Der sicherlich wiederzuentdeckende Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis, Mitbegründer der Gruppe Socialisme ou barbarie, beschreibt die Demokratie in seiner wohlwollenden Auseinandersetzung mit der griechischen Polis als „tragisches System“. Es beinhalte Selbstbeschränkung und Freiheit zugleich, in der Demokratie könnten die Menschen alles tun und müssten gleichzeitig lernen, dass sie nicht alles tun dürfen. Castoriadis’ Denken, in das die Ausgewählten Schriften einen umfassenden Einblick bieten, war getragen von der Idee der Autonomie als revolutionäre Praxis. Die Vermittlung von individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit ist letztlich auch das, was Chantal Mouffe unter der Überschrift Das demokratische Paradox verhandelt. Die Weiterentwicklung ihres gemeinsam mit Ernesto Laclau entwickelten Ansatzes „radikaler Demokratie“ richtet sich einerseits theoretisch gegen die Ideologie des demokratischen Dialogs und den von Tony Blair verkörperten, so genannten „Dritten Weg“. Andererseits kommt ihr eigenes politischen Projekt des „agonistischen Pluralismus“ und einer „pluralistischen Ökonomie“ über die klassische Variante des Sozialdemokratismus kaum hinaus. Die Forderung nach einer „Rückeroberung“ des Utopischen, wie sie Oskar Negt im Sammelband Demokratie oder Kapitalismus? aufstellt, ist unter PolitikwissenschaftlerInnen offenbar eher randständig. Obwohl im Editorial die grundsätzliche „Frage nach der Vereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus“ aufgeworfen wird, bleibt der Großteil der Beiträge eher systemkonform. Dennoch handelt es sich um ein lesenswertes Buch, weil in den Debatten um die Politik der Europäischen Union zugleich konkret und sehr grundlegend Theoreme und Positionen ventiliert werden. Wenn dabei plötzlich alle „neue Sozialitäten“ (Isabell Lorey) fordern würden, müsste man wohl auch misstrauisch werden. Transversaler und transdisziplinärer, auch politisch radikaler, ist der Debattenband Demokratie? angelegt. Demokratie wird hier als skandalös und exzessiv empfohlen, weil sie „immer weitergehen, ständig ihre bestehenden Formen überschreiten“ (Daniel Bensaid) oder auch der „Keil der Gleichheit, der objektiv und subjektiv im Herrschaftskörper steckt“ (Jacques Rancière) sein sollte. Rancière führt diesen Gedanken in seinem eigenen Buch weiter aus, in dem er an seine vielen positiven Bezugnahmen auf die Revolten von 1968 anknüpft. Er versteht Demokratie als Praxis, die sich gegen Oligarchien richtet, aber auch positiv bestimmt wird, nämlich in der institutionskritischen, libertär-basisdemokratischen Tradition als „nur der Konstanz ihrer eigenen Handlungen anvertraut“.Während die Streitschrift eine gewinnbringende Vertiefung von Aspekten seiner politischen Philosophie ist, hat man es bei Negris und Hardts Demokratie-Buch mit einer eher flachen Version ihres Theorieprojekts zu tun. Etwa die Langlebigkeit des abgelehnten Repräsentationsprinzips vor allem auf seine Funktionalität für die „Reichen und Mächtigen“ zurückzuführen, muss als Erklärung doch unbefriedigend bleiben. Demgegenüber sehen sie die Protestcamps als „großes Labor zur Produktion sozialer und demokratischer Leidenschaften“.
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 35, Frühjahr 2015, „Demokratie im Präsens“.
Literatur
Giorgio Agamben, Alain Badiou et al.: Demokratie? Eine Debatte. Berlin 2012 (Suhrkamp Verlag).
Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.): Demokratie oder Kapitalismus? Europa in der Krise. Berlin 2013 (Blätter Verlagsgesellschaft).
Cornelius Castoriadis: Philosophie, Demokratie, Poiesis. Ausgewählte Schriften, Band 4. Herausgegeben von Harald Wolf und Michael Halfbrodt. Lich 2011 (Edition AV).
Anotnio Negri/ Michael Hardt: Demokratie! Wofür wir kämpfen. Frankfurt am Main/ New York 2012 (Campus Verlag).
Chantal Mouffe: Das demokratische Paradox. Wien/ Berlin 2013 (Verlag Turia + Kant), 2. Aufl.
Jacques Ranciere: Der Hass der Demokratie. Berlin 2011 (August Verlag).