Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen.
Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen,
wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.
Heinrich Heine, Lutetia
Geschichte und Geschichtemacher zu
ergründen ist eine schier unerschöpfliche Aufgabe. Nicht nur immer neue
Informationen und Erkenntnisse führen zu zumindest veränderten
Bewertungen; auch die Sichtweise derer, die diese vornehmen, ist immer
auch vom allgemeinen politischen und damit Erkenntnishorizont ihrer Zeit
geprägt, also steter Weiterung - oder auch Verengung - unterworfen.
Unterstellt man Redlichkeit im Aufklärungsbemühen, dann dürfte
jedenfalls durchaus zutreffen, was als altchinesische Weisheit gilt:
„Klar sieht, wer von Ferne sieht - unscharf der, der Anteil nimmt."
Geht es um Biografien politischer Helden, ist die Genesis ihrer
Abfassung und Beurteilung allzeit nachverfolgbar. Auch bei Lenin. Dass
dem dickleibigen Standardwerk der Lenin-Biografie verblichener DDR-Tage
der Anspruch einer für die Geschichtsschreibung eigentlich
unverzichtbaren kritischen Betrachtung von Person und Werk nicht
zugeschrieben werden konnte, war und ist offenkundig. Aber vieles von
dem, was seit dem Ende (nicht nur) der UdSSR, dem Ende der
realsozialistischen Ikonisierung ihrer führenden Akteure und der daraus
folgenden Tabus sowie der Öffnung der Archive die Gestalt neuer
Biografien eingenommen hat, ist nicht minder von Kalkül getragen -
diesmal halt der puren Entzauberung. Aus dem unfehlbaren Helden Lenin
ist nun bereits mehrfach der Schurke geworden ...
Dem nun - posthum - bei Matthes & Seitz vorgelegte Buch
Wolfgang Ruges „Lenin. Vorgänger Stalins" ist der Vorwurf der
Einseitigkeit nicht zu machen. „Bei der historischen Analyse geht es
nicht darum", so Ruge, „eine Person, die von der Sowjetpropaganda
unbotmäßig verherrlicht worden ist, nun im Gegenzug zu verunglimpfen."
Das also will der Autor nicht, und das betreibt er auch nicht. Dennoch
ist dieses schonungslose Buch die bittere und ernüchternde
Bestandsaufnahme eines Mannes und seines politischen Lebenswerkes - der
von ihm geleiteten Revolution und ihren Ergebnissen. „Ohne
Verallgemeinerungen anzustellen, kann im Falle Lenins gesagt werden,
dass er zwar viel erreichte, dass das Erreichte aber ganz und gar nicht
dem entsprach, was zu verwirklichen er angetreten war", resümiert Ruge ,
dessen eigene Lebensträume mit Lenins Träumen ebenso zu tun hatte wie
mit Stalinscher Pervertierung, die ihn, den 16-jährigen Emigranten, in
den Gulag brachte.
Es soll hier nicht referiert werden, was Wolfgang Ruge in einer
unglaublichen Dichte zusammengeführt hat, um ein Bild Lenins und seiner
Zeit zu zeichnen, das - jedenfalls für den Verfasser dieser Zeilen -
Mensch und Epoche so viel überzeugender näher bringt als andere Versuch
zu diesem Thema. Als Ikone, die Lenin selbst nie sein wollte, wird er
freilich entzaubert, denn bei all der ungewöhnlichen intellektuellen
Potenz und der fast schon titanischen Tatkraft war auch Lenins Werk
Menschenwerk, mit alledem, was dies an Subjektivität und Zufälligkeiten
beinhaltet. Und für den natürlich auch gilt, was der Historiker Ross
Terrill einmal sagte: „Jede neue Revolution ist ein vorher nicht
geprobter Schöpfungsakt." Nur jene religiösen „Marxisten", die auf
-ismen so bauen wie Katholiken auf die Unfehlbarkeit des Papstes, beten
politische „Gesetzmäßigkeiten" an.
Und so ist es auch kein besserwisserisches Nachtreten, wenn das Buch aus
der Summe der präsentierten Fakten und Aussagen eindrücklich darauf
hinweist, dass dem, was später als revolutionäre „Weltenwende"
apostrophiert worden ist, wohl von Anfang an die Grundvoraussetzungen
fehlten, um jenen globalen und vor allem finalen Siegeszug antreten zu
können, den seine Apologeten dann jahrzehntelang als irreversibel für
sich in Anspruch genommen haben. Am klarsten formuliert hat diese Tragik
vielleicht Trotzki, der - bei Ruge so nicht zitiert - 1927 auf die
selbstgestellte Frage „ Was geschieht, wenn die Weltrevolution in den
nächsten dreißig Jahren nicht stattfindet?" antwortete: „Denken Sie
etwa, dass der Kapitalismus in der Lage ist, eine neue Periode des
Aufschwungs einzuleiten, eine erweiterte Reproduktion jenes Prozesses,
der vor dem imperialistischen Krieg stattfand? Wenn man das für möglich
hält (ich aber meine, dass der Kapitalismus hierfür keinerlei Chancen
hat), wenn man dies theoretisch zulassen würde, würde es bedeuten, dass
der Kapitalismus im europäischen Weltmaßstab seine historische Mission
noch nicht erschöpft hat, dass es sich bei diesem nicht um einen
faulenden imperialistischen Kapitalismus handelt, sondern um einen sich
entwickelnden Kapitalismus, der die Wirtschaft und Kultur voranbringt - ,
doch das würde bedeuten, dass wir viel zu früh gekommen sind." (Hervorhebung - H.J.)
Wie auch immer, wer zu verstehen bemüht ist, worin Größe und Tragik des
Werkes Lenins bestehen und inwiefern eben dieses Werk auch das Vorfeld
dessen war, was begrifflich gemeinhin unter „Stalinismus" gefasst wird,
der sollte Wolfgang Ruges Buch lesen, unbedingt.