Seit dem ausgehenden Mittelalter war in England, Holland und
Frankreich das Pamphlet eine wichtige Form der auch politischen
Auseinandersetzung. Die Argumentation folgt der Logik der Zuspitzung und
der Anklage, die ruhige, sachliche Argumentation ist seine Sache nicht.
In der französischen Revolution von 1789 war der Pamphletist eine nicht
wegzudenkende Gestalt des politischen Ringens; zuerst waren es die
Vorkämpfer der revolutionären Veränderung, später dann kamen die
Pamphlets der Gegenrevolution, oft bezahlt aus den Kassen der
Monarchisten und der Geheimdienste, die gegen das revolutionäre
Frankreich agierten. Aus diesen Kämpfen heraus bekam das Wort dann
seinen heutigen pejorativen Klang.
Stéphane Hessel hat dieses Genre in seinem ursprünglichen,
aufrührerischen Sinn aufgegriffen mit seiner kleinen Schrift: „Empört
Euch!" Hessel, geboren 1917 in Berlin, mit seiner Familie seit 1924 in
Frankreich lebend, seit 1937 französischer Staatsbürger, empörte sich
als junger Mann über die deutsche Besetzung, schloss sich dem „Freien
Frankreich" General de Gaulles an, war in der Résistance, nach Verrat
von den Deutschen verhaftet, entkam nur knapp dem Tod im KZ, war dann
Diplomat und einer der Mitautoren der „Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte" 1948. „Empört Euch!" richtet sich an die Jugend,
geschrieben mit der Weisheit des Alters und zugleich unter Bewahrung des
sonst der Jugend zugesprochenen Geistes des Widerstandes.
Es war der deutsche Publizist Jakob Augstein, der als erster auf die
Parallelität der Publikationen von Hessel in Frankreich und Thilo
Sarrazin in Deutschland und ihres Verkaufserfolges verwies. Von
Sarrazins Buch wurden vom Erscheinen im August bis Ende 2010 nach
übereinstimmenden Angaben der Medien 1,2 Millionen Exemplare verkauft.
Es blieb dann auf der Liste der meist verkauften Bücher zum Beispiel der
Wochenzeitung Der Spiegel bis Februar weiter auf Platz 1,
danach noch immer auf Platz 2. Damit dürfte das Sarrazin-Buch jetzt bei
etwa 1,6 bis 1,7 Millionen verkauften Exemplaren liegen. Hessels
Schrift, ebenfalls 2010 erschienen, liegt jetzt bei 1,7 Millionen
verkauften Exemplaren und wurde inzwischen in 22 Sprachen übersetzt.
Bei der Zahl der verkauften Druckschriften endet aber schon die
Ähnlichkeit. Auf der einen Seite das materialreich kompilierte Buch des
fleißigen, gebildeten deutschen Kleinbürgers, dessen Pointe das
Ressentiment, die Ausgrenzung des Fremden ist - der der Zugewanderte
oder der Arme im eigenen Land ist - und die Beschwörung der nationalen
Gefahr: Deutschland wird abgeschafft! Auf der anderen das Pamphlet des
Weltbürgers, der die Jugend nicht nur Frankreichs dazu aufruft, mit dem
derzeitigen System zu brechen und die Welt zu verändern. Größer könnte
der Unterschied nicht sein: die Ausgeburt der schlechten Traditionen
deutschen Ungeistes auf der einen und der Ausdruck der besten Züge des
französischen Revolutionsgeistes auf der anderen Seite. Ich will nicht
vereinfachen: Natürlich gibt es in beiden Ländern jeweils neben der
einen auch die andere Traditionslinie, aber dass die so
unterschiedlichen Druckschriften diesen regen Zuspruch von Käufern
finden (ob die Sarrazin-Buch-Erwerber auch Leser sind, ist wiederum eine
andere Frage; wenn man die dazugehörigen Blogs anschaut, sind hier eher
Zweifel angesagt), diese Parallelität sagt vieles über den aktuellen
Geisteszustand in den beiden Gesellschaften.
Hessel erinnert daran, dass nach der Beseitigung der deutschen Besetzung
in Frankreich 1944/45 nicht nur ein befreites Frankreich, sondern auch
ein neues, innerlich verändertes Frankreich geschaffen wurde, dessen
Umrisse in den damaligen politischen Erklärungen und Entscheidungen zum
Ausdruck kamen. Es wurde davon ausgegangen, dass eine echte Demokratie
Voraussetzungen hat: Ausschaltung des Einflusses „der großen im
Wirtschafts- und Finanzbereich bestehenden privaten Herrschaftsdomänen
auf die Gestaltung der Wirtschaft"; Gemeinwohlorientierung der
Wirtschaft; Energieversorgung, Strom und Gas, Kohlebergbau, Banken und
Versicherungsgesellschaften sollten verstaatlicht werden; Freiheit der
Presse - Freiheit von der Macht des Geldes und des Auslandes; ein
bestmöglichstes Erziehungssystem, das allen Kindern des Landes
zugänglich ist.
Das, was heute existiert ist genau das Gegenteil. „Man wagt uns zu
sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht
mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der
Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in
Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes - die so sehr
von der Résistance bekämpft wurde - niemals so groß, so anmaßend, so
egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des
Staates."
Die Empörung, die erforderlich ist, die Dinge zu ändern, ist die
Entscheidung jedes Einzelnen, aktiv und engagiert zu werden. Daraus
entsteht Stärke. „Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und
der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der
Vielen - zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit, wenn auch nicht zur
schrankenlosen Freiheit des Fuchses im Hühnerstall." Das ist eine
wahrhaft dialektische Interpretation der Geschichte: der Strom der
Geschichte führt zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit, aber er entwickelt
seine Kraft nur durch das Engagement der Vielen. Jeder einzelne jedoch
findet Sinn und Ziel seiner eigenen Entscheidung allerdings nur, indem
er sich diesem Strom der Geschichte anschließt. Und: Freiheit ist immer
auch die Freiheit der anderen - der Fuchs im Hühnerstall ist nur „frei",
indem er die Hühner fressen kann. Diese Freiheit ist dem Menschen nicht
gemäß. Das ist die „Ohne mich"-Einstellung, die nach Hessel das
Schlimmste ist, „was man sich und der Welt antun kann. Den ‚Ohne
mich‘-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen
abhanden gekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement."
Drei „Menschheitsaufgaben" werden in dem Pamphlet ausgemacht: die Schere
zwischen ganz arm und ganz reich, die Menschenrechte und der Zustand
unseres Planeten. Darunter versteht Hessel gerade auch die ökologische
Zerstörung durch die derzeitige Wirtschaftsweise. Die Lösung der
Menschheitsaufgaben kann nur auf dem Wege der Gewaltlosigkeit gelingen.
Nicht Gewalt ist das geeignete Mittel gegen die Gewalt, sondern
Gewaltlosigkeit. Die kommenden Generationen, die diesen Kampf
auszufechten haben, müssen alle Mittel der Vernetzung und Kommunikation
nutzen. Zugleich aber darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die
Massenkommunikationsmittel, über die das derzeit herrschende System
verfügt, einem wirklichen, friedlichen Aufstand entgegenstehen, weil sie
der Jugend „keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die
Verachtung der Schwächsten und der Kultur, den allgemeinen
Gedächtnisschwund und die maßlose Konkurrenz aller gegen alle". Das
zitiert er aus der Erklärung der Veteranen der Résistance und der
Kampfverbände des „Freien Frankreich" vom 8. März 2004, aus Anlass des
60. Jahrestages der Verkündung des Programms des Nationalen
Widerstandsrates. Es meint: Die Kultur des Widerstandes bedarf auch
einer anderen Ethik, die von all dem das Gegenteil ist.
Gerade kam die Mitteilung, dass in Paris eine weitere Streitschrift von
Stéphane Hessel erschienen ist. Sie heißt: „Engagiert Euch!"
Stéphane Hessel, Empört Euch! Aus dem Französischen von Michael Kogon, Ullstein Verlag,Berlin 2011, 32 S., 3,99 EUR