Das Kolonialarchiv verschlingt die Wörter der Untersuchten

 

Akustische Aufnahmen bleiben nicht nur oft ungehört. Sie sperren sich auch gegenüber dem Gesagten, wenn sie im Kontext kolonialer Wissensregime produziert wurden und rezipiert werden. Über das Verschlingen der Wörter und ihrer Bedeutung im Archiv.

 

Im Kolonialarchiv kommen Wörter abhanden. Was die Systematik des Abhandenkommens betrifft, ist die Frage hier nicht so sehr welche, sondern vielmehr wessen Wörter absent sind. Wenn nicht Sammlungen abbrennen oder Archivgebäude zusammenbrechen, also keine äußere Gewalt den Verlust ausgelöst hat, sind vor allem die Wörter derjenigen absent, denen die koloniale Wissensproduktion schon zu Lebzeiten keine Position als SprecherInnen zugestanden hat. Da es hier um historische Tonaufnahmen als Teil des Kolonialarchivs gehen soll, spreche ich nicht von Wörter und Sätzen, die nicht gesagt wurden, oder die nicht dokumentiert wurden. Es geht hier um das, was tatsächlich akustisch – zum Beispiel phonografisch – aufgenommen wurde und jetzt trotzdem nur schwer oder nicht auffindbar ist. Obwohl die Absenz dieser Wörter nicht absolut ist, sind sie kaum in Historiografien zu finden, befinden sie sich selten im öffentlichen Raum, sind kaum übersetzt worden und bleiben insgesamt unbekannt. Historische Tonaufnahmen als Teil der kolonialen Wissensproduktion, die in akustischen Sammlungen in (zumeist) westlichen Archiven aufbewahrt werden, sind bisher zu selten in die Öffentlichkeit geraten, im Unterschied zu den Bildern derjenigen, die als die (außereuropäischen) Anderen markiert worden waren, und den Texten der Forschenden über diese Anderen
Die koloniale Wissensproduktion, und damit das Archiv, haben nicht lediglich die randständigen, unverständlichen oder unaufgefordert gesprochenen Worte verschwinden lassen. Sie haben paradoxerweise auch diejenigen Wörter unterschlagen, die als Sprachbeispiele für in Europa noch wenig bekannte Sprachen aufgenommen wurden. Das Kolonialarchiv hat diese gesprochenen Wörter und Sätze in der Vergangenheit verstummen lassen, doch sind die Prozesse des Verlierens, Verlegens, Verschlingens nicht abgeschlossen. Ihrem Abhandenkommen im Archiv ging oft eine Aufnahmesituation voraus, die als Teil der kolonialen Wissensproduktion von rassistischen Grundannahmen und Haltungen geprägt war und in asymmetrischen Machtgefügen operierte, beziehungsweise diese generierte. Die sich wiederholende Szene des Sprechens in den Phonografen, in der die InformantInnen zwar aufgefordert wurden zu sprechen, aber von den Aufnehmenden nicht als gleichberechtigte SprecherInnen verstanden wurden, lässt sich mit Jacques Rancières Begriff des Unvernehmens (mésentente) beschreiben.[1] Das Unvernehmen oder die Unstimmigkeit in der Sprechsituation der kolonialen Wissensproduktion ist der Moment, in dem Wörter zum Beispiel für Sprachforschungen aufgenommen wurden, d.h. von den Aufnehmenden durchaus als Sprache wahrgenommen, aber von ihnen nicht als semantisch bedeutungstragend, oder als Erwiderungen zu dieser Wissensproduktion gehört wurden. Die Unfähigkeit oder der Unwille, beispielsweise Kommentare als solche zu vernehmen, war demnach nicht allein an eine Sprachbarriere gekoppelt, sondern hauptsächlich eine Folge der Asymmetrie im Verhältnis zwischen den ForscherInnen und den SprecherInnen. Diese Unstimmigkeit in Momenten der Sprech- und Aufnahmesituation, in denen die Worte der Untersuchten, meist nach fantasierten ‚Rassenkriterien‘ kategorisierten Menschen von den Aufnehmenden nicht gehört wurden oder ihre Äußerungen für unwichtig gehalten und beiläufig oder absichtlich unterschlagen wurden, wirkt bis in die Gegenwart nach, weil sie die Praktiken des Archivierens bestimmt hat. So wurde zum Beispiel die Bitte des senegalesischen Kriegsgefangenen Abdoulaye Niangs, nicht deportiert zu werden, die im Lager Wünsdorf (1917) aufgezeichnet wurde, der Logik der kolonialen Wissensproduktion folgend, im Lautarchiv in Berlin als ein von semantischem Sinn bereinigtes Sprach- und Musikbeispiele registriert[2]. Kritische Aussagen von SprecherInnen sind in vielen akustischen Aufnahmen zu finden, doch erscheinen sie auch heute kaum in den Registern der Archive. Diese Prozesse des Verlierens oder Verschlingens der Wörter oder der Wortbedeutungen im Kolonialarchiv, zu dem viele Tonarchive gehören, sind Folgen des Zusammenspiels der selektiven Taubheit der kolonialen Wissensproduktion, die die Äußerungen der Untersuchten nicht als solche hörte, mit dem zähen Nachleben oder vielmehr dem ungehinderten Fortleben der Kolonialität in den Archiven und Museen. 
Seit der Einführung der Phonografie Ende des 19. Jahrhunderts wurden unermesslich viele Wörter akustisch aufgenommen: als Lieder, Erzählungen, Geschichten, als Gedichte, Gebete, als inszenierte Dialoge, Sprachbeispielsätze, Zahlenreihen und als Beispiele für Tonhöhen. Aufnahmen wurden zur Untersuchung von Sprachen, von Musik und zur Erforschung der Erzähltraditionen nichtwestlicher Kulturen produziert. Durch die Praxis der Tonaufnahme wurden eigentlich ephemere, aber vielleicht auch mehrdeutige Sprechakte zu stabilen Objekten auf (relativ) haltbaren Tonträgern. Die historischen Aufnahmen stammen oft aus ehemals kolonisierten Ländern, doch auch Völkerschauen in den Zentren der kolonialen Metropolen, und Kriegsgefangenenlager waren Orte für Tonaufnahmen. Die Tondokumente lagern als Sprach- oder Musikbeispiele in den Archiven, etwa in Phonogrammarchiven in Wien und Berlin und an vielen anderen Orten. Diese Aufnahmen werden bis heute selten am Ort ihrer Herstellung aufbewahrt. Sie befinden sich also kaum dort, wo sie auf die nötige Sprachkompetenz treffen würden, wo man sie leicht verstehen könnte, wo Genres identifiziert, der performative Gebrauch der Stimme gehört würde und Erzählungen und Lieder einem spezifischen Repertoire zugeordnet werden könnten. 
Diesen Umstand haben auch die (noch immer) sporadischen Restitutionen der letzten Jahre – in Form von CDs oder digitalen sound files – nicht wirklich verändern können. Die Digitalisierung von historischen Tonaufnahmen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts produziert wurden, hat die Bestände von Tonarchiven zwar transportabel und damit mobiler gemacht, als sie es als Schallplatten oder Wachszylinder waren, und damit Übersetzungen und Analysen außerhalb der Archive ermöglicht. Doch ist die Existenz dieser Aufnahmen in den Herkunftsländern der SprecherInnen bisher nicht erheblich bekannter geworden.
In den Tonarchiven sind die gesprochenen, aufgenommenen, also immer für die Aufnahmen artikulierten, nie zufällig konservierten, und schon gar nicht ‚gesammelten‘ Wörter und Sätze zwar akustisch vorhanden, doch sind sie auf unterschiedliche Weisen absent: Sie sind selten übersetzt, nicht transkribiert, sie können als gesprochene oder gesungene, performative Texte in Registern oft nicht gefunden werden, weil die Katalogisierung der Aufnahmen ihre Bedeutung nicht oder falsch wiedergibt und weil die Suchbegriffe, nach denen sie angeordnet sind, denen der kolonialen Wissensproduktion weiterhin entsprechen.[3]
Die Absenz der gesprochenen Texte derer, die oft auch anthropometrisch erfasst, fotografiert, gemessen und beschrieben wurden, folgt der Ordnung der kolonialen Wissensproduktion, in der diejenigen, die durch diese Abbildungs- und Beschreibungspraktiken als Andere markiert wurden, entweder visuell repräsentiert wurden oder in den Texten der ForscherInnen erscheinen, aber nicht mitsprechen durften. Ihre Stimmen, die akustischen, aber auch die politischen Stimmen – und das ist oft nicht dasselbe – sind selten zu hören. Und weil die aufgenommenen, archivierten, bewahrten, oft schon digitalisierten Wörter in den Archiven schwer zu finden sind, sind sie nicht systematisch zugänglich, wenn es darum geht, Kolonialgeschichte zu schreiben, von kolonialer Wissensproduktion zu sprechen oder sich den Positionen der Untersuchten anzunähern. In die lange Diskussion zur Geschichtsschreibung auf der Basis des Kolonialarchivs, also der Texte der Kolonialbeamten, der AnthropologInnen und RassenforscherInnen, der Militärs, der Missionare und AbenteurerInnen, der Masse von rassifizierenden und objektivierenden Abbildungen, und in Bezug auf die Frage nach der Zugänglichkeit subalterner Sprechpositionen, die, lange bevor sie Europa erreicht hat, beispielsweise in Südafrika und in/zu Südostasien geführt wurde, sind die Tonarchive der kolonialen Wissensproduktion bisher nicht einbezogen worden. 
In der Diskussion über das Kolonialarchiv ist das Archiv also zumeist (akustisch) stumm geblieben. Dafür sind verschiedene Gründe denkbar, zum Beispiel die akademische Vorliebe für schriftliche Quellen, in deren Folge auch die kolonialen Bildarchive lange vernachlässigt wurden. Oder die Absenz der Tonarchive außerhalb Europas und deren schlechte Zugänglichkeit von den Ländern aus, in denen mündliche Weitergabe von Wissen durchaus als relevant angesehen wird. Dazu kommen die bereits beschriebenen Folgen des Unvernehmens bei der Produktion und in der nachfolgenden Archivierung der Aufnahmen, die zum Verschwinden der Äußerungen der SprecherInnen in den Registern der Tonarchive geführt haben. 
Jedenfalls werden historische Tonaufnahmen, anders als Fotografien, bisher nicht systematisch als Quellen für koloniale Geschichte gehört und behandelt. Im Gegensatz zu den vielleicht zugänglicheren Texten und Fotografien des Kolonialarchivs haben sie den öffentlichen Raum – etwa die Museen oder die Kunstausstellungen – kaum erreicht, und wenn sie gespielt wurden, dann meist als akustische Tapete, als ambient sound ohne Text. 


Dieser Text ist ein Auszug aus: Kolonialgeschichte hören. Das Echo gewaltsamer Wissensproduktion in historischen Tondokumenten aus dem südlichen Afrika. Wissensproduktion. Wien 2020 (Mandelbaum Verlag).

Erschienen in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Nr. 67, Winter 2023/24, „Laute(r) Worte“.


Anette Hoffmann arbeitet zu historischen Tonarchiven, zu Kolonialgeschichte und kolonialer Wissensproduktion am Institut für Afrikanistik und Ägyptologie der Universität Köln (anettehoffmann.com). Ihr Buch Knowing by Ear (Duke University Press) erscheint in Frühjahr 2024. 

 


 

[1] Jacques Rancière, Das Unvernehmen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 10f.; Ruth Sonderegger, „What  One Does (Not) Hear: Approaching Canned Voices Through Rancière“, in: Anette Hoffmann (Hg.): What We See: Reconsidering an Anthropometrical Collection. Images, Voices and Versioning, Basel: Basler Afrika Bibliographien 2009, S. 58–84.

[2] Anette Hoffmann, Knowing by Ear. Listening to Voice recordings with African Prisoners of War in German Camps (1915-1918), erscheint im Frühjahr 2024.

[3] Siehe zum Beispiel die Sammlung des Berliner Lautarchivs oder des Phonogramm-Archivs in Berlin.