Eine radikale Kapitalismuskritik von Elmar Altvater, Westfälisches Dampfboot Münster 2005, 240 S. (14,90 EUR)
Am Anfang des neunten Kapitels des in Rede stehenden Buches fragt Elmar Altvater (mit den Worten Erich Kästners): "Wo bleibt das Positive?" - darauf wird zurückzukommen sein. Zunächst aber muß die Frage gestellt werden: "Worin besteht denn das Neue?" - insbesondere dann, wenn ein bekannter Kapitalismuskritiker wie Altvater der in seinen vielen Büchern fast ausschließlich "radikal" mit dem heute alles beherrschenden Produktions- und Gesellschaftssystem Kapitalismus ins Gericht geht, nunmehr eine "radikale Kapitalismuskritik " verheißt.
Also was ist ›radikal‹ und neu im Vergleich zum "Sachzwang Weltmarkt", zur "Zukunft des Marktes", zum "Preis der (Un)Ordnung", zu den "Grenzen der Globalisierung" oder zur "Globalisierung der Unsicherheit"? Eine erste, vorläufige Antwort könnte lauten: ›Nicht viel‹. Das war aber wahrscheinlich auch nicht zu erwarten - zumal nicht von einem Autor, der vor kurzem seine akademische Laufbahn am Otto Suhr Institut der Freien Universität beendet hat, um aufs schöpferische Altenteil zu gehen. Vielmehr - und das war durchaus zu erwarten - finden die Kenner älterer Altvater-Bücher im neusten Werk viele Argumentationsfiguren von früher wieder; die verhängnisvolle Rolle entfesselter Finanzmärkte genauso wie die Vision vom möglichen Chaos am Ende des Fossilismus als einer durchaus realen Bedrohung, aber auch die unausweichliche Notwendigkeit einer solaren Revolution (wenn die Menschheit überleben will). Dieses und ähnliches ist von Altvater - unter Rückgriff auf die Marxsche Theorie - oft wiederholt, weiterentwickelt und in der Auseinandersetzung mit Marktradikalismus und umweltvergessener Einfalt polemisch zugespitzt worden.
Das Neue in seinem neuesten Buch ist doppelt bestimmt. Einmal ist ganz einfach so vom "Ende" die Rede - allerdings nur vom "Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen". Auf das Ende des Kapitalismus überhaupt wollte sich der Autor dann doch wohl (noch) nicht festlegen. Und zum anderen ist viel mehr als vorher über die Bedingungen dieses Endes zu lesen, insbesondere über die Notwendigkeit einer "glaubwürdigen Alternative im Innern" (in Anlehnung an Ferdinand Braudel). Diese "glaubwürdigen Alternativen" haben sich seit Anfang des 21. Jahrhunderts zum großen Teil unter dem Motto "eine andere Welt ist möglich" zusammengefunden. Und Altvater stellt sein Buch in den Dienst dieser Idee, indem er versucht, zu ermutigen und über die Bedrohungen zu unterrichten. Denn an manchen Stellen liest sich die Darstellung schon bedrohlich, so als sollte gesagt werden: "Eine andere Welt muß möglich sein, sonst Â…"
Dieses "Sonst" wird in den ersten Kapiteln nicht nur dargestellt, sondern auch umfänglich hergeleitet, insbesondere das zweite bis vierte Kapitel verfolgt offenbar den durchaus didaktischen Zweck, eine Einführung in ein auf Marx basierendes modernes Kapitalismusverständnis zu geben. Dieser Abschnitt begründet die Herausbildung jener "Dreifaltigkeit" aus europäischer Rationalität der Weltbeherrschung, kapitalistischen Produktions- und Lebensforen und fossilen Energien, die die Dynamik des "real existierenden Kapitalismus" ausmachen. Diese Konstellation wird in ihrer eigenwilligen Verquickung in den folgenden drei Kapiteln darauf untersucht, inwieweit sie zukunftsfähig ist bzw. inwiefern sie Anlaß zu "äußeren Anstößen von extremer Heftigkeit" sein könnten - einer zweiten von Ferdinand Braudel benannten möglichen Ursache für den Zusammenbruch des Kapitalismus, wie wir ihn kennen.
Die Argumentation ist hier zunächst auf drei Problemkreise fixiert - die ökologischen Folgen der Verbrennung fossiler Kohlenwasserstoffe, die möglichen sozialen Konsequenzen der zu Ende gehenden Verfügbarkeit fossiler Brennstoffe und das katastrophenträchtige Wirken liberalisierter internationaler Finanzmärkte. Daß die deformierende Wirkung von internationalen Finanzkrisen (vgl. "Der Kapitalismus gerät außer Form", Abschnitt 6.5) als innerer Impuls am Ende das System aushebeln könnte, kann zwar nicht ausgeschlossen werden, ist aber auch nicht unbedingt wahrscheinlich. Deshalb fokussiert sich bei Altvater alles auf das Ende der fossilen Kohlenwasserstoffe - denn dies ist mit immer größerer Deutlichkeit abzusehen und die ersten Marktreaktionen, mit 70 US-$ pro Barrel Erdöl, sind auch schon da gewesen. Das könnte - mit hoher Wahrscheinlichkeit - der maßgebliche äußere Impuls außergewöhnlicher Heftigkeit sein, der das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen schon deshalb herbeiführt, weil er zu erheblichen Anpassungen in den sozialen Lebensformen zwingen würde, die nur dann ohne scharfe soziale Konflikte zu bewältigen wären, wenn sie über eine längere (Anpassungs) Zeit erfolgen können. Aber "wahrscheinlicher ist eine soziale Explosion, weil Vorbereitungen auf die Zeit nach dem Höhepunkt der Ölförderung und gegen die drohende Klimakatastrophe viel zu kleinmütig ausfallen " (S. 175).
Und wohin jetzt? - ließe sich mit André Gorz fragen. Altvaters Antwort ist eine hoffnungsvolle. Die Gegenmächte müssen die Macht ergreifen (S. 14) und die Weltordnung revolutionieren. "Eine Gesellschaft kann nur in einem revolutionären Prozess die den Kapitalismus charakterisierenden sozialen Formen überwinden. Â… (Aber) eine soziale Revolution ist kein Putsch, sondern ein über lange Zeitstrecken iterativer Prozess vieler sozialer Experimente" (S. 177). Und diese Weltveränderung hat zwei wesentliche Erfolgsparameter. Die Wirtschaft ist solidarisch zu gestalten, und mit der Natur ist nachhaltig umzugehen (S. 179), und es wären folglich die Funktionsmodi des Weltmarkts zu ändern (S. 188). All dies bedarf schließlich der Einbettung in eine "solare Gesellschaft" (S. 214).
Doch worauf es am Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen am meisten ankommt, sind die Akteure, die den notwendigen Wandel exekutieren müssen, manche als Vorhut und manche eher unfreiwillig und zögerlich, der materiellen Not gehorchend. Ob die konkreten Utopien noch rechtzeitig Wirklichkeit zu werden vermögen, das vermag auch Altvaters Buch nicht mit letzter Gewißheit zu prognostizieren; positiv jedoch ist immerhin: Dieses Buch ist eine Ermutigung, die Welt zu verändern in Richtung auf eine solidarisch-nachhaltige Gesellschaft, die auch "Sozialismus" genannt werden könnte.
in:UTOPIE kreativ, H. 188 (Juni 2006), S. 562f.