was in Nigeria (wie auch in Gabun, Angola u.a.) an staatlichen Ölrenten liegt, anderswo an Bergwerks- oder sonstigen Renten, allüberall daran, dass er die privilegierte Empfangs- und Verteilungsinstanz von Entwicklungshil-fegeldern ist. Dieser staatliche Geldreichtum wurde jedoch schon früher nirgend-wo zur Gänze und selten zum größten Teil in staatliche Produktionsanlagen ge-steckt; seit den Privatisierungsprogrammen des IWF geschieht dies schon gar nicht mehr. Der bei weitem größte Teil wird vielmehr regelmäßig in ungezählten "Contracts" an private Unternehmer vergeben für Entwicklungsprojekte - deren effektive Durchführung kein Mensch kontrollieren kann: Staatspfründen für Pri-vatkapitalisten! Staatliche Vergabeentscheidungen bestimmen über die Erwerbs-chancen der Unternehmer. Die Konsequenz ist, dass der interne ökonomische Kon-kurrenzkampf der Bourgeoisie in erster Linie als Kampf um den Zugang zu politi-scher Entscheidungsmacht des Staatsapparats geführt wird - und nicht über Effek-tivierung der Produktion mittels Investition. Auch deshalb verschwimmen die Grenzen zwischen Ökonomie und Politik. Weder über die private noch über die staatliche Nachfrage konnte sich die Bourgeoisie ein eigenes Akkumulationsfeld erobern, auf dem sie mit ihren ureigensten Mitteln in die Konkurrenz mit ihres-gleichen eintreten konnte. Was Wunder, dass sie auch wenig Interesse an der E-tablierung eines aus den wirtschaftlichen Konkurrenzkämpfen herausgehaltenen, zwecks Sicherung der Rahmenbedingungen des Marktgeschehens - und das heißt: der Gewaltfreiheit der ökonomischen Abläufe - mit Regulierungsmacht ausgestatteten Staatsapparats entwickelten. Das staatliche Gewaltmonopol ist damit ex definitione durchbrochen; den Ak-kumulationschancen des Blocks an der Macht aber muss dies keinesfalls im Wege stehen. Das große Geld wird, im Gegenteil, gerade mit den Contracts verdient, ebenso aber auch mit der Ausnutzung von Gewaltchancen zur Reichtumsakkumulation, wie man etwa an den von Roitman berichteten Beispielen vom Tschad-Becken (s.o.) sehen kann. Darüber hinaus machen diese Beispiele aber noch eines deutlich: Die Gewinnung relativer Autonomie durch substaatliche Einheiten - bis hin zur Er-richtung regionaler Gewaltmonopole - muss die Akkumulationssicherungsmacht des Staates keineswegs notwendig stören, solange sich die Bosse dieser Einheiten irgend in den Block an der Macht integrieren lassen. Ihre Aktivitäten vermehren dann in der Summe dessen Aneignungschancen. Ähnlich wie bei den oben diskutier-ten privaten Sicherheitsgesellschaften können wir in diesen Fällen u.U. sogar von einer Erhöhung seiner Akkumulationschancen im Gefolge der Verdoppelung des Repressionsapparats ausgehen - so etwa in dem dargestellten Fall der Kooperation zwischen bewaffneten Zolltrupps und bewaffneten Schmugglerbanden. Die Probe aufs Exempel stellt sich erst dann, wenn sich irgendwelche Außenstehenden - seien es "parasouveräne" Machthaber, seien es Volksbewegungen von unten - nicht integrie-ren lassen, d.h. wenn sie die bisherigen Akkumulationsmechanismen oder die wei-tere Teilhabe relevanter hegemonialer Gruppierungen an der Akkumulation in Frage stellen. Wenn es dem staatlichen Repressionsapparat nicht gelingt, mit solchen Gruppierungen fertig zu werden, handelt es sich tatsächlich um schwache Staaten. Entgegen einem oberflächlichen Eindruck sind derartige Situationen in Afrika jedoch zumindest bis Mitte der 1990er Jahre1 eher selten. Die wichtigsten zeit-weiligen Ausnahmen sind bis dahin Mauretanien, Niger, der Tschad, der Südsudan, Äthiopien/Eritrea, Nord-Uganda sowie die Sonderfälle Angola und Mosambik mit ihren südafrikagestützten Rebellenarmeen. Selbst in Mobutus Zaire, in dem nach einer viel zitierten Formulierung von McGaffey (1988) der Staat außerhalb Kin-shasas nur ein "Mythos" war, war die Akkumulation des Blocks an der Macht nur durch die Shaba-/Katanga-Aufstände kurzfristig wirklich gefährdet - und hier schufen französische Fallschirmspringerdivisionen Abhilfe; ansonsten funktio-nierte sie prächtig, wie die berühmten Schweizer Konten des Diktators beweisen. Auf der anderen Seite stehen dem die von derartigen Gefährdungen unbehelligten Regimes von jahrzehntelang unangefochten (und häufig diktatorisch) herrschenden Patriarchen wie Houphouet-Boigny (Elfenbeinküste), Bongo (Gabun), Banda (Mala-wi), Kaunda (Sambia), Eyadema (Togo), Habyarimana (Ruanda), Senghor/Diouf (Sene-gal), Nyerere (Tansania), Kenyatta/Moi (Kenia), Ahidjo/Biya (Kamerun) gegenüber, an deren Akkumulationssicherungsmacht keinerlei Zweifel bestehen können. Brutale Unterdrückung von Gruppierungen, die der jeweilige Block an der Macht nicht in-tegrieren konnte oder wollte - die Definitionsmacht lag selbstredend willkür-lich-despotischen Prinzipien entsprechend stets auf seiner Seite - war auch in diesen Staaten oft genug an der Tagesordnung; sie reichte jedoch regelmäßig aus, um ernsthafte Gefährdungen seiner Akkumulationschancen schon im Keime zu ersti-cken. Und auch in Nigeria herrscht unter diesem Gesichtspunkt seit dem Ende des Biafra-Krieges Stabilität.

Der Block an der Macht

Im Hinblick auf die Zusammensetzung des Blocks an der Macht lässt sich die bisher v.a. unter dem Gesichtspunkt der mangelhaften Trennung zwischen den Sphä-ren von Politik und Ökonomie beschriebene Situation wie folgt darstellen: Hege-monial in dem Sinne, dass sie von der Generallinie des je etablierten "kompro-misshaften Gleichgewichts" am meisten profitieren, sind diejenigen, die an den Schnittstellen zwischen staatlichen Allokationsentscheidungen und privater In-vestition sitzen. An indigenen Akteuren sind dies zum ersten die politischen und bürokratischen Entscheidungsträger selbst; zum zweiten sind es diejenigen, die aufgrund ihrer politischen Machtstellung Einfluss auf jene nehmen können (tradi-tionelle Herrscher, lokale Honoratioren und Parteibosse sind hier besonders pro-minent; aber auch "Parasouveräne" wie die von Klute beschriebene Allianz im Nor-den Malis, welche vom Zentralstaat eine überproportionale Versorgung mit Ent-wicklungshilfegeldern und Parlamentssitzen erpressen konnte, können dazu gehö-ren); zum dritten sind es diejenigen, die ähnlichen Einfluss aufgrund ihrer wirtschaftlichen Machtstellung ausüben können; und zum vierten sind es diejeni-gen, die (falls es nicht schon eine der vorgenannten Gruppierungen getan hat) die Gelder dann tatsächlich in irgendwelche Unternehmungen stecken (die eigent-lichen "Contractors"). Die industrielle Bourgeoisie - die es natürlich fast ü-berall auch gibt - befindet sich gegenüber all diesen Gruppierungen in einer subordinierten Position; solange der ökonomische Konkurrenzkampf in erster Linie mit politischen Mitteln geführt wird, haben diejenigen, die ihn nur mit ökonomi-schen Mitteln (Effektivierung der Produktion durch Investition) zu führen im Stande sind, eben die schlechteren Karten. Das Gleiche gilt aus den gleichen Gründen für die technischen und administrativen Eliten in der industriellen Pro-duktion, nicht aber für Aktienbesitzer und Teilhaber an Joint Ventures mit aus-ländischen Konzernen (welch letztere sich die effektive Kontrolle der Unterneh-mensabläufe niemals von einheimischen Aktionären nehmen ließen - vgl. Biersteker 1987) und auch nicht für Immobilienbesitzer und für den Handel, insbesondere den Import-Export-Handel. Bei alledem darf man jedoch niemals aus den Augen verlieren, dass die Kräf-teverhältnisse im Block an der Macht keine unveränderlichen sind. Die Hegemonie ist auch zwischen den herrschenden Gruppierungen ständig umkämpft. Machtgleich-gewichte sind immer nur temporäre. Selbst dass sich die industrielle Bourgeoisie einmal nach dem klassischen kapitalistischen Muster die Hegemonialposition er-obern könnte, ist nicht a priori auszuschließen. Dies würde jedoch nichts weni-ger als revolutionäre Veränderungen in mindestens drei Bereichen voraussetzen: Im Bereich des Staatsapparates, in dem eine Bürokratie etabliert werden müsste, die sich auf die Sicherung der Rahmenbedingungen für die Mehrwertabschöpfung über den Markt beschränken, sine ira et studio alleine nach unpersönlichen, ge-setzten Regeln entscheiden würde. Im Bereich der Einkommens- und Eigentumsver-hältnisse, in dem die Ungleichheit rigoros vermindert und so die Kaufkraft für Massenkonsumgüter, die von einer einheimischen industriellen Bourgeoisie produ-ziert werden können, verstärkt werden müsste. Und schließlich im Verhältnis zu den ausländischen Konzernen, deren Wirkungsfelder entsprechend begrenzt werden müssten. Als sonderlich wahrscheinlich erscheinen derartige Umwälzungen derzeit allerdings kaum irgendwo. Zu berücksichtigen ist schließlich auch an dieser Stelle, dass die genannten Kategorien keine sich gegenseitig starr ausschließenden sind. Die von Bayart (1989) in die Diskussion gebrachte, allseits verbreitete Praxis des "Chevauche-ment", des "In-allen-Sätteln-Reitens" spielt auch hier. Staatsbeamte, die zur "Überwachung der unüberwachbaren Projekte" der Contractors eingesetzt waren, nutzen die "Geschenke", die sie für die "Bescheinigung der zufriedenstellenden Erledigung" jener Projekte erhielten, um nach Quittierung ihres Dienstes selbst als Contractors "gigantische Projekte 'an Land zu ziehen'" (Akinkoye 1978, 20). Industrielle Unternehmer, die nach dem Grundsatz "Akkumulation durch Investiti-on" Gewinne gemacht haben, nutzen diese als Bestechungsgelder, um an Staats-pfründen zu gelangen. Traditionelle Herrscher kaufen sich als Couponschneider in Joint Ventures mit ausländischen Konzernen ein. Ehemalige Leiter von Staatsbe-trieben werden nach deren Privatisierung im privaten Sektor aktiv. Generäle wer-den zu Bossen privater Sicherheitsdienste. Und so weiter. All dies ändert jedoch nichts daran, dass das Mittel der Wahl, um akkumulieren zu können, eben nicht die Effektivierung der Produktion mittels Investition ist, sondern die politi-sche Einflussnahme, und dass deshalb diejenigen Gruppierungen, die zu letzterem keinen Zugang haben, solange dies der Fall ist, in einer subordinierten Position verbleiben.

Fazit

Summa summarum: Gerade die hegemonialen Gruppierungen der afrikanischen Ge-sellschaften haben wenig bis gar kein Interesse an der für die bürgerliche Ge-sellschaft konstitutiven Trennung der Sphären von Wirtschaft und Politik, und das heißt vor allem: an der Etablierung des Marktes als eines gewaltfreien Rau-mes und der Ausstattung des Staatsapparats mit dem Monopol der legitimen physi-schen Gewaltausübung. Eine dem gemäße Stärkung der Regulierungsmacht des Staats-apparates würde ihre Akkumulationschancen nicht verbessern, sondern verschlech-tern. Aus der Perspektive des Interesses der Herrschenden - die bei empirischer Betrachtung eben die herrschende ist - sind die Staaten, die entsprechend dem gängigen afrikanischen Muster über mit geringer Regulierungs- aber hoher Akkumu-lationssicherungsmacht ausgestattete Apparate verfügen, nicht schwache, sondern starke. Unter normativen Gesichtspunkten mag man diese Konstellation bedauern, sei es, weil man das Fehlen jener Sphärentrennung und des staatlichen Gewaltmo-nopols als kapitalistischer Entwicklung unzuträglich erachtet, sei es, dass man die mit diesen Basisinstitutionen der bürgerlichen Gesellschaft korrespondieren-den Errungenschaften der Kontraktfreiheit, der Rechtssicherheit und Rechts-gleichheit etc. als Werte an sich ansieht. Empirisch aber führt in meinen Augen die Rede von den "schwachen Staaten" zu einer verhängnisvollen Unterschätzung der Macht der in ihnen herrschenden Gruppierungen, ihre Interessen "auch gegen Widerstreben" durchzusetzen.

Anmerkung

1 Die Veränderungen in der Staatenlandschaft des zentralafrikanischen Rau-mes, welche die nach 1994 im Gefolge des Genozids und des anschließenden Regime-wechsels in Ruanda, des dadurch mitbedingten Sturzes von Mobutu und schließlich auch seines Nachfolgers Desiré Kabila zum Dauerzustand gewordenen Kriegswirren im Congo nach sich ziehen werden, sind bis heute noch überhaupt nicht abzuschät-zen. Ob das Resultat "schwache Staaten" oder nur neue Grenzverläufe oder beides oder keines von beiden sein werden, ist in keiner Weise begründet vorherzusagen.

Literatur

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