Thesen zur Koinzidenz von Symbolwert und Marktwert der Kunst

Verleitet von der Kontrastfolie der scharfen Baisse des Kunstmarkts in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, die in engem Zusammenhang mit der japanischen Bankenkrise dieser Zeit zu sehen ist, wurde während des Booms in den beiden ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts die relative Autonomie des künstlerischen Feldes in Frage gestellt. Isabelle Graw etwa, Herausgeberin der Zeitschrift Texte zur Kunst und eine der führenden Kunstkritikerinnen, wird nicht müde festzustellen, dass die von Pierre Bourdieu nicht nur postulierte, sondern auch als Realität unterstellte relative Autonomie des künstlerischen Feldes seiner „relativen Heteronomie“ Platz gemacht habe.[1] Und der Autonomiethese des Symbolwerts wird von der als Wissenschafts- und Kunstsoziologin bekannt gewordenen Diana Crane[2] folgender Satz entgegengehalten: „Prices now determine reputations.“ Diesen Satz entnahm sie zustimmend dem Text eines namhaften Kunstkritikers, Calvin Tomkins.
Der von Tomkins, Kritiker des New Yorker, auf dem Höhepunkt des Kunstmarktbooms im Jahre 2007 formulierte Satz war allerdings nicht verallgemeinernd gemeint. Er bezog sich nicht auf das gesamte Kunstfeld, sondern vielmehr auf den Pol einer Achse, die an die horizontale Dimension in Bourdieus Modell des künstlerischen Feldes erinnert: „At the other end of the scale, where hedge-fund collectors compete for the same ten or twelve celebrity artists
[…], prices now determine reputations.“[3] An diesem Pol tummeln sich in jüngerer Zeit superreiche Sammler*innen, welche in finanzmarkttypischen Sphären rasch zu Geld gekommen sind und dieses zum Teil in Kunst mit Investment-Qualität anlegten. Die an diesem Pol präferierte „bürgerliche Kunst“ neuen Typs, von Lisa Yuskavage bis zu Damien Hirst,[4] kontrastierte Tomkins mit einer jenseits des Marktes zu verortenden Spielart von Kunst. Sie kann dem Subfeld der „eingeschränkten Produktion“ im Sinne von Bourdieu zugerechnet werden bzw. der „dissidenten Kultur“ im Sinne von Mary Douglas, wie die Beispiele verdeutlichen, welche Tomkins für „the other end of the scale“ nennt: die „Art-Parade“ in New Yorks Soho oder Künstler*innen wie die Dazzle Dancers, Kembra Pfahler and the Girls of Karen Black oder die Malcolm X Shabazz High School Band.


Die These von der Determiniertheit des ästhetischen Wertes durch den Marktwert

Auch in einer allgemeineren Form wird die These einer Determinierung des ästhetischen Werts durch den Marktwert vertreten, insbesondere in der ökonomischen Literatur. Dort wird nicht selten eine Art Identität von ökonomischem und ästhetischem Wert unterstellt. So etwa in William Grampps Studie Pricing the Priceless– einem Standardwerk der Kunstökonomik aus der Zeit des Kunstmarktbooms der 1980er Jahre: „To say that economic value is ‚consistent‘ with aesthetic value is to say no more than that the particular comes with the general, or that aesthetic value is a form of economic value just as every other form of value is.“[5]Grampps Annahmen exemplifizieren zugleich das in der Literatur als „Nothing But“ bezeichnete Modell des Kunstmarkts. Mit „Konsistenz“ von ökonomischem und ästhetischem Wert ist letztlich gemeint, dass der ästhetische Wert „nichts anderes“ sei als der Marktwert. Die Bewertung ist in diesem Fall entgegengesetzt zu der von Crane, aus deren Analyse unverhüllte Aversionen gegen Kommerzialisierungstendenzen sprechen.

Pluralität, Polyphonie oder multiple Segmentierung des Kunstfeldes
Eine grundsätzliche Alternative zum Monismus eines Grampp ist in Theorien zu sehen, welche von Pluralität, Polyphonie oder multipler Segmentierung des Kunstfeldes ausgehen. Ihre agonistischen Spielarten kontrastieren Kunst und Ökonomie bzw. Markt und exemplifizieren damit jene differenzierungstheoretischen Modelle des Kunstfeldes, die im Anschluss an Viviana Zelizer mit dem Label „hostile worlds“ versehen werden.
[6] Grampp beschränkte sich nicht auf spekulative Annahmen. Er ließ vielmehr statistisch den Zusammenhang von Marktwert und ästhetischem Wert berechnen, wobei letzterer indirekt, nämlich über die Reputation von Künstler*innen ermittelt wurde. Als Datenquelle fungierte der von seinem Erfinder Willi Bongard als „Weltrangliste“ der Kunst bezeichnete Kunstkompass, der seit 1970 mit einer Unterbrechung von 2008 bis 2017 im deutschen Wirtschaftsmagazin Capital veröffentlicht wird. In die eine Seite der Regressionsgleichung gingen die Index-Punktzahlen der Top-100 Künstler*innen des Kunstkompass ein,[7] in die andere die Preise für „repräsentative“ Arbeiten dieser Künstler*innen: „The two numbers invite a statistical analysis because the point value of each artist is an indication of the aesthetic value of his work, and the price of a representative work is of course its economic value. […] The correlation was far from perfect; but the results did show that as the number of points increased 10 percent, the price of the representative work increased 8 percent.“ An erklärter Varianz ergab sich R2 = 25%.[8] Die mit diesem bivariaten Modell für das Spitzensegment von lebenden internationalen Künstler*innen dieser Zeit durchgeführte Analyse konnte ein Gros der Varianz nicht erklären, nämlich 75%. Dieser für einen Zusammenhang auf Aggregatebene hohe Anteil, welcher Zufall, Messfehlern sowie in der Gleichung nicht berücksichtigten Erklärungsfaktoren zugeschrieben werden muss, hielt Grampp jedoch nicht ab, den Zusammenhang von Markt- und Symbolwert weiterhin in einer deterministischen Sprache zu artikulieren: „economic value, strictly speaking, is the general form of all value, including that which is aesthetic.“[9]
Während Grampp seine Daten zugunsten der These von der Marktdeterminiertheit des ästhetischen Werts interpretierte, findet sich bei Crane kein empirischer Beleg für die von ihr als historische These vertretene Annahme, wonach der symbolische Wert sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts als eine Funktion des Marktwerts darstelle. Für eine nicht bloß verbale Abschätzung von Wirkungen der Preise auf die Reputation von Künstler*innen bzw. den ästhetischen Wert ihrer Arbeiten hätte sie allerdings auch Indikatoren für diese abhängigen Variablen berücksichtigen müssen.[10]

Die These von der Persistenz einer entlang der Autonomieachse polarisierten Struktur
Den teils affirmativen, teils kritischen Marktdeterminist*innen stehen Autor*innen gegenüber, denen der Glaube an die symbolische Kraft bzw. den durchschlagenden Signalwert von Marktpreisen im Kunstfeld fehlt. So hält Nathalie Heinich diese aus zwei Gründen nicht für einen validen Indikator für den Symbolwert von künstlerischen Arbeiten: Angesichts der schwindelnden Höhe, welche die Preise teilweise erreichen, brächten sie lediglich fiktive Differenzen zum Ausdruck. Außerdem würden sie zu starken Schwankungen in Folge der regelmäßigen Auf- und Abschwung-Phasen des Kunstmarkts unterliegen.
[11] Auch der Anthropologe Stuart Plattner, selbst ein aus der Cooper Union in New York hervorgegangener Künstler, vertritt keine ökonomistische Position. Herausragende Kunst erziele keineswegs immer auch einen hohen Marktwert: „But art is a strange commodity; aesthetic excellence does not necessarily make for marketability. Art that experts agree is of high quality and significantly avant-garde does not always command high prices and often is not saleable at all. This paradox underlies behavior in the art market.“[12] Ein hoher Marktpreis sei deshalb kein brauchbares Indiz für Qualität, da über diese das Urteil der Zeit entscheide.
Während es sich dabei, ähnlich wie bei Crane, jedoch um Einschätzungen ohne systematische empirische Belege handelt, unterzog Larissa Buchholz die Annahme der historischen Persistenz einer entlang der Autonomieachse polarisierten Struktur erstmals einem systematischen empirischen Test für die zeitgenössische Kunst.
[13] Dabei elaborierte sie die Unterscheidung zwischen „Art World“ und „Art Market“, so wie Annamma Joy und John F. Sherry diese Begriffe gebrauchen,[14] für das globale Feld der Kunst unter Rekurs auf Max Weber und eine revidierte Feldtheorie von Bourdieu. Demgemäß wird in dieser auf die globale Elite zeitgenössischer Kunst konzentrierten empirischen Studie der diskursiv-symbolische „Art World“-Pol des künstlerischen Feldes als eine Domäne von Statusgruppen im Sinne von Max Weber interpretiert. Dieser stehe – so lässt sich ein Aspekt der These der Soziologin zusammenfassen – zum kommerziellen Pol in einem inversen Verhältnis, ähnlich wie „Stand und Klasse“ bzw. „ständische Lage“ zu „Marktlage“ im Sinne von Webers Kontrastierung von prestigebasierter bzw. charismatischer Ordnung und marktbasierter Sphäre. Mit Hilfe von Cluster-Analysen der transnationalen Karrieren von globalen Elite-Künstler*innen konnte diese feldtheoretische Studie den Nachweis erbringen, dass zwischen den beiden Wertsphären nach wie vor eine beträchtliche Kluft besteht. Markante Differenzen werden empirisch etwa an den differentiellen vertikalen Mobilitätschancen für nicht-westliche Künstler*innen greifbar. So unterliegt der Marktpol in deutlich geringerem Maße „ständischer“ Schließung, u. a. nach geographischen und ethnischen Kriterien.
Die quantitativen Analysen von Buchholz beruhen auf Auktions- und Reputationsdaten von 2007, dem Jahr des Höhepunkts des ersten Kunstmarktbooms des 21. Jahrhunderts. Wenn Künstler*innen, die gemessen an ihrer Position in den Rankings des britischen Webportals Artfacts.Net[15] über ein hohes Maß an Reputation verfügen, in dieser Zeit in anderen Clustern situiert sind als viele der am Markt erfolgreichsten Künstler*innen, so lässt dies nicht zuletzt folgenden Schluss zu: die relative Unabhängigkeit des Symbolwerts vom Marktwert hat auch den historisch jüngsten Ökonomisierungs- und Globalisierungsschub im Feld der zeitgenössischen Kunst überlebt.




Dieser Text ist ein übersetzter Ausschnitt aus einem ausführlichen Aufsatz zum Thema, der unter dem Titel Valuation Beyond the Market. On Symbolic and Economic Value in Contemporary Art in Karen van den Berg und Ursula Pasero (Hg.), Art Production Beyond the Art Market, Berlin 2013, 100–149 auf Englisch erschienen ist.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 59, Winter 2021/22, „Der Wert der Kunst“.

Steffen Rudolph ist Kulturwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department Information sowie Leiter der Open-Access-Publikationsservices an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.

Ulf Wuggenig ist Soziologe und Dekan der Fakultät Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg.

 

[1] Isabelle Graw, Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Culture. Köln 2008.

[2] In der Kunstsoziologie trat Diana Crane, die spätere Präsidentin der Sektion „Sociology of Culture“ der American Sociological Association, hervor mit der Studie The Transformation of the Avant-Garde. The New York Art World, 1940-1985. Chicago 1987.

[3] Calvin Tomkins, „A Fool for Art: Jeffrey Deitch and the Exuberance of the Art Market, in: The New Yorker vom 12. 11. 2007, 64–75, hier 71.

[4] Vgl. Ulf Wuggenig, „An der goldenen Nabelschnur“, in: Texte zur Kunst, 2011, 21 (83), 56–75.

[5] William Grampp, Pricing the Priceless. New York 1989, 20 f.

[6] Vgl. Viviana Zelizer, „The Purchase of Intimacy“, in: Law and Social Inquiry, 2000, 25 (3), 817–848 und im Anschluß daran Erica Coslor, „Hostile Worlds and Questionable Speculation: Recognizing the Plurality of Views about Art and the Market“, in: Donald Wood (Hg.) Economic Action in Theory and Practice: Anthropological Investigations. Bingley 2010, 209–224.

[7] Zur Erfassung des „Ruhms“ von Künstler*innen wurden unter Berufung auf die im „Kunstbetrieb“ gängigen Praktiken der direkten und indirekten Bewertung von Künstler*innen drei Arten von Kriterien herangezogen: a) Anschaffungen von Arbeiten durch Museen, b) Präsenz in Ausstellungen, jeweils gewichtet nach dem Renommee dieser Institutionen, und c) Präsenz bzw. Würdigung in einschlägiger Literatur, vor allem in rund 30 berücksichtigten Büchern bzw. Katalogen. Vgl. Willi Bongard, „Zu Fragen des Geschmacks in der Rezeption bildender Kunst der Gegenwart“, in: Alphons Silbermann, René König (Hg.), Künstler und Gesellschaft, Sonderheft 17 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1974, 250–264, hier 252.

[8] Grampp, 1989, a.a.O., 33. Unklar bleibt, ob sich die vorgefundene empirische Korrelation auf ein einziges Jahr in der Zeit des Kunstmarktbooms der 1980er Jahre bezieht oder aber auf mehrere Jahre oder gar den gesamten Zeitraum der Existenz des Kunstkompass seit 1970 bis in die 1980er Jahre.

[9] Grampp, 1989, a.a.O. 34.

[10] So listet eine Tabelle in Crane 2009, a.a.O. die 16 am Auktionsmarkt erfolgreichsten Künstler*innen des Jahres 2008 auf, eine zweite wiederum alle Künstler*innen, für die 2008 für mindestens eine Arbeit ein Preis von mehr als 1 Million Dollar am Auktionsmarkt erzielt wurde. Selbst eine Auflistung der Reputation dieser Künstler*innen fehlt, von einer bi-variaten Matrix ganz zu schweigen.

[11] Vgl. Nathalie Heinich, Sociologie de l’art. Paris 2004, 65.

[12] Stuart Plattner, „Profit Markets and Art Markets.“ In: Angelique Haugerud, M. Priscilla Stone, and Peter D. Little (Hg.), Commodities and Globalization: Anthropological Perspectives. Lanham et al. 2000, 113134, hier 114.

[13] Larissa Buchholz, Global Rules of Art. New York 2012 (Diss., Columbia University, Department of Sociology), 118ff.

[14] Diese Autor*innen machen die Differenzen zwischen den Subfeldern an Diskursen wie an Agent*innen bzw. Akteur*innen fest. Der „Art World“ ordnen sie „artists, art critics, historians and curators“ zu, dem „Art Market“ hingegen „art dealers, art galleries, auction houses, and by implication, the stock market“. Joy Annamma und John Sherry Jr, Disentangling the Paradoxical Alliances between Art Market and Art World, in: Consumption, Markets and Culture, 2002, 6 (3), 155182, hier 155. Dieser Begriff von „Art World“ ist nicht mit dem stärker verbreiteten von Howard S. Becker, Art Worlds. Berkely, Los Angeles, London 1998 zu verwechseln.

[15] Artfacts.Net bewertet ähnlich dem Kunstkompass die Reputation von Künstler*innen auf Basis ihrer Ausstellungstätigkeit, wobei neben dem unterschiedlichen Renommee der Ausstellungsinstitution insbesondere auch das Ranking der anderen mitausstellenden Künstler*innen in die Berechnung eingeht. Der konkrete Algorithmus zur Berechnung ist nicht öffentlich zugänglich.