Die menschenrechtliche Illusion des (westlichen) Kapitalismus
Das gute menschenrechtliche Gewissen wirkt wie ein motivpralles Kissen weltweiter Globalisierung. Aber Menschenrechte sind ein gesellschaftspolitisches Gesamtprogramm. Sie sind interdisziplinär ...
Das gute menschenrechtliche Gewissen wirkt wie ein motivpralles Kissen weltweiter Globalisierung. Der menschenrechtlich gestirnte Himmel über uns und die expansiven Waren- und Gesundheitsversprechen des globalen Kapitalismus vor uns begründen eine fast heile Orientierungs- und Handlungswelt westzivilisatorischer Gegenwart. Es hat den Anschein, als komme es überall nur darauf an, grenzenlose Marktbedingungen herzustellen, und dann folgten die Menschenrechte aller - vorauseilend verkörpert durch wagemutige Manager - fast von selbst auf dem Fuße. In der grenzenlosen Kapitalwelt, die alle Lebensbereiche und alle Menschen erfaßt hat, gälten dann die Menschenrechte grenzenlos. "Die feinen Unterschiede", wie sie Pierre Bourdieu so trefflich beschrieb, blieben zwar erhalten. Sie erhöben sich jedoch auf dem dicken, ja dicker werdenden Humus wachsenden Wohlstands. Niemand falle mehr kapitaldurchdrungen ins (a)sozial Bodenlose. Die Misere der Welt würde überwunden werden.
Das ist es, was man die Utopie kapitalistischer Vergesellschaftung nennen könnte. Sie wirkt seit vielen Jahrhunderten. Ihre ersten Fahnenträger setzten sich im 17. Jahrhundert in den noch vereinzelten, noch nicht mit Bodentruppen ausgestatteten Marsch. Heute durchdringt diese Utopie, die korrekter Ideologie zu nennen wäre, weltweit - besonders jedoch in den europäisch angelsächsischen Ursprungsländern kapitalistischer Sozialisation - alle gesellschaftlichen Institutionen, alle Orientierungen und Handlungen ihrer Vertreterinnen und Vertreter, und sie tut dies schier vollständig und perfekt. So weit ist diese Penetration gediehen, daß sie nicht mehr als Ideologie in Erscheinung tritt - also nicht mehr als von den herrschenden gesellschaftlichen Interessen erzeugtes ›falsches‹, sprich: höchst einseitiges und negativ folgenreiches Bewußtsein. Die Ideologie ist vielmehr wie selbstverständlich, wie ›natürlich‹, in die allgemein herrschenden Verhältnisse abgesunken.
Die Utopie nun - genauer: die Illusion - besteht in der selbst-, sprich: kapitalismusgewissen Annahme, einem perfekten Weltmarkt korrespondierten über kurz oder lang perfekte Menschenrechte. Zeiten und die in ihnen lebenden Menschen darf man solcher Utopie gemäß nicht zu pingelig nehmen; eben darum auch nicht jenen human realistischen Hinweis von John Maynard Keynes: "In the long run we are all dead."
Dieser ›Utopie‹ gemäß, die paradox real existiert und treibt und treibt, ist alles rationale Verhalten darauf gerichtet, eine solcherart grenzenlose Welt herzustellen. Alles andere erscheint als ›irrational‹, ›ineffizient‹, sogar als menschenrechtswidrig. Alle Vernunft ist in solcher Kapital-Rationalität aufgehoben worden. Es gibt nur noch eine einzige - und zwar: kapitalbezogene - Rationalität. Der Mensch scheint keine Alternative zu haben.
Die materialistische Geschichte der Menschenrechte bestätigt diese Annahme. In der Tat sind die modernen Menschenrechte, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts zuerst in den USA, dann in Frankreich verkündet wurden, in einer gesellschaftlichen Situation auf den Plan getreten, da sich die allgemeinen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in eiliger werdenden Entwicklungsschritten veränderten. Im England des 17. Jahrhunderts beginnend, war das bürgerliche Individuum gesellschaftlich bedeutsam in Erscheinung getreten. Städtische Entwicklungen in West- und Mitteleuropa und handelskapitalistische Strömchen waren dem bei frei machender Stadtluft punktuell und segmentell voraus gegangen. Bürgerliche Freiheit als exklusiv mannbezogene gründete in wachsend erworbenem Besitz. (1)
Dagegen waren alle willkürlichen Herrschaftseingriffe abzuwehren. Eine solche bürgerliche Mann-Freiheit war gegen alle Gefahren ›von unten‹ zu sichern; bald darauf auch gegen alle Gefahren oder widerstrebende Interessen von außen. Imperiale Fermente und staatsgeleitete Handlungselemente steckten von Anfang an in solchem Liberalismus. Um Eingriffe des absolutistischen Staates - seine ›arcana imperii‹, seine willkürlichen, sprich: unberechenbaren Maßnahmen - abzuwehren, strebten die sich mehrenden Bürger nach Verfassungen. Politische Herrschaft sollte - um sie sowohl begrenzen als auch berechenbar machen zu können - konstitutionalisiert werden. Die Grenzen des verfassungsgemäß gezähmten Staates waren vor der ökonomisch deklinierten Freiheit und der wirtschaftlich tümmelnden Konkurrenz aufgerichtet. Staatlicher Gewalt aber bedurfte man zum primär nach unten gerichteten Innen- und zum Außenschutz - nicht zuletzt zum Zwecke territorialer und ökonomischer, militärisch betriebener Expansion. Das staatliche Gewaltmonopol war außerdem als ökonomischer Vertrags- und nicht zuletzt Geldschutz erforderlich.
Aus diesen Zusammenhängen, die sich historisch über Jahrhunderte hinweg aus den Fluten der Entwicklung herausheben, erklärt sich zum einen, daß der bürgerliche oder - doppelt ausgedrückt - der liberale Freiheitsbegriff von allem Anfang an individualistisch und ökonomisch begrenzt und gefüllt ist. Freiheit meint immer die Freiheit des Individuums als eines Wirtschafts-Bürgers (bourgeois), der mit anderen prinzipiell unbegrenzt um seine wirtschaftlichen Interessen konkurrieren kann. Wirtschaftliche Kalküle bestimmen erstrangig bürgerliche Interessen und bürgerliche Rationalität. Darum kommt es auch darauf an, daß die staatliche Gewalt in ihren verfaßten Grenzen - und im Gefahrenfall selbstredend darüber hinaus - den bürgerlichen Wirtschaftsverkehr sichere. Ansonsten solle sie ihn jedoch sich selbst überlassen. (2)
Dem liberal, später liberaldemokratisch verfaßten Staat entspricht umgekehrt proportional die prinzipiell unverfaßte Ökonomie. Deswegen gilt: Das, was man heute Neoliberalismus nennt, ist nichts anderes als der ›alte‹ Liberalismus, der sich nur global gedehnt hat. Auch in den besten sozialstaatlichen Zeiten, die direkt und indirekt sozialdemokratisch gewerkschaftlich bewirkt waren, galt unverändert der liberale Freiheits- und der politisch-ökonomisch geteilte liberale Verfassungsbegriff. Das, was später den Maastricht-Vertrag von 1992 und die Grundrechtecharta der Europäischen Union von 1999/2000 und andere Vertrags- und Handlungsvereinbarungen bestimmte und weiter bestimmt, galt prinzipiell von allem liberal menschenrechtlichen Anfang an: Dominierend waren und sind - heute nur ungleich profilierter und alldurchdringender - die vier (europäischen) Grundfreiheiten, wie sie der Cecchini-Report von 1988 EU-gültig und mehr als EU-gültig formulierte: die Freiheit des Kapitals; die Freiheit der Ware; die Freiheit der Dienstleistung; und die Freiheit der Arbeit. Das, was Isaih Berlin als "negative Freiheit" bezeichnet hat, umgangssprachlich ›Ellbogenfreiheit‹ genannt wird und nichts anderes als asoziale, konkurrenzgetrimmte Freiheit ist, dominiert die modernen Menschenrechte von Anfang an. Dementsprechend kommen Gleichheit und andere menschenrechtlich notwendige Bedingungen immer und immer erneut unter die Räder.
›Die Stärken beachten‹ - dieses Motto jeder angemessenen Analyse sozialer und damit immer zugleich personaler Verhalte gilt für die (liberalen) Menschenrechte ebenso wie für die kapitalistisch-etatistischen Entwicklungen, denen sie entsprossen.
Die zuerst eher getrennten, dann mehr und mehr - unbeschadet ihrer unterschiedlichen Modalitäten - zusammenwachsenden Geschichten des expansiven Kapitalismus und des sich zum liberalen Verfassungsstaat häutenden, gleichfalls expansiven modernen Staates haben enorme befreiende Effekte erzeugt. Ohne diese könnte sich heute - jedenfalls in ›westlichen Breiten‹ - niemand mehr denken. Die Entfesselung der sich vielfach überschneidenden feudalen, kirchlich und staatlich meist verdoppelten kleinräumigen Herrschaften ist an erster Stelle zu nennen. In die Stände wurde man, einmal und für immer, hineingeboren. Aus dem Schutt ihrer Zerstörung trat nach und nach, revolutionär und behutsam, eine Vertragsgesellschaft wenigstens formell gleicher Vertragsfreiheit - unbeschadet der nicht zu übersehenden hohen sozialen Kosten und der materiellen und der geschlechtlichen Schranken derselben. ›Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann‹ wurde nicht nur während des Bauernkrieges im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts zum später von Ernst Bloch über alles geliebten naturrechtlich emanzipativen Kampfruf. (3)
Schließlich wurden sowohl die Entfesselung als auch die Zerstörung der als ›natürlich‹ und/oder ›göttlich‹ angenommenen Ungleichheiten begleitet von entgrenzenden Mobilitäten - ein Vorgang, der heute zum Beispiel das so häufig über- und fehleingeschätzte Faszinosum des Internet ausmacht, nämlich das Erleben, daß Freiheit materiell, körperlich und intellektuell mit Freizügigkeit verbunden ist. Auch in Sachen Mobilität sind eben sogleich - und heute mehr denn je - die Schattenseiten zu bedenken. Und dies von Anfang an.
Dennoch: Der Wert des ›exit‹ - des Ausstiegs des Menschen aus eben nicht ganz selbstverschuldeter Unmündigkeit in wörtlichem Sinne - darf bei aller Ambivalenz nicht unterschätzt werden. Daß man abhauen kann - welch ein kaum zu überschätzendes, meist verwehrtes Menschenrecht als Menschenbedürfnis am Grunde aller normierten Menschenrechte. Darum ist der bundesdeutsche Dauerverstoß gegen das Grundrecht auf Asyl ein Verstoß, dem vor allem arbeitsmarktpolitisch andere ›innerdeutsche‹ Verstöße eine Strecke lang entsprechen, so radikal menschenrechtswidrig - und die starken Verstöße anderer Staaten, nicht zuletzt aus dem Umkreis der zivilisatorisch arroganten Europäischen Union, machen diese arge deutsche Verfehlung nicht besser.
Die kapitalistische Reduktion der Menschenrechte bis zu ihrer Perversion
Kapitalistische Befreiungen waren nicht nur von allem Anfang an klassenspezifisch eng. Mit ihrem ersten Beginn befreiten kapitalistische Befreiungen auch von dem, wozu sie angeblich freisetzen: nämlich von menschlicher Autonomie und ihrem soziopolitischen Pendant - von Demokratie.
Wirft man heute einen Blick zurück in die kapitalistische Frühphase, also: in das agrarreformerisch und handelskapitalistisch, textilindustriell anhebende 17. Jahrhundert; das kapitalistischen Produktionsboden und Maschinenausstattung zuerst in England gewinnende 18. und das schon weltergreifende und sich kapitalistisch intensivierende 19. Jahrhundert mit seinem katastrophalen Höhe-, End- und Neuentwicklungsgrund im Ersten Weltkrieg und zehn Jahre später in der Weltwirtschaftskrise 1929 - dann wirken seine seinerzeitigen Gewalt-, Klassen- und Imperialismusgeschichten, wie sie von Karl Marx bis Rosa Luxemburg, später von Eric Hobsbawm und vielen anderen in schier unübertrefflicher Könnerschaft erzählt worden sind, fast wie Nachrichten aus ferner Vorzeit. (4)
Ein genauerer zweiter und dritter Blick - in die heutige Zeit und ihre kapitalistisch bestimmte Zukunft weisend - zeigt jedoch, wie sehr die Gewaltgeschichte anders, ausgreifender fortgesetzt wird; wie kapitalistische Weltentwicklung Ungleichheiten und neu-alte Klassennöte fortzeugt; wie sublim und ganz und gar nicht sublim all das anders fort- und weitergesetzt wird, was man als innere und äußere kapitalistische Kolonisierung bezeichnen muß - so man denn Sprache nicht mitsamt den sonstigen Wirklichkeitsverlusten, wie sie in den etablierten Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu Hause sind, vollends enteignen will.
Kann man, darf man den 11. September 2001 und das, was daraus US-westweltgeführt an Konsequenzen gezogen worden ist bis hin zu dem militärischen Aufmarsch in Zentralasien, anders verstehen? (5)
Der Fortschritt wird im wachsenden Profit verdinglicht, privatisiert, das heißt ent-sozialisiert. "time is money" lautet die von Benjamin Franklin zuerst formulierte Devise. Sie hält alle kapitalistisch gerichteten Modernen zusammen. Die Grade der Beschleunigung und der gesellschaftlichen Totalisierung verändern sich freilich qualitativ. Und also passiert es in ansteigendem, alle kapitalistischen Gesellschaften und schließlich die kapitalistisch gewordene Welt durchdringendem Maße: im mikroökonomischen Bereich der Betriebe im Sinne einer die Produktion beschleunigenden und verwohlfeilenden ›Rationalisierung‹ vom Taylorismus und Fordismus bis hin zum ›flexiblen Menschen‹ - dem multiplen Versuch dauernder kapitalverwertungsgerechter Flexibilisierung und Mobilisierung der möglichst reduzierten Ware Arbeitskraft; und im makroökonomischen Bereich sich jagender Innovationen, Konkurrenzen und Wachstümer. Zeit ist durchkapitalisiert. (6)
Sie wird erst sekundär oder tertiär von den abhängigen Variablen, zu denen die Menschen geworden sind, verinnerlicht. Auf sie - die Menschen - kann man aber trotz ansonsten ungehemmter Effizienzsteigerung interessanterweise nicht verzichten. Aber ihre Flexibilität - sie kann man vielleicht mittels der Humangenetik steigern? Die sogenannte Neue Ökonomie und die neue Wert- und Weltordnung der shareholder values von der Wiege bis zur Bahre sind dafür der windigste und zugleich materialistischste Ausdruck. Die Herrschaft der befreiten Kapitalzusammenhänge ist längst an die Stelle der Herrschaft der freilich immer schon entfremdeten Kapitalistenklasse getreten.
Daß die Menschenrechte, liberaldemokratisch ›erfunden‹ und also nationalstaatsverfaßt, als verengt verrechtlichte Ansprüche an die Nationalstaaten gelten und von den Nationalstaaten je nach politischer Lage und Laune eingeengt beziehungsweise durchbrochen beziehungsweise gehalten und nicht gehalten werden, verändert die Geschichte der modernen Menschenrechte nicht. Denn die Staaten und ihre Politik stehen der entfesselten Kapitaldynamik eben nicht wirklich als Balancen, Bremsen oder Kontrolleure gegenüber. Das ist nur eine täuschungsreiche, freilich immer wieder erneuerte ›sozialdemokratische‹ Hoffnung im Sinne des ›whishful thinking‹. Letzteres verachtete Bloch um des Prinzips Hoffnung willen zu Recht.
Der frühliberalen Reduktion des Verfassungsstaats gemäß, dessen Gewaltmonopol und allgemeine politische Legitimation von Anfang an funktional zur freien kapitalistischen Entwicklung bestimmt worden sind, haben eigensinnige politisch-staatliche Definitionsmächte eher ab- als zugenommen. Die scheinbar ureigenen Quellen staatlicher Herrschaft - das Gewaltmonopol und der allgemeine Legitimationsanspruch - sind nicht so gefaßt worden, daß sich staatliche Politik - wie es die Demokratie versprach - wenigstens teilweise hätte selbst bestimmen können. Die heute noch weithin geltende bestenfalls frühliberale Organisation staatlicher Politik läßt sie höchstens eigensinnig legitimatorisch klappern - aber mit einem Geräusch, das mit hohem Vorrang der wirtschaftlichen Entwicklung und ihren viel mächtigeren, von allen Bürgerinnen und Bürgern verinnerlichten Interessen dient. Keine demokratisierende Dynamik also ist es, sondern ein demokratisch paradox statisches legitimatorisches Ruhekissen.
Der Kapitalismus bleibt alt und vertraut. Die dominierende Vergesellschaftungsform der Moderne, die die politischen und kulturellen Vergesellschaftungsformen immer inniger umgarnt, barg von allem Anfang an globalisierende Hefe in sich. Marx und schon die von ihm kritisierten politisch ökonomischen Klassiker - Adam Smith, David Ricardo und andere - haben das in ihren hier gleichkernigen Kapitalbegriffen miterfaßt. Die kapitalistische Vergesellschaftung - zeithurtig, zeitbeschleunigend, zeitverschlingend - frißt immer größer werdende gesellschaftliche Räume: erst branchenspezifisch partiell, dann alle Branchen umfassend total; erst regional, dann nationalstaatlich, dann Nationalstaaten verflechtend und schließlich die ganze bewohnte Erde mit welträumlichem Verlangen.
Den langen Bart kapitalistischer Vergesellschaftung zu erinnern ist - den Betörungen und Torheiten immer neuer Ökonomien und angeblich qualitativen Sprüngen zum Trotz - wichtig. Der Nebel der Neuigkeiten, die Faszinosa der strikt innerkapitalistischen und kapitalistisch ›rationalen‹ Innovationen verdecken und verblenden schon den kritischen Blick, die human bestimmte Aufklärung - und damit die erste Voraussetzung aller Menschenrechte. Dennoch reicht es nicht aus, kritisch den Bart zu zausen. Quantitäten können in Qualitäten umschlagen. Und das ist im Umkreis des nun global alltäglich gewordenen Kapitalismus der Fall. Einige wenige menschenrechtlich demokratisch besonders wichtige Facetten des global gewordenen Kapitalismus will ich nennen:
Zum ersten: die Verschärfung der Konkurrenz. Seitdem keine neuen Räume - es sei denn später im 21. Jahrhundert außerirdische Welträume à la Mond, Mars und andere Planeten - mehr zu entdecken und kolonialistisch kapitalurbar zu machen sind, verstärken sich die Landnahmen nach innen. Das ist die Logik des Neoliberalismus. Da ist der riesige Appetithappen China, bei dem zugleich der Gefahr gewehrt werden muß, daß sich die westlich gekämmten Hegemone verschlucken. Da ist das neue ›Land‹, das Biotechnologie und Humangenetik schier unbegrenzt eröffnen - das riesige Kapitalterritorium ›menschlicher Körper‹ mit den Optionen ›Körperersatz‹ und ›neue Körper‹. Welche phantastischen ›Bastelbiographien‹ werden hier möglich! (7)
Verschärfung der Konkurrenz meint jedoch nicht nur neue Landeroberungen und die Entdeckung unbekannter ›Länder‹. Sie meint nicht nur den verstärkten Wettbewerb der großen und kleinen Interessenten, der Staaten und der mehr oder minder durchstaateten Gesellschaften untereinander und das allgemeine Wettrennen um die größten Happen vom weltmärktlich täglich, minütlich neu verteilten Kuchen. Verschärfung der Konkurrenz meint vor allem die möglichst totale Mobilisierung der Gesellschaften und ihrer Individuen für den dauerolympischen Wohlstandsanteilswettkampf. Das, was sich gegenwärtig bildungspolitisch abspielt, ist dafür ein schlagendes Exempel. Nicht darum geht es, die richtige, jedoch unzureichend befolgte Devise der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ›Bildung ist Bürgerrecht‹ nachhaltig durchzusetzen, damit möglichst alle Menschen in einer sogenannten Wissensgesellschaft mitkommen; daß sie verstehen und selbstbewußt leben und mitbestimmen, also Anteil nehmend handeln können. Nein, was in der hier beschriebenen Logik gewollt wird, ist vielmehr, daß ein- und angepaßte Leistungseliten - auch ›Hochbegabte‹ - gepäppelt werden; daß Wissenspakete - Module genannt - schulisch und hochschulisch unterschiedlich so verpackt werden, daß arbeitsmarktpolitisch optimale Angebote mobil und flexibel präsentiert werden können; daß also Ungleichheit bildungspolitisch bestätigt und verinnerlicht wird und die Spitzenbegabten im engen Leistungskorsett die demokratische und menschenrechtliche Verdummung der Gesellschaft für die ›Natur‹ unserer Zeit halten. Die neue Bildungskatastrophe, von Georg Picht und all den bildungsökonomischen ›Enthusiasten‹ schon vor 40 Jahren sträflich ›übersehen‹, besteht inmitten globalen Innovationstaumels in einer systematischen kognitiven und habituellen Verarmung der heranwachsenden und dann erwachsenen Menschen, die die Welt nur noch aus ihrer klassenpolitischen Leistungsperspektive verstehen. Was für ein Numerus Clausus für Demokratie und Menschenrechte!
Zum zweiten: die die Menschenrechte vielfach totschlagenden Quantitäten. Das ist ein Faktor, der infolge seiner Banalität meist grob unterschätzt, wenn nicht gänzlich mißachtet wird. Die Größenordnungen - sie wurden schon nationalstaatlich, auch und gerade im Rahmen der Sozialwissenschaften, sträflich vernachlässigt. Als bedeute es menschenrechtlich demokratisch gar nichts, wie umfangreich an Raum, zahlreich an Leuten, wie voll geladen an diversen Aufgaben eine Gesellschaft und ihre Politik strotze. Max Weber hat mit gutem Grund die von ihm als unausweichlich eingeschätzte Bürokratisierung aus den vergrößerten und sich weiter vergrößernden Quantitäten an zu organisierenden und zu versorgenden Menschen hergeleitet. Bürokratie meint hierbei zunächst nichts anderes, als daß eine kleine Institution, die man in einer arbeitsteiligen Gesellschaft braucht, ein Büro, das wenige Menschen umfaßt, die hilfreichen Arbeiten nachgehen, zu einer in sich machtvollen großen Behörde wird: gleich, ob formell privat oder öffentlich. Die ursprünglichen Ziele werden dadurch enteignet. Ebenso werden Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsprozesse verengt, wenn nicht gar ausgeschaltet.
Die im Zuge der Kapitalisierung und Verstaatlichung veränderten Größenordnungen diverser Art wurden bis heute demokratietheoretisch, demokratiepraktisch und menschenrechtlich weitgehend indolent hingenommen. Man begnügte sich damit, anzunehmen, repräsentative Demokratie sei für alle Größenordnungen gut. Ob 300 000 Menschen, ob drei Millionen, ob 30 oder 300 Millionen, ob gar eine oder zwei Milliarden an Menschen - gleichviel. Das Wahlspektakel ist überall möglich. Menschenrechte faßte man ohnehin - und tut dies weithin bis heute - als ›individuelle Abwehrrechte‹, ohne zu begreifen, daß jedes Menschenrecht selbst normativ verkümmert, wenn es nicht von denjenigen mitbestimmt werden kann, denen es angeblich gilt. Also wird das, was ›Würde des Menschen‹ heißt, wie es Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes verlangt, vorausgesetzt - im üblichen juristischen Trick, als sei sie schon gegeben formuliert: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" -, ohne daß diejenigen, die da ›Würde‹ besitzen sollen, mitbestimmten, was denn ihre Würde wirklich sei. Welch ein normatives Unding! (8)
Die schon nationalstaatlich überbordenden Größenordnungen entwachsen im Zeitalter der Globalisierung vollends ins schier Unorganisierbare. Nicht umsonst hat die Rede von der ›neuen Unübersichtlichkeit‹ Karriere gemacht, die nur eine allgemeine, auch intellektuelle Hilflosigkeit zusammenfaßt. Und nicht umsonst ist das allgemeine, weit über die herkömmliche staatliche Politik hinaus gehende Verfassungsproblem das Problem unserer Tage. Wie sollen unübersehbare Informations- und Gütermengen, wie sollen lokal, national, kontinental und global mit einander verhakte und meist von weltmarktoben nach lokalunten wirksame Entscheidungen oder Quasientscheidungen und Vorgänge einigermaßen den sechs Milliarden Menschen, die gegenwärtig leben, menschenrechtlich angemessen organisiert werden? Die allgemeine Beschleunigung, ja die schiere Gleichzeitigkeit verstärkt die allgemeine politische Asthmatik und die problemunangemessene Perspektivlosigkeit. Nicht zufällig ›herrscht‹ das institutionell personell nicht faßbare und von niemandem durchschaute Diktat von sogenannten Marktgesetzen, die sich nicht selten eisschollengleich ineinander verkanten. Über die massiven Interessen hinaus, die dahinter punktuell wirksam sind, ist es ineins mit denselben kein Zufall, daß das monetäre Kalkül in seiner abstrakten Gleichmacherei und seinem eingebauten Reduktionismus zu dem globalen Wert schlechthin wird. Wie anders sollte eine grotesk ungleiche, kollektive, individuell geltende, scheinbar sublim wirksame, tatsächlich gewaltvolle Zwangsordnung entstehen?!
Menschenrechte? Menschenrechte für sechs Milliarden Menschen, von denen jede und jeder einzelne eigen- und einzigartig ist und die zusammen mit anderen leben können sollen?
Betrachtet man die riesige Fallhöhe zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wird daraus ein geradezu tragischer Witz. Dieser müßte die Welt andauernd durcheinander schütteln. Es sei denn, die da oben im mächtigen Westen lebten nicht mehrheitlich menschenrechtsüberbrusteitel materiell in all ihrer Entfremdung prächtig. Denn im Wohlstand lebt sichÂ’s angenehm - insbesondere dann, wenn die Menschenrechtsmoral auch noch so hübsch zuhanden ist.
Menschenrechtlich und damit immer zugleich demokratisch gesprochen muß summarisch festgestellt werden:
Erstens: Die Globalisierung in ihrer kapitalistisch-technologischen Eigenart trägt nicht dazu bei, Menschenrechte global geltend zu machen. Der westlich erzeugte Schein trügt. Er rechtfertigt allenfalls das, was neuerdings in Form einer säkularen Transsubstantiation des Krieges ›humanitäre‹ oder auch ›antiterroristische‹ Intervention genannt wird.
Zweitens: Die Globalisierung in ihrer kapitalistisch-technologischen Eigenart setzt bis heute nie verwirklichte Menschenrechte, die immer als großes Versprechen vor der Mord und Zwang enthaltenden westlichen Zivilisation hergetragen worden sind, in den Status zunehmender Obsoleszenz oder Antiquiertheit. Das, was schon nationalstaatlich allen Verfassungen zum Trotz gegolten hat, wird globalisierend perfekter und, wie es scheint, schier unausweichlich. (9)
Menschenrechte als Gegenentwurf - die konkrete Utopie
Menschenrechte - der Kampf um den Begriff ist heute wichtiger denn je. Die ersten Verkündigungen der modernen Menschenrechte Ende des 18. Jahrhunderts besitzen ihren eigenen Wert, und der soll und darf nicht in Abrede gestellt werden. Gleichwohl traf die Kritik, die Olympe de Gouge, Karl Marx, Jean Paul Sartre, Carol Pateman oder auch die Sklaven afrikanischer, lateinamerikanischer und asiatischer Länder und deren intellektuelle Vertreter geübt haben, weithin zu. Olympe de Gouge wurde durch Monsieur Guillotine kopffallend bekannt gemacht. Marx übte seine Kritik zuerst in seiner ansonsten problematischen "Judenfrage", später dann vor allem in den Grundrissen (und indirekt durchgehend in seinem Werk).
Heute ist es jedoch nicht mehr zulässig, sich bei den Menschenrechtserklärungen der restriktiven Frühmoderne auszuruhen, die außerdem noch um keine ›Dialektik der Aufklärung‹ wußte - trotz der Goyaschen Alpträume der Vernunft. Wer dies tut - und das sind die meisten Vertreter der etablierten westlichen Mächte diverser politischer und ökonomischer Deklinationsform -, der tut dies um der trefflichen Möglichkeit willen, die herkömmlichen Menschenrechte herrschaftskapitalistisch zu funktionalisieren. Denn diese wurden als individuell vorgegeben angenommen. Sie blieben individuell abstrakt und also punktuell. Sie entbehrten eines sozial angemessenen Unterbaus. Sie waren darüber hinaus asozial, strikt außerökonomisch und apolitisch und wirken ganz wie ein ungleich verstreuter Streusel auf einer anders gebackenen und zusammengesetzten Schichttorte.
Wer heute das Wort ›Menschenrechte‹ in den Mund nimmt, sich am Begriff orientiert, Politik und andere gesellschaftliche Vorgänge mit seiner Hilfe analysiert und urteilskräftig bemißt und sich für seine und anderer Menschenrechte einsetzt, der muß seinen Begriff im Lichte der Vergangenheit und der gegenwärtigen Probleme kräftig neu fassen. Die Runderneuerung, zu der die UNO am 10. Dezember 1948 fähig war und die immerhin einen bedeutenden Fortschritt ausmachte, reicht nicht aus.
Ein angemessener Begriff der Menschenrechte muß Â›materialistisch‹ gefaßt werden, das heißt: Alle menschenrechtlichen Normen müssen zusammen gesehen werden. Sie sind nur zu verwirklichen mit entsprechenden materiell-institutionellen gesellschaftlichen Bedingungen. Sonst taugen Menschenrechte nur zur Ausrede, zum Selbst- und Fremdbetrug. Das aber bedeutet unter anderem - und manch Wichtiges muß dabei noch unerwähnt bleiben:
Erstens: Menschenrechte sind universell nur, insoweit sie die jeweilige Besonderheit der weltweit verschieden lebenden Personen beachten.
Zweitens: Der allgemeine Anspruch der Menschenrechte ist als kritisches regulatives Prinzip der Rechte je besonderer Menschen zu verstehen. Letztere sind konstitutiv.
Drittens: Menschenrechte sind immer als Aktivrechte der Menschen zu begreifen. Deswegen ist das urdemokratische Recht der Teilnahme und der Teilhabe mit den Menschenrechten gesetzt.
Viertens: Erst dann ist gewährleistet, daß die nie abschließend und vollständig - sprich: dogmatisch geschlossen - normierbaren Menschenrechte in dem, was und wie sie für alle je einzeln bedeuten, von eben diesen einzelnen wesentlich mitbestimmt werden müssen. Als da sind, um die ersten vier Fahnenfelder farbig zu füllen: Freiheit, Gleichheit, Integrität, Geschwisterlichkeit.
Fünftens: Menschenrechte gelten für jede Person als einer besonderen. Das aber heißt: Sie enthalten schon notwendig kollektive Eigenschaften. Darüber hinaus gibt es kollektive Menschenrechte, etwa die Rechte ganzer Gruppen (›Ethnien‹, ›Völker‹). Das Selbstbestimmungsrecht solcher historisch gewachsener Gruppen, das dann als Minderheitenrecht in größeren Einheiten kulturell und auch ökonomisch gewahrt werden muß, besitzt dann und immer dann eine eindeutige Grenze, wenn eine einer Minderheit zugeordnete Person einer solchen Minderheit und ihren Verfahren nicht angehören will. In diesem Sinne korrigiert das Menschenrecht als Recht jeder/jedes einzelnen das kollektive Recht.
Sechstens: Damit ist schon gesagt, daß Menschenrechte die Teilnahme aller an den hauptsächlichen politisch-ökonomisch und kulturellen Produktionsformen verlangen. Sie verlangen darüber hinaus - als Voraussetzung und Folge eigener Befähigung zum Handeln - die Teilhabe am jeweiligen gesellschaftlichen Reichtum, die auch einen entsprechenden, in der Ungleichheit und Ungleichheitsgeltung begrenzten positionellen Status einschließt (bis in die Lohn- und Gehaltshierarchien hinein, die erheblich abgeflacht werden müßten).
Menschenrechte sind nicht absolut zu begründen. Sie sind aus dem Kampf der Menschen miteinander entstanden. Sie sind insofern unvermeidlich historisch relativ. Sie sind jedoch alles andere als willkürlich und unverbindlich. Gerade ihre historische Herleitung belegt millionen- und abermillionenfach, daß die in den Menschenrechten geronnenen, normativ formulierten Ansprüche elementare Bedürfnisse des Menschen darstellen. Wenn diese nicht gewahrt werden, dann handeln die einen Menschen unmenschlich an anderen und lassen Täter und Opfer gleichermaßen menschengemacht unmenschlich werden. (10)
Und unverbindlich sind die Menschenrechte nicht, weil sie stets und immer, täglich, stündlich, in jedem Gedanken, jedem Wort, jeder Handlung, jedem Umgang mit einer/einem anderen verwirklicht oder verletzt werden können. Ein Drittes gibt es fast nicht.
Menschenrechte sind ein gesellschaftspolitisches Gesamtprogramm. Sie sind von vornherein interdisziplinär angelegt. Trennungen in diverse Segmente à la Ökonomie und Politik sind allenfalls sekundär möglich. Dauernd ist dann zu prüfen, welchen menschenrechtlichen Nutzen eine so oder so geartete ›Organ‹-Trennung besitzt. In der Realität werden heute Menschenrechte indes bestenfalls als besondere Aspekte berücksichtigt: im Sinne etwa von Menschenrechtsausschüssen (so neuerdings im Bundestag), Menschenrechtsinstituten (so neuerdings eines auf Bundesebene) und dergleichen. Diese Besonderung der Menschenrechte im Sinne eines meist primär symbolisch behandelten Zusatzaspekts ist geradezu menschenrechtswidrig.
Der Kampf um die Zukunft der Menschenrechte und damit um eine menschenrechtliche Zukunft
Menschenrechtlich demokratisch bleibt angesichts all dessen kein anderer Ausweg als die gar nicht radikal genug betreibbare Kritik der kapitalistischen Globalisierung. Das aber heißt zugleich: keine Gegnerschaft gegen globale, menschenerdweite Verbindungen und Zusammenhänge. Vielmehr geht es mitsamt der Kritik an der politischen Ökonomie gegenwärtiger Globalisierung und dem, was diese politisch menschenrechtlich übrig läßt, darum, andere, von unten nach oben gestufte Formen der Globalisierung, genauer: der Globalität ohne lemmingenhafte Dynamik vorzustellen.
Kritik der Globalisierung besagt, wie ich zu skizzieren versucht habe, unter anderem das aufklärerische Versprechen ernst zu nehmen, indem man um dessen im 20. Jahrhundert bewiesene tödliche Dialektik weiß. Das aber heißt unter anderem, menschenrechtliche Normen, die in zureichender Weise neu zu formulieren sind, in ihrem materiellen Zusammenhang und Widerspiel mit menschenrechtsangemessenen gesellschaftlichen Formen so zusammen zu denken und zusammen zu praktizieren, daß die kostenreichen, oftmals massenmörderischen Utopien vom Anfang bis zum vorläufigen Ende der Moderne - Utopien, die ›rechts‹ gestrickt waren, die jedoch auch ›links‹ gestrickt schienen, nicht zu neuen, Identifikationen entfesselnden Rattenfängerparolen werden können. Menschenrechte personal, lokal, regional, global - das ist eine schwierige Sache, die schwer zu machen ist. Indes: sie lohnt alle Anstrengung. Schon die Anstrengung macht freier, aufrechter, spendet den Vorschein praktizierter Menschenrechte für einen selbst und für andere. (11)
Wolf-Dieter Narr - Jg. 1937; Professor für Politische Wissenschaft am Otto- Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und Mitherausgeber von "Bürgerrechte und Polizei".
(1) "Die Eigenart kapitalistischer Ökonomie und ihr mächtiges Schwungrad bestehen ... gerade darin, daß sich diese Ökonomie prinzipiell auf ein vereinzeltes materielles Interesse konzentriert, das sich monetär berechnen läßt. (...) Gesellschaft wird konsequenterweise als eine Fülle von Menschen angesehen, die untereinander nur durch Konkurrenz zusammenhängen. Weiterhin wird angenommen, daß das Interesse primär in wachsendem Besitz bestehe, der, monetisierbar, entsprechend berechnet und gewertet werden könne." Wolf-Dieter Narr, Alexander Schubert: Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt/M. 1994, S. 152 und 183.
(2) "Theorie und Praxis liberaler Demokratie unterstellen den interessenbewußten, kalkulationsstarken und rundum handlungs- und entscheidungsfähigen Bürger. Doch die Bürger entbehren dieser Eigenschaften in hohem, ja wachsenden Maße. Entsprechend verliert liberale Demokratie ihre bürgerliche Substanz." Wolf-Dieter Narr, Alexander Schubert: Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt/M. 1994, S. 182.
(3) Die engmaschigen, aufrechten Gang kaum erlaubenden Herrschaften werden schlaglichtartig in dem Brief eines französischen Bauern herrschaftsgewebedicht einsichtig, den Alexis de Tocqueville in sein gar nicht laut genug zu lobendes Buch über Das Alte Regime und die Französische Revolution aufgenommen hat. Der Brief findet sich auch in Gustav Landauers zweibändiger Ausgabe von Briefen um die Zeit der Französischen Revolution (vgl. dazu auch Walter Markovs Auswahlbände). - Mit dieser spitzwegigen Herrschaftenwelt eng verbunden ist der zähe Übergang von der Ständegesellschaft. "Und als ich auf dem St. Gotthart stand, da hört ich Deutschland schnarchen. Es schlief dort unten in guter Ruh unter 48 Monarchen", dichtete noch tief im 19. Jahrhundert Heinrich Heine.
(4) Zur Lektüre werden hier dringend empfohlen das 24. und das folgende Kapitel des ersten Bandes des Marxschen Kapital, die Lage der arbeitenden Klassen in England von Friedrich Engels, das Kommunistische Manifest - versteht sich - und schließlich die ersten Kapitel von E. P. Thompsons Geschichte der englischen Arbeiterklasse, Karl Polanyis Great Transformation und Eric Hobsbawms Mehrfachgeschichte - nämlich Kapital-, Bewegungs-, Sozial- und Politikgeschichte mit Schwerpunkt England vom 17. bis ins 20. Jahrhundert.
(5) Aus der Fülle der Literatur zum ›11. September‹ sei nur hingewiesen auf Prokla 125 (Dezember 2001) und die dort versammelten Aufsätze zum Thema "Globalisierung des Terrors".
(6) Trotz vieler historisch faktischer Unstimmigkeiten und trotz wohlbegründeten interpretatorischen Streits über die Anfänge des Kapitalismus ist ideengeschichtlich nach wie vor unübertrefflich Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.
(7) "Der Weltmarkt konstituiert ... die Hierarchie der ökonomisch- politischen Weltolympiade und ehrt ihre Gewinner. Der Produktive wird Goldmedaillengewinner. Überall bemühen sich die Staaten darum, ihre Länder so vorzubereiten, daß sie am dauerolympischen Wettbewerb teilnehmen können. Und tun sie es nicht, werden sie gezwungen oder müssen bittere Not für ihre Bevölkerung in Kauf nehmen. (...) Diese golbale Welt gewährt keine Nischen mehr. Wer im Abseits steht, wird streng bestraft." Wolf-Dieter Narr, Alexander Schubert: Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt/M. 1994, S. 25.
(8) "Der Stellenwert der nationalstaatlichen Legislative hat weiter an Gewicht verloren. Man könnte von einer umgekehrten Proportionalität zwischen der Masse der Gesetze und dem Einfluß der Legislative sprechen." Wolf-Dieter Narr, Alexander Schubert: Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt/M. 1994, S. 189.
(9) Über all die an dieser Stelle nicht weiter ausführbaren Aspekte hinaus bedrückt menschenrechtlich nicht zuletzt, daß ganze Gruppen von Menschen, daß Individuen, die doch im Herzen der Menschenrechte sich befinden, in Sachen kapitalistische Entwicklung, Modernisierung, Transformation, Wachstum, Innovation und Effizienz keine Rolle spielen. Es sei denn, sie stünden charaktermaskenschön an der Spitze der im herrschenden Weltmarkt mächtigen Organisationen. Darin besteht die tiefste Unwahrheit und doppelte Moral des menschenrechtlich demokratisch gespitzten Kapitalismus westlicher Lesart.
(10) Ein extremes, jedoch für alle ›Normalität‹ auf Dauer aller uns vorhersehbarer Zeiten geltendes Beispiel wird von Primo Levi aus seinen Auschwitz-Erfahrungen gegeben: "Ist das ein Mensch." (vgl. auch Primo Levi: Die Ertrunkenen und die Geretteten; auch den gänzlich anderen Menschenverhalt in anderer historischer Situation, nämlich am Exempel traumatisierter amerikanischer Ex-GIs, in: Jonathan Shay: Achilles in Vietnam, 1995).
(11) "Direkte Demokratie, das versteht sich, ist nur in vergleichsweise kleinen sozialen Räumen möglich. (...) Phantasie für die Ferne und das selbstbewußte ... Vermögen, weite Zusammenhänge angstfrei und zugleich vorurteilsarm zu begreifen, setzen in aller Regel lokale Praxis voraus." Wolf-Dieter Narr, Alexander Schubert: Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt/M. 1994, S. 264.
in: UTOPIE kreativ, H. 141/142 (Juli/August 2002), S. 593-603