„Wir kritisieren den Ordnungsfaktor und fördern die Gegenmacht“

Ein Interview mit der Gewerkschaftszeitung express

Gewerkschaftsgruppen an der Basis, sozialistische Betriebsaktivist*innen und Arbeitskämpfe jenseits der bekannten Tarifrunden: Seit 60 Jahren gibt die Zeitung express Raum für Analysen, Aktionsberichte und Debatten. Zum Jubiläum interviewte die Graswurzelrevolution den express-Redakteur Torsten Bewernitz. (GWR-Red.)

 

GWR: Ihr versteht euch als Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Was genau ist damit gemeint?

 

Torsten Bewernitz: Das diskutieren wir fortlaufend. Vor allem haben wir das 2020 auch mit unseren Leser*innen debattiert, als wir eben diesen Untertitel infrage gestellt haben.

Der Untertitel ist ja historisch. Früher gab es eine real existierende „sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftspolitik“. Heute gibt es die höchstens noch in Spurenelementen; der Untertitel bezeichnet also etwas, was erst (wieder) zu schaffen wäre.

Aber nicht wir als express werden dieses Neue schaffen. Nicht wir erklären, was die Arbeiter*innen machen müssten, sondern wir bieten ihnen ein Podium. Insbesondere wollen wir auch das Medium sein, in dem sich Gewerkschafter*innen, vor allem Gewerkschaftsangestellte, frei und ohne Zensur oder Repression über ihre Gewerkschaften äußern können.

 

GWR: express hat eine 60-jährige bewegte Geschichte. Könnt ihr uns die prägnantesten Ereignisse und Entwicklungen nennen?

 

Torsten Bewernitz: Begonnen hat der express 1962 als „express international“. Die Grundidee war, die in Deutschland kaum ankommenden internationalen Gewerkschaftsdiskussionen abzubilden. Es gab damals noch einige wichtige Publikationen, die als Vorgängerzeitungen betrachtet werden könnten, vor allem die seit 1954 erschienene „Sozialistische Politik“, die 1966 zugunsten des express international ihr Erscheinen eingestellt hat, nicht zu verwechseln mit der SoPo, die 1969 bis 1978 als Zeitung der Neuen Linken in Berlin erschien (daraus entstand die ProKla); prägend war auch der „Funken“, der von 1950 bis 1959 in Ulm erschien und vor allem mit dem Namen Fritz Lamm verbunden ist.

Ein wichtiges Ereignis war die Fusion von „express international“ und der „Sozialistischen Betriebskorrespondenz“, der Zeitung des Sozialistischen Büros (SB) für das Arbeitsfeld „Betrieb und Gewerkschaft“, 1972. Daher kommt ursprünglich der Untertitel. Und daher kommt auch die bis heute bestehende Rubrik „Betriebsspiegel“. Damals berichteten dort in den Betrieben aktive Basisgruppen. Heute müssen wir für die Rubrik oft den Umweg über Gewerkschaftssekretär*innen gehen, über Einzelpersonen, und arbeiten da häufig mit Interviews.

 

GWR: Welche Themen deckt ihr inzwischen hauptsächlich ab?

 

Torsten Bewernitz: Wir decken sicher eine Menge verschiedener typisch linker Themen ab, aber sie sind bei uns immer auf Arbeit, Betrieb und/oder Gewerkschaft bezogen. Die meisten Beiträge in den vergangenen drei Jahren drehten sich in der einen oder anderen Form um Migration – einschließlich migrantischer Arbeit in der Fleischindustrie. Auf Platz 2 der Themen liegen recht allgemein prekäre Beschäftigungsverhältnisse, z. B. Lieferlogistik im Allgemeinen und Amazon im Besonderen. Platz 3 geht an die Automobil- und restliche Metallindustrie. Weitere Schwerpunkte sind Einzelhandel, Care Work und Arbeitslosigkeit/Hartz IV.

Gewerkschafts- oder branchenspezifisch dominieren die Organisationsbereiche von IG Metall und ver.di. Kein Wunder, denn das sind die Gewerkschaften mit den meisten Mitgliedern, folglich erreichen uns aus diesen auch die meisten Artikel. Es gibt ein paar Gewerkschaften, in denen wir uns engere Basiskontakte wünschen würden: vor allem die IGBCE, NGG, IG BAU – bei der GEW wird es gerade besser.

Die kleine, aber kämpferische Freie Arbeiter*innen-Union (FAU) liegt im Mittelfeld; das ist für ihre Größe im Vergleich zu anderen Gewerkschaften ganz gut.

Persönlich sehe ich thematisch Bedarf vor allem bei zwei Themen: Klima/Umwelt und Feminismus/Geschlechterverhältnisse.

 

GWR: Wie ordnet ihr euch politisch ein?

 

Torsten Bewernitz: Undogmatisch. Das klingt wie eine abgedroschene Phrase, war jedoch in der Geschichte des SB wichtig als Abgrenzung vor allem zu den autoritären K-Gruppen, aber auch zur Sponti-Szene. Historisch könnte man auch sagen „linkssozialistisch“, was, wenn ich mir die historischen Vorreiter so anschaue, bedeuten würde: „Echte“, alte Sozialdemokratie mit einem Hang zum Syndikalismus. Auch pluralistisch sind wir, denn die ehrenamtliche bundesweite Großredaktion deckt sehr viele Richtungen ab.

Dazu passt auch meine persönliche Geschichte: Ich war während meines Studiums in Münster in der Hochschulliste „Undogmatische Linke“ aktiv; für die war die zweite Zeitschrift des SB, die „links“, sehr wichtig; auch der express, den es damals im Umweltzentrum zu kaufen gab, wurde regelmäßig gelesen. Als die „links“ 1997 ihr Erscheinen auf Papier einstellte, haben wir sogar überlegt, diese zu übernehmen. Mit den Studierendenprotesten 1997 wurde gewerkschaftliches Denken für mich selber wichtig – obwohl Arbeiter*innenkind, spielte das in meiner Familie nie eine Rolle –, und ich schloss mich dem „Arbeitskreis Gewerkschaftliche Bildungsarbeit“ am Institut für Soziologie an. Dieser AK arbeitete mit dem „Erfahrungsansatz“ von Oskar Negt und damit mit einem Konzept, das direkt aus dem SB kam. Als der SB 2019 sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert hat, haben wir Zeitzeug*innengespräche aus der Hochzeit des – immer noch existierenden – SB geführt. Ein in den 1970er-Jahren aktiver Münsteraner SBler hat einen ausführlichen Erfahrungsbericht geschrieben, und da hatte ich wirklich ein Aha-Erlebnis: Seine politische Sozialisation in den 1970er-Jahren in Münster war der meinen in den 1990ern erstaunlich ähnlich. So finde ich es im Nachhinein ziemlich konsequent, 2018 hier als Redakteur gelandet zu sein. Geschrieben habe ich für den express schon vorher.

 

GWR: Mit welchen anderen Projekten und Organisationen arbeitet ihr zusammen?

 

Torsten Bewernitz: Sehr eng und kontinuierlich ist die Zusammenarbeit mit labournet. Regelmäßig arbeiten wir auch mit labournet.tv zusammen und seit kurzem mit dem Blog und Podcast „Klassenfrage“ (klassenfrage.de), außerdem lokal mit verschiedenen gewerkschaftlichen Zukunftsforen. Und wir sind als Redaktion Mitglied im Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“.

 

GWR: Wie ist euer Verhältnis zu den DGB-Gewerkschaften?

 

Torsten Bewernitz: Solidarisch-kritisch. Das Schlagwort eines Redakteurs aus den 1970ern, Eberhard Schmidt, „Ordnungsfaktor oder Gegenmacht“, beschreibt das Verhältnis bis heute sehr gut. Wir kritisieren den Ordnungsfaktor und fördern die Gegenmacht. Das heißt aber nicht, dass wir schreiben „Der DGB muss soundso handeln“ – „Müsstizismus“ nennt das ein Redaktionskollege aus dem Kreis der GoG (Gewerkschafter ohne Grenzen – Basisgruppe bei Opel Bochum, siehe den labournet.tv-Film „Luft zum Atmen“) immer –, sondern dass wir schauen, wie die „wirkliche Bewegung“ in den Betrieben denn tatsächlich aussieht. Egal, ob diese Bewegung von Aktiven der IG Metall, der FAU oder der GDL ausgeht.

 

GWR: Wie finanziert ihr euch, und wie seid ihr organisiert? Wie ist das Verhältnis von bezahlten und nichtbezahlten Mitwirkenden?

 

Torsten Bewernitz: Trägerverein des express ist die AFP, die Arbeitsgemeinschaft für politische Bildung. Neben dem express gibt die AFP die „Widersprüche“, die „Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich“ im Verlag Westfälisches Dampfboot heraus und betreut die Homepage links-netz.de, die Nachfolge der Zeitschrift „links“. Ferner verwalten wir die Geschäfte des Sozialistischen Büros, machen Veranstaltungen und vereinzelt auch Seminare.

Die Redaktion des express besteht aus einer dreiköpfigen, meist bezahlten „Sitzredaktion“ in Frankfurt, die die praktische Arbeit macht, und einer bundesweiten ehrenamtlichen Redaktion, die uns zuarbeitet und inhaltliche Wünsche formuliert – ähnlich wie der Herausge-ber*innen-Kreis der GWR. Das Verhältnis hat sich in den letzten paar Jahren deutlich verändert. Der express konnte sich bis vor Kurzem durch eine Großspende finanzieren – eine ziemlich luxuriöse Situation. Mit dem Versiegen dieser Quelle ist es deutlich schwieriger geworden: Wir sind auf Abo-Steigerungen, Spenden und Werbeeinnahmen angewiesen. Unser Spendenaufkommen ist seitdem ganz großartig gewachsen, die Werbeeinnahmen steigen, und auch die Abozahlen gehen bescheiden, aber kontinuierlich nach oben.

Auf gedruckte Anzeigen reagieren übrigens viele GWR-Leser*innen. Das ist m. E. kein Zufall, sondern hängt mit dem langen Atem beider Publikationen zusammen: GWR-Leser*innen, die den express entdecken, entdecken ihn in der Regel wieder und freuen sich, dass es uns noch gibt. Um unsere Spendenakquise zu professionalisieren, habe ich mir vor zwei Jahren bei GWR-Redakteur Bernd Drücke und Lea Susemichel, Redakteurin der an.schläge, Rat geholt. Die Tipps der beiden haben uns sehr geholfen.

 

GWR: Außer mit der Printausgabe und eurer Homepage seid ihr auch mit Veranstaltungen präsent. Welche Formate und Themen deckt ihr dabei ab?

 

Torsten Bewernitz: Aktuell präsentieren wir zwei neu erschienene Filme mit: „El Entusiasmo“ von Sabcat Media über die Geschichte des Neuaufbaus der CNT nach Francos Tod 1975 und „Der laute Frühling“ von labournet.tv über Klimawandel und Kapitalismus. Meist sind unsere Veranstaltungen Kooperationen, z. B. mit dem Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“, lokalen Zukunftsforen der Gewerkschaftslinken oder auch mit der FAU.

Unsere Jubiläumsveranstaltung am 8. Oktober 2022 in Frankfurt brachte verschiedene Organizing-Traditionen aus Gewerkschaften, aus der Sozialen Arbeit und aus sozialen Bewegungen, aber auch verschiedene Generationen zusammen.

 

GWR: Wo seht ihr euch in der Medienlandschaft?

 

Torsten Bewernitz: Ganz deutlich: Wir sind eine Fachzeitschrift mit einem klaren Schwerpunkt. Wenn wir nur irgendeine weitere linke Zeitung zwischen ak, GWR, Jungle World, neues deutschland etc. wären, bräuchte kein Mensch den express. Unser Thema ist die sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, und wir sehen, dass es eine neue, junge Szene gibt, die sich dafür interessiert – die Aktiven in Krankenhäusern, bei Lieferdiensten, aber auch bei den Mittelbau- und studentischen Hilfskräfte-Bewegungen. Ein Großteil unserer Neuabonnent*innen kommt aus diesem Spektrum. Und wir sprechen die auch konkret auf Beiträge an, denn der express ist eine Mitmach-Zeitung: Jede*r Leser*in ist potenzielle*r Autor*in. Dass diese Spektren den express als ihre Zeitung begreifen, halte ich für die entscheidende Zukunftsfrage.

 

GWR: Was ist eure Zielgruppe?

 

Torsten Bewernitz: Wir haben vier Zielgruppen. Erstens Arbeiter*innen, die sich mit betrieblichen und gewerkschaftlichen Fragestellungen, die ihren Alltag betreffen, beschäftigen wollen. Zweitens kritische und linke Betriebsrät*innen, Gewerkschaftssekretär*innen und -organizer*innen. Drittens ein akademisches Publikum, das sich für Betrieb und Gewerkschaft – oder letztlich: die Klassenfrage – interessiert. Und schließlich all jene, die sich als Organizer*innen begreifen und dies im Stadtteil oder thematisch anwenden.

 

GWR: Mit welchen Herausforderungen habt ihr zu tun?

 

Torsten Bewernitz: Zum einen müssen wir in der Zeitung all diese Zielgruppen unter einen Hut bekommen. Wir haben einerseits lange, sehr akademische, aber auch sehr interessante Hintergrundartikel, Branchenanalysen und theoretische Debatten, andererseits sehr praktische Beiträge zu (kollektivem) Arbeitsrecht, Tarifverhandlungen und -ergebnissen, Gewerkschaftsinterna. Das einigermaßen leserlich zu gestalten, ist m. E. die Hauptherausforderung.

Zudem müssen wir die sehr verschiedenen politischen Positionen innerhalb der Redaktion vereinen, ohne strittige Themen zu vermeiden. Was ist wichtiger, die große Tarifrunde bei IG Metall oder ver.di oder selbstorganisierte Arbeitskämpfe wie bei Gorillas? Das ist oftmals gar kein inhaltlicher Dissens, sondern eine strategische Frage. Jede*r von uns findet etwa die Aktionen des Gorillas Workers Collective gut und unterstützt sie, aber die Metall-, insbesondere die Automobilindustrie hat immer noch deutlich mehr Beschäftigte, und wenn sie „Spring“ sagt, springt die Politik. Ist also nicht der oftmals langweilig und altbacken wirkende IG-Metall-Tarifkonflikt gesamtgesellschaftlich gesehen relevanter als die „geilere“ direkte Aktion? Unsere Kolleg*innen vom absolut empfehlenswerten Podcast „Klassenfrage“ haben das mal damit kommentiert, dass die Mehrheit der akademisch geprägten Linken eben keine Ahnung hat, welche Alltagskämpfe und welcher Mut dazugehören, auch in einem solchen institutionalisierten Rahmen aufzubegehren.

 

GWR: Was sind eure Pläne für die nächsten Jahre?

 

Torsten Bewernitz: Überleben. Und zwar so, dass der express nicht nur als Zeitung überlebt, sondern auch die Leben derjenigen absichert, die momentan von ihm leben. Immerhin sind wir eine Gewerkschaftszeitung; gute Arbeitsbedingungen – einschließlich Lohn – gehören dazu. Eine qualitativ gute und umfangreiche Zeitung können wir nur machen, wenn wir sichere und nicht prekäre Arbeitsweisen anbieten können. Ich kann keine gute Zeitung machen, wenn ich nebenbei noch zwei andere Jobs habe. Außerdem: Wie sollen wir andere motivieren, sich gegen Überausbeutung zu wehren, wenn wir uns selbst überausbeuten?

Konkret heißt das: Abo-Stamm stabilisieren auf einem 50-prozentig höheren Niveau, Homepage und Online-Zugang professionalisieren, Redaktionsnachwuchs gewinnen – und zwar vor allem einen mehrgeschlechtlichen und keinen überwiegend männlichen.

Inhaltlich konzentrieren wir uns aktuell auf die Frage, wie sich die verschiedenen Organizing-Perspektiven miteinander vermitteln lassen und mit welchem Ziel denn eigentlich. Erstens sehen die Ansätze in den verschiedenen Gewerkschaften sehr unterschiedlich aus – ver.di und IG Metall kriegen kaum voneinander mit, was sie da jeweils konzipieren, von anarchosyndikalistischen Ideen ganz zu schweigen. Auch die Soziale Arbeit wendet seit den 1970er-Jahren Organizing an und in jüngster Zeit immer mehr politische Initiativen, von der Linkspartei bis zur Stadtteilgruppe. Wir wollen das miteinander vermitteln – gerne auch kontrovers – und in den Kontext unserer eigenen historischen Konzepte stellen. Konkret sind das der Arbeitsfeldansatz des SB, der Erfahrungsansatz von Oskar Negt und das Vertrauensleute-Konzept, das die „express international“-Redaktion Anfang der 1970er erarbeitet hat.

Inhaltlich weiter planen können wir gar nicht: Wir sind ja keine Staatssozialist*innen mit Fünfjahresplan. Damit würden wir auch den Bezug zur „wirklichen Bewegung“ verlieren. Denn man kann zwar in einer Bewegung planen, aber man kann keine Bewegung planen.

 

GWR: Vielen Dank für das Interview – und viel Energie für die nächsten 60 Jahre!

 

Interview: moku

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 474, Dezember 2022, www.graswurzel.net