Damals als ich Wunderlich hieß.

Hermann Weber: Damals als ich Wunderlich hieß.Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten, Aufbau-Verlag Berlin 2002, 445 S. (25 EUR)

Pingsten 1946 gehörte der 19jährige Jungkommunist Hermann Weber zu den Mitbegründern der FDJ. Als Schüler der Jugendhochschule am Bogensee hatte man ihn kurzerhand zum "Delegierten" erklärt, obgleich es in seiner Heimatstadt Mannheim noch gar keine FDJ gab. Wunderlich. Doch es sollte noch wunderlicher werden. Was macht man nicht alles als junger, schlaksiger Straßenbahnschaffner, wenn man Hunger hat und vor allem einen riesigen Wissensdurst? Und wenn man von erfahrenen, undogmatischen Genossen das Angebot für ein zweijähriges Studium bekommt, kostenfrei und bei guter Verpflegung. Weber nahm an und begann im Herbst 1947 als einer von 79 Kursanten des ersten Zweijahreskurses an der SED-Parteihochschule in Liebenwalde. Dort gab es tatsächlich satt zu Essen, Zigaretten, eine passable Unterkunft, Freunde und schließlich auch eine Freundin Gerda, Webers heutige Ehefrau. Es gab Exkursionen in die zerstörte, aber spannende deutsche Hauptstadt, Theater- und Kinobesuche und nicht zuletzt eine gut ausgestattete Bibliothek und viel Gelegenheit für Lernbegierige, wie Weber einer war und Gerda ebenfalls.

Wie alle sieben Westdeutschen erhielt er sogleich einen Decknamen: Wunderlich. Gleichsam kamen ihm im Laufe seines Studiums allerdings auch andere Dinge vor. Zunächst erfuhr er aus den Protokollen der Moskauer Schauprozesse von den Schrecken der Stalinschen Parteisäuberungen. Die Prozesse der dreißiger Jahre erschienen damals schon als Geschichte und der Kursant konnte nicht wissen, daß ähnliche Prozesse in Osteuropa bevorstanden. Eine Angelegenheit, die ihn belastete, die ihn zeit seines Lebens nicht mehr losließ und die er später, als Nestor der deutschen Kommunismusforschung, umfassend wissenschaftlich untersuchte.1

Weber er- und durchlebte den Wandlungsprozeß von einer relativ breit angelegten, humanistischen Bildung in einem liberal empfundenen Lehrbetrieb zu einer "Indoktrinationsanstalt stalinistischen Typus". Die Schilderung dieses Prozesses bildet den Kern seiner Erinnerungen, die Weber mit Archivfunden und - in bekannter Manier - mit zahlreichen Kurzbiographien von Lehrern und Studenten, von damaligen und späteren Weggefährten angereichert hat. Dazu gehört sein damaliger Dozent und späterer Freund Wolfgang Leonhard. Just als 1948 der Umbau der Schule zur "Kaderschmiede" erfolgte, verursachte die Flucht des durch die Komintern geschulten Kaders eine große Unruhe unter Lehrern und Studenten. Leonhard, der aus seiner Zustimmung zum jugoslawischen Abgrenzungskurs vom Stalinismus keinen Hehl gemacht hatte, wurde zum Agenten abgestempelt. Die Forderung nach erhöhter Wachsamkeit vergiftete fortan die Atmosphäre. Für einen Bruch, wie Leonhard ihn vollzog, war Weber trotz wachsender Zweifel noch nicht bereit. Sein Studium endete im Sommer 1949 planmäßig, sein Einsatz als Chefredakteur der westdeutschen FDJ-Zeitung Junges Deutschland dann schon nicht mehr. Für ein "zu klein" aufgemachtes und falsch plaziertes Stalin-Telegramm ließ der FDJ-Vorsitzende Erich Honecker durch seinen Stellvertreter Heinz Lippmann Weber aus dieser Funktion entfernen. Obgleich dieser stalinistische "Karriereknick" Weber im Zuge einer Großrazzia gegen westdeutsche FDJ-Funktionäre 1953 nicht vor einer Inhaftierung schützte, stellte sie eine weitere Erfahrung mit den destruktiven Herrschaftsmechanismen einer kleinen Parteielite dar, die Weber 1954 den Bruch mit dem Kommunismus erleichterten. Fortan begab er sich, wie Leonhard und die später aus der DDR geflohene PHS-Dozentin Carola Stern, eine Zeitlang auf die Suche nach einem "dritten Weg" der gesellschaftlichen Entwicklung, bis sie ihren eigenen Weg als Wissenschaftler und Publizisten fanden und maßgeblich an der Aufdeckung der "weißen Flecken" in der stalinistisch geprägten Geschichtsschreibung mitwirkten.

Webers Erinnerungen sind auch mit zahlreichen Anekdoten geschmückt. Was nützt zum Beispiel die Vergabe des konspirativen Namens, wenn das Foto für den "falschen" Paß vergrößert im städtischen Fotoatelier aushängt? Auch solche Schilderungen machen das lesenswerte und keinesfalls im Zorn zurückblickende Buch aus, das in Zusammenarbeit mit Gerda Weber entstand. Man kann auf eine Fortschreibung der Biographie über das Jahr 1954 hinaus gespannt sein.

1 Vgl. Hermann Weber/Dietrich Staritz: Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und "Säuberungen" in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren, Berlin 1993; Hermann Weber/Ulrich Mählert: Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936-1953, Berlin 1998.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 145 (November 2002), S. 1038-1039