Franz Müntefering, seit einiger Zeit Experte für Entlastungsthemen, hat nach Ausbildungsabgabe und Bürgerversicherung jüngst den gesetzlichen Mindestlohn entdeckt.
Franz Müntefering, seit einiger Zeit Experte für Entlastungsthemen, hat nach Ausbildungsabgabe und Bürgerversicherung jüngst den gesetzlichen Mindestlohn entdeckt. Auch wenn Zweifel angebracht sind, ob damit ein ernst gemeintes rot-grünes Projekt auf den Weg gebracht werden soll - das Thema ist überfällig.
Die Fakten sind alarmierend. Seit Jahren sinkt die Zahl der tarifgebundenen Betriebe und mit ihr die der Beschäftigten, die unter den Schutz von Tarifverträgen arbeiten. Waren 1998 im Westen noch 75 Prozent (davon 8 Prozent durch Firmen-Tarifvertrag) in den neuen Bundesländern und 63 Prozent (davon 15 Prozent durch Firmen-Tarifvertrag) tarifgeschützt, sind es heute (2003) im Westen nur noch 70 Prozent, im Osten 54 Prozent. Zwar wird der Flächentarifvertrag kraft arbeitsvertraglicher Verweisung noch in zahlreichen Betrieben ohne Tarifbindung angewandt, so dass auf diese Weise 16 Prozent der westdeutschen und 24 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer sich mittelbar auf den Tarifvertrag berufen können. Doch dieser Schutz ist schwach und in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit angreifbar. Das Ergebnis ist in den ausufernden Niedriglohnbereichen zu besichtigen. Arbeiten für einen Hungerlohn sind keine Seltenheit; unlängst wurden Beispielsfälle aus dem privaten Wachdienst bekannt: 3,50 Euro die Stunde. Die Arbeiten in der Gebäudereinigung, in Kurierdiensten, der Gastronomie, soweit sie außerhalb bestehender Tarifverträge erbracht werden, stehen dem nicht nach. Selbst einzelne Tarifentgelte bewegen sich auf einem Niveau, das nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, wie beispielsweise Stundenvergütungen von 5,59 Euro im Friseurhandwerk (Meisterin!) in Sachsen, 5,60 Euro für einen Wachmann in Schleswig-Holstein und 4,32 Euro in Thüringen sowie 5,33 Euro in Sachsen-Anhalt für Floristinnen. Der unlängst zustande gekommene Tarifvertrag zwischen den DGBGewerkschaften und dem Bundesverband Zeitarbeit sieht für einfache Arbeiten in den neuen Bundesländern einen Stundensatz von 5,93 Euro vor, allerdings mit Steigerungen für die nächsten Jahre.
Die Folgen: Derzeit müssen sich im Westen 12,1 Prozent, im Osten 9,5 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten mit einem Arbeitsentgelt abfinden, das unterhalb der Armutsgrenze liegt, die ihrerseits mit 50 Prozent des nationalen Durchschnittsverdienstes aus abhängiger Arbeit definiert wird. Der Druck auf die Arbeitseinkommen wird sich nochmals erhöhen, wenn ab 1. Januar 2005 Langzeitarbeitslose im Zuge von Hartz IV jede Arbeit annehmen müssen, ganz gleich, wie niedrig sie bezahlt wird.
Kein Wunder also, dass angesichts dieser Entwicklung der Ruf nach einem gesetzlichen Mindestlohn laut wird. Die Befürworter können sich dabei auf prominente Vorbilder berufen. Die überwiegende Zahl der westeuropäischen Länder, von Portugal bis Großbritannien, und selbst die USA kennen staatlich festgesetzte Mindestlöhne. Ja, auch unsere Rechtsordnung sieht solche vor: Seit 1952 gilt das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen, das unter bestimmten Voraussetzungen - die inzwischen sämtlich erfüllt sind - den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ermächtigt, unter anderem Mindestarbeitsentgelte durch Rechtsverordnung festzusetzen; nur wurde davon noch nie Gebrauch gemacht.
Natürlich stößt der Vorschlag auf Widerspruch. Dass Unternehmer und unternehmernahe Sachverständige jede Festschreibung zur verhindern suchen, liegt auf der Hand. Vorkehrungen, die der Freiheit zur wechselseitigen Unterbietung Grenzen setzen, verfallen der Ablehnung. Wer vom sozialen Ungleichgewicht bei der Aushandlung des Arbeitsvertrages profitiert, wird auf dieses Privileg nur ungern verzichten. Nicht minder durchsichtig ist das Argument, Niedriglöhne schafften Arbeit. Es ist analytisch falsch und empirisch widerlegt. Im internationalen Kostenwettbewerb liegen die deutschen Lohnstückkosten - und nur die zählen - ohnehin unter denen vergleichbarer Volkswirtschaften; die Jahr für Jahr wachsenden Exportüberschüsse beweisen es. Jenseits internationaler Konkurrenz bleibt nur der Glaubenssatz, die Verbilligung des Angebots schaffe sich ihre eigene Nachfrage - ein Dogma, das im Arbeitsmarkt schon theoretisch ins Leere schießt, weil Löhne zugleich Nachfrage sind. Wäre es richtig, müsste in den neuen Bundesländern längst Vollbeschäftigung herrschen!
Gespaltene Gewerkschaftsmeinungen
Wichtiger und durchaus ernst zu nehmen sind die Vorbehalte, die aus gewerkschaftlicher Sicht gegen staatliche Mindestlöhne ins Feld geführt werden. Die Meinungen sind gespalten. Die IG Metall und die IG Bergbau, Chemie, Energie sehen die Tarifautonomie in Gefahr und befürchten, dass ein gesetzlicher Mindestlohn bei gegebenen politischen Verhältnissen bestenfalls das niedrigste Niveau festschreiben und damit legitimieren wird - mit der Folge einer beschleunigten Abwärtsspirale. Die Gewerkschaften ver.di und NGG treten dagegen seit längerem für einen Mindestlohn ein. Der aktuelle Kompromiss im DGB läuft auf branchenspezifische Mindestentgelte hinaus, ein Weg, der nach dem bereits zitierten Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen vorgezeichnet ist.
Dass sich unter denen, die sich um die Tarifautonomie sorgen, auch falsche Freunde einreihen, wird man ertragen müssen. Wenn etwa Politiker, die gestern noch die Unverbrüchlichkeit des Tarifvertrages durch gesetzliche Öffnungsklauseln beseitigen wollten, und die morgen Langzeitarbeitslose zu Arbeiten gegen eine Aufwendungspauschale von einem Euro in der Stunde zwangsverpflichten wollen, die Tarifautonomie beschwören, wirkt dies nicht gerade überzeugend. Doch ungeachtet solchen Pharisäertums besteht ein Spannungsverhältnis. Kein Zweifel, gesetzliche Mindestlöhne tangieren die Tarifautonomie. Was auf der Grundlage von Koalitionsfreiheit und sozialer Selbstbestimmung von den unmittelbar Betroffenen selbst ausgehandelt werden soll, wird ihrer autonomen Gestaltung entzogen, indem es der Staat an sich zieht. Der Spielraum tarifautonomer Vereinbarung wird damit enger.
Soweit das Modell. Doch es beschreibt nur die halbe Wahrheit, wie bereits ein Blick in die Geschichte lehrt. Seit eh und je ist sozialer Schutz auch staatliche Aufgabe. Das Verbot der Kinderarbeit, in Preußen übrigens auf Drängen des Militärs eingeführt, war staatliches Dekret, noch bevor Gewerkschaften entstanden, und ist es bis heute geblieben. Oder: Obwohl es ein Gründungszweck der Gewerkschaften war, durch gemeinsame, solidarisch angelegte Kassen soziale Not zu lindern, haben die deutschen Gewerkschaften das Feld bereits frühzeitig geräumt und seit Bismarck der staatlichen Sozialversicherung überlassen, im Unterschied etwa zu ihren skandinavischen Kollegen. Geblieben ist allein die Organisationsform der Selbstverwaltung, an die im Zuge der Umgestaltung der Bundesanstalt für Arbeit ausgerechnet Rot-Grün Hand angelegt hat.
Weitere Beispiele liefern Arbeitsschutz und Arbeitsgestaltung: Seien es Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften, Arbeitszeitgesetzgebung, Urlaubsgesetz, Datenschutz, Bildschirmverordnung - auf zahlreichen Sektoren sind Staat, halbstaatliche Einrichtungen, neuerdings auch die EU aktiv und durchaus gefordert. Das alles geschieht in der realistischen Einsicht, dass es den Gewerkschaften allein nicht gelingen würde, den notwendigen Schutz auf dem Vereinbarungswege zu gewährleisten. Vielfach verschränken sich Tarifpolitik und staatliche Gesetzgebung: Nicht selten geht die Initiative von Tarifverträgen aus und der Gesetzgeber schafft anschließend die notwendige Verallgemeinerung.
Ein oft zitiertes Beispiel ist die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter. Auch der gesetzliche Achtstundentag konnte sich auf tarifvertragliche Vorbilder, beispielsweise im Bergbau, stützen, als er im Zuge der revolutionären Ereignisse im November/Dezember 1918 gesetzlich eingeführt wurde. Das Beispiel der Entgeltfortzahlung zeigt zugleich, dass die von den Gewerkschaften akzeptierte, ja mitunter geforderte staatliche Verallgemeinerung auch vor dem Allerheiligsten der Tarifpolitik nicht Halt macht: dem Arbeitsentgelt. Die bindende Festsetzung der Entgelte für Heimarbeit durch öffentlich-rechtliche Heimarbeitsausschüsse bietet ein anderes Exempel.
Gemeinsam ist allen Beispielen, dass der Staat immer dann auf den Plan tritt, wenn die Arme der Gewerkschaften zu kurz sind. Genau dieser Zustand ist hinsichtlich der Lohnentwicklung in weiten Sektoren längst erreicht. Dass den Gewerkschaften in überschaubarer Zeit in solchen Bereichen spürbarer Mitglieder- und Machtzuwachs ins Haus steht, ist wünschenswert, aber bei anhaltender Massenarbeitslosigkeit unwahrscheinlich. Keineswegs kann man die dort arbeitenden Menschen so lange schutzlos stellen. Der Hinweis, sie hätten es ja selbst in der Hand, die Gewerkschaften zu stärken, übersieht die realen betrieblichen und gesellschaftlichen Organisationshürden in manchen Dienstleistungszweigen.
Vor diesem Hintergrund ist die vollmundige Berufung auf die Tarifautonomie alles andere als überzeugend. Die Besinnung auf die eigene Kraft steht ja selbst in den Zentren gewerkschaftlich organisierter Facharbeiterschaft in den letzten Jahren nicht gerade für eine Erfolgsgeschichte. Allein in den zehn Jahren von 1993 bis 2003 sind die Tariferhöhungen um 10 Prozent hinter der verteilungsneutralen Marke, bestehend aus Produktivitätsfortschritt und Inflationsrate, zurückgeblieben.
Männliche Blickverengung?
Die Gewerkschaften unserer Nachbarländer waren da erfolgreicher, in den Niederlanden, in Frankreich, in Großbritannien oder in Italien. Die im internationalen Vergleich sinkenden deutschen Lohnstückkosten haben auch eine Wurzel in den begrenzten Erfolgen der Tarifpolitik. Etwas mehr Realitätssinn und Bescheidenheit täte uns daher gut. Das gilt erst recht, wenn man die eigentlichen Opfer der Niedriglohnentwicklung in den Blick nimmt. Es sind ganz überwiegend Frauen. Sollte am Ende die Skepsis gegenüber gesetzlichen Mindestlöhnen männlicher Blickverengung geschuldet sein?
Jedenfalls ist es kein Zufall, dass vor allem die Gewerkschaften NGG und ver.di seit längerem für Mindestlöhne eintreten. Auf dem letzten Bundeskongress des DGB hatten sie, gemeinsam mit der Gewerkschaft BAU, beantragt, sich über die Branchen- und Gewerkschaftsgrenzen hinweg auf ein einheitliches tarifvertragliches Mindestentgelt zu verständigen und in abgestimmter und gemeinsamer Strategie durchzusetzen. Der Antrag wurde kontrovers diskutiert und nahm den Weg ins Archiv. Seitdem sind zwei Jahre ins Land gegangen, ohne dass die tarifpolitische Strategie jener Debatte aufgegriffen worden wäre. Was also bleibt - um der Menschen willen - als das Gesetz?
Natürlich birgt jeder gesetzliche Weg Risiken. Ein angemessenes Niveau gesetzlicher Mindestlöhne ist nicht gesichert. Die Gewerkschaft NGG fordert 1500 Euro im Monat. Das erscheint durchaus realistisch. Sie kann sich dabei auf ausländische Vorbilder stützen: das gesetzliche Mindestentgelt beträgt in Luxemburg 1403 Euro, in den Niederlanden 1265 Euro, in Belgien 1186 Euro, in Frankreich 1173 Euro, in Großbritannien 1083 Euro. Das waren keine Geschenke. Auch der deutsche Gesetz- bzw. Verordnungsgeber wird in Zeiten der Kostensenkungs-Obsession unter Druck stehen. Umso notwendiger ist es, wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass es eigentlich zu einem würdevollen und selbstbestimmten Leben gehört, dass man für seine Arbeit einen Lohn bekommt, der ausreicht, um nach mitteleuropäischem Standard leben zu können. Bei voller Arbeit nicht von anderen - Verwandten oder dem Sozialamt - abhängig zu sein, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.
Gebot der Stunde
Hier liegt der eigentliche Anstoß, der zum Umdenken zwingt. Wenn im Rahmen einer sozialstaatlichen Arbeitsteilung in Zeiten der Arbeitslosigkeit dem Staat vermehrt Kompetenzen zum Schutze der abhängigen Arbeit zuwachsen, kann das nicht heißen, dass sich die Gewerkschaften von der Einflussnahme auf den Inhalt verabschieden. In einer offenen Gesellschaft bleibt die Gestaltung der abhängigen Arbeit weiterhin Gegenstand sozialer Konflikte, die selbstverständlich mit den verfassungsrechtlich gewährleisteten Methoden ausgetragen werden müssen. Wenn sich der Staat beispielsweise des Mindestentgeltes annimmt, ist die Bestimmung seiner Höhe auch Ergebnis gesellschaftlicher Konfliktfähigkeit; die Arbeitseinstellung gehört dazu. Die für die deutschen Gewerkschaften so hohe Wertschätzung der Tarifautonomie reflektiert auch die mitverantwortete Einengung des Streiks auf tarifvertragsfähige Gegenstände - ein Unikum in Europa. Kurzum, der Ruf nach gesetzlichen Mindestlöhnen setzt die Bereitschaft voraus, auf deren Ausgestaltung Einfluss zu nehmen, auch durch betriebliche Aktionen.
Unter diesen Bedingungen ist auch die Sorge vor Mitgliederverlust unbegründet. Es ist ohnehin ein Mythos, wonach die Mitwirkung des Staates bei der Lohnfestlegung die Bereitschaft zum Beitritt dämpft. Die Sorge wurde schon hin und wieder im Zusammenhang mit der Allgemeinverbindlich- Erklärung von Tarifverträgen diskutiert und widerlegt. Gleiches gilt für den internationalen Vergleich, der Mindestlohn- Länder mit zugegeben außerordentlich schlechtem Organisationsgrad wie Frankreich und die USA umfasst wie umgekehrt auch Großbritannien mit einem Organisationsgrad, der deutlich über dem der deutschen Gewerkschaften liegt. Den britischen Gewerkschaften hat die Einführung eines staatlichen Mindestlohnes unter der Labor- Regierung nicht geschadet.
Alles in allem erscheint es daher an der Zeit, sich dem Thema unverkrampft zu nähern. Anderenfalls steht eine weitere Ausdehnung von Sektoren mit Hungerlöhnen ins Haus. Von einer solchen Entwicklung werden aber morgen auch die betroffen sein, die sich heute noch auf der sicheren Seite wähnen.
Greifen die Gewerkschaften das Thema Mindestlohn nicht offensiv auf, nehmen sie ihre eigene Deformation in Standesverbände der männlichen Facharbeiterschaft in Kauf. Die jüngst bei Daimler zugestandene Dienstleistungsexklave aus dem Metalltarifvertrag stimmt in dieser Hinsicht nachdenklich. Sieht man den gewerkschaftlichen Auftrag aber weiterhin darin, den Blick von unten nicht zu verlieren und Differenzierungen in den eigenen Reihen entgegenzutreten, sind gesetzliche Mindestlöhne ein Gebot der Stunde.
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