Der Fall Willem Albertus Polak

Vor über 25 Jahren entschuldigte sich Nordrhein-Westfalens Premier Johannes Rau dafür, als früherer Wissenschaftsminister den ehemaligen SS-Offizier Hans Schwerte zum Beauftragten für die Zusammenarbeit mit den niederländischen und belgischen Hochschulen ernannt zu haben. Und Bundeskanzler Helmut Kohl entschuldigte sich kurz darauf bei einem Besuch im Nachbarland für die Zerstörung Rotterdams durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg.

Das war alles sehr ehrenwert, aber halbherzig, denn bis heute hat sich beim niederländischen Nachbarn niemand dafür entschuldigt, dass es im Jahr 1953 ein skandalöses Urteil gab, das die Auslieferung des Kollaborateurs Willem Albertus Polak verhinderte. Ein rechtsstaatliches Beispiel, wie die bundesdeutsche Justiz Nazi- und Kriegsverbrecher in großem Stil schützte.

Der Niederländer trat zur Zeit der deutschen Okkupation freiwillig in die Waffen-SS ein und beteiligte sich an Gräueltaten. Er war an mindestens vier Morden beteiligt und schoss dreimal auf Landsleute. Am 4. August 1944 ermordete er zusammen mit dem SS-Mann Bart Slop in Beemster den 50-jährigen Landwirt Dirk Ubbels. Bewiesen wurde, dass Polak einen Widerstandskämpfer an dessen Haustür niederstreckte.

Am 1. Januar 1949 verurteilte ihn der Sondergerichtshof in Amsterdam wegen Mordes und Beihilfe zum Mord, begangen an niederländischen Bürgern im Rahmen deutscher „Vergeltungsmaßnahmen“, zum Tode. Das Urteil wurde am 12. November 1949 in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt.

Polak gelang es, zu Weihnachten 1952 gemeinsam mit sechs anderen Kriegsverbrechern aus dem Gefängnis in Breda zu fliehen – in die Bundesrepublik. Zu seinen Kumpanen zählten Hubertus Bikker, den man ob seiner „Verhörmethoden“ den „Henker von Ommen“ nannte, und Klaas C. Faber, der seinen Dienst im KZ Westerborg verrichtete. Einst holländisches Internierungscamp, wurde es durch die Gestapo ab 1942 zu einem Durchgangslager für jene umfunktioniert, die man in Auschwitz „sonderbehandelte“.

In der Alt-BRD aufgespürt, verlangten die niederländischen Behörden die Auslieferung der Entflohenen. Es begann nun ein langer Rechtsstreit, ob die deutsche Staatsangehörigkeit durch freiwillige Zugehörigkeit zur Waffen-SS erworben wurde oder nicht. Auslieferung oder Nichtauslieferung? Das war die Frage, die die Richter quälte – zunächst die am Oberlandesgericht (OLG) Celle, in dessen Zuständigkeitsbereich die Sache fiel, dann auch die am 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofes. Letzterer behandelte mit Beschluss vom 29. Dezember 1953 (Aktenzeichen 4 ARs 47/53) den Fall abschließend, wobei als Rechtsgrundlage ein „Führererlass“ vom 19. Mai 1943 (Bundesgesetzblatt I, S. 315) hinzugezogen wurde. Dieser hatte verfügt, dass jeder, der freiwillig in die Waffen-SS eintritt, automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalte.

Mit formal-juristischen Konstruktionen und advokatischen Winkelzügen wurde nun erläutert, warum der „Führererlass“ innerstaatliches Recht sei: „Nach einem allgemeinen staatsrechtlichen Grundsatz ist die formelle Gültigkeit von Gesetzen nach dem zur Zeit ihrer Verkündung geltenden Verfassungsrecht zu beurteilen. Bedeutungslos ist, in welcher Weise dieses geschaffen worden ist, ob die Staatsgewalt, auf der es beruht, rechtmäßig oder widerrechtlich durch gewaltsamen Umsturz begründet wurde. Entscheidend ist nur, ob sie sich bis zur verfassungsmäßigen Macht und Anerkennung innerhalb des eigenen Landes und in den rechtlichen Beziehungen zu anderen Staaten durchgesetzt hatte. Daran kann für die Diktatur Hitlers nicht gezweifelt werden.“ Zudem, hieß es, handele es sich beim „Führererlass“ nicht um einen Missbrauch staatlicher Machtfülle zur Schaffung von Unrechtstatbeständen, also um eine sogenannte „despotische Norm“, denen eine rechtsstaatliche Ordnung jede Anerkennung versagen müsste. Bemerkenswert auch die Begründung: „Die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit bezweckte nur den Schutz von Ausländern, die dem damaligen Staat persönlich wertvolle Dienste leisteten.“

Punktum also: Polak ist Deutscher, er wird nicht ausgeliefert! Man fand die Sache sogar so wichtig, dass der Beschluss in den „Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen“, Band 5 (Köln/Berlin 1954), als Richtlinie für ähnliche Fälle veröffentlicht wurde).

In der Schrift „Wir klagen an“, 1959 in der DDR herausgegeben vom „Ausschuss für Deutsche Einheit“, kann man finden, wer damals alles im Rechtswesen der Bundesrepublik aktiv war und warum der „alte Kamerad“ Polak geschützt werden musste. Allein das damalige Gerichtswesen von Celle verrät den Geist, der in den Amtsstuben und Gerichtssälen herrschte. Am Oberlandesgericht Celle fungierten als Senatspräsident Dr. Otto Wöhrmann und als Oberlandesgerichtsrat Dr. Heinz Rausch.

Nach einer Aufzeichnung des Oberstkriegsgerichtsrates beim Militärbefehlshaber in Frankreich vom 5. Dezember 1941 wurde Dr. Wöhrmann „bei dem Gericht des Kommandanten von Groß-Paris als Abteilungsleiter des Sonderdezernats Spionage, Feindsbegünstigung verwendet und hat dort seine Fähigkeiten bewiesen“. Außerdem heißt es darin: „Dr. Wöhrmann ist Parteimitglied und seine politische Haltung bietet die Gewähr dafür, dass er jederzeit rückhaltlos für den Führer und den nationalsozialistischen Staat eintreten wird.“

Dr. Rausch war bereits 1933 Sturmbannführer der SS. Über seine Tätigkeit am Sondergericht Magdeburg geht aus einer Beurteilung des Oberlandesgerichts Magdeburg von 1943 hervor: „Er war […] ein rascher Arbeiter, der seine Urteile sehr pünktlich abgab, dem es auch nicht an Entschlusskraft fehlte.“ In der Tat, Rausch erfüllte seine Aufgabe prächtig: Mit großer „Entschlusskraft“ hat er Nazigegner zügig und erbarmungslos abgeurteilt…

Übrigens ist Polak 1959 dann doch noch vor dem Landgericht Lüneburg wegen Mordes angeklagt worden. Das Verfahren endete mit einem Freispruch, da die Richter, wie zu erwarten, keine Mordmerkmale feststellen konnten und fanden, dass die Weigerung zum Erschießen eine Gefahr für Polak bedeutet hätte.

So starb Polak am 4. Mai 1993 in Hannover als ehrenwerter Mensch.