Der Zeit die Stirn bieten

Eine neue Möglichkeit, Heinrich und Thomas Manns Engagement für Zusammenhalt aufzunehmen

Dies war meine Art, lieber Heinrich, den letzten drei Jahren die Stirn zu bieten“, las Heinrich Mann in „Joseph der Ernährer“, als Bruder Thomas ihm im Oktober 1936 sein neuestes Werk schickte. „So viel Vertiefung und Beständigkeit sind unzweifelhaft die allerrühmlichste Art, den Zeiten zu begegnen“, beeilte er sich zu antworten. Gut drei Jahre zuvor waren Beiden die Grundlagen ihrer bisherigen Existenz entzogen worden. Keine drei Jahre später ging die Zerstörung der europäischen Zivilisation und Kultur, in denen sie wurzelten, in Krieg über.

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Die Brüder sind einzeln und in ihren Konflikten immer wieder als repräsentativ nicht nur für das Schreiben, sondern zudem für das Handeln von Schriftstellern im vergangenen Jahrhundert betrachtet worden. Wenn kürzlich eine Koalition sechzehn Mal den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ vertraglich als Ziel ihres Handelns bezeichnet wenn nicht beschworen hat, im letzten Frühjahr ein Bundespräsident Heinrich Mann „gerade heute Vorbild“ nannte, weil er „in einer zerrissenen Gesellschaft Brücken zu schlagen“ suchte, und anderswo Thomas Manns „Weg zum Demokraten und engagierten Bürger“ als vorbildlich bezeichnet war, ist es vielleicht nützlich, aufzunehmen, wie sie gegen das Zerbrechen ihrer Gesellschaft zu handeln versuchten. Alles, was heutzutage in Europa und hierzulande als krisenhaft und problematisch gilt, ist zwar weit entfernt von der barbarischen Infragestellung des Seins und aller Gewissheiten, die sie durchlebten. Aber nicht nur sieht das in anderen Teilen der Erde anders aus. In Deutschland fehlte schon einmal sich ausbreitender nationalistischer Mentalität, extremistischer Organisation und lügengesättigter Propaganda nur noch eine Wirtschaftskrise, bis ihnen die Macht übertragen wurde. Auch für den Schritt von 2,6 auf 37,8 Prozent der Stimmen brauchte es kaum mehr als drei Jahre. Was dann getan werden kann, um Dinge zu behaupten, die – wie Heinrich formulierte – „sonst jeder gewusst hat“, müsste alles sein und ist verzweifelt wenig. Was diese beiden Brüder nun leisteten, war groß. Man kann es allerdings auch als Aufforderung betrachten, es nie so weit kommen zu lassen, dass solche Größe bewiesen werden muss. Denn sie vermochte nichts mehr gegen die Zerstörung des zivilisierten Zusammenhalts.

Die um zahlreiche und bisweilen wichtige Schreiben erweiterte Neuausgabe ihrer Briefe, die bei S. Fischer im Spätsommer herausgekommen ist, regt den intensiven Blick in solche Abgründe neu an. Man muss dazu eine Einleitung hinter sich lassen, die immer dann erstaunlich schöngeistig wird, wenn die Brüder in rauhere Zeiten kommen. Zu ihren Positionen im Ersten Weltkrieg las ich mit den Worten eines Zeitgenossen, sie seien „beide berechtigt, beide zeitgemäß und beide deutsch“ – und wunderte mich: Hatte Thomas nicht geschrieben: „Deutschlands ganze Tugend und Schönheit [..] entfaltet sich erst im Kriege“? Und Heinrich: „Reiche, die unter Panzern die Menschenliebe ersticken, […] sie mögen hinsinken“? Ist das beides nur gleich „zwiespältig und einseitig“? Ab 1933 soll Heinrich „sich aus der Wirklichkeit fortbewegt“ und „ins Private zurückgezogen“ haben. Hat dieser Mann in dieser Zeit nicht mehr politische Artikel geschrieben und mehr politische Funktionen angenommen als jemals sonst in seinem Leben? Und da Thomas etwas später ebenfalls dem „Politiker oder Journalisten“ in sich Raum gegeben hat, soll zu befürchten sein, „dass sich hier jemand in einem Aktivismus verzettelt hat, der weit unter seinem Niveau lag“ – sich in großen Werken dann aber zeigen, „dass der Kampf gegen Hitler, der viel Zeit und Kraft beanspruchte, der künstlerischen Produktion Thomas Manns nicht geschadet hat“. Waren „Lotte in Weimar“ oder „Doktor Faustus“ also das Höhere und der Kampf gegen Hitler nur niveauloser Aktivismus?

Dagegen stehen die Briefe.

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Schon die Sätze nach dem eingangs Zitierten reißen die Probleme auf. „Möge auch sie nicht ganz verworfen sein“, schrieb Thomas Mann, mit Ausrufungszeichen, zu seiner Art, der Zeit die Stirn zu bieten. Und Heinrich setzte nach deren Bestätigung fort: „Was ich selbst tue, verlang’ ich sonst von niemand, besonders von Dir nicht, und oft wird es mir zur Last, daß ich es von mir verlangen muss.“ Der Ausruf des Jüngeren zeigt auf den ersten Blick, wie tief Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt waren: Unbeirrt fiktive Welten über, neben und gegen die realen zu setzen, war schließlich der Kern schriftstellerischer Tätigkeit, seit in der Aufklärung Autonomie zu deren Prinzip geworden war. Heinrich hat das in seinem ersten Satz sofort bekräftigt. Sein zweiter zeigt aber, dass Persönlicheres ebenfalls betroffen war: Was er tat, lag dem Jüngeren vorerst nicht. Auf die Bitte um seinen Namen für einen politischen Aufruf hatte Thomas erwidert, der Aufruf sei gut – „aber es widerspräche doch meinen Vorsätzen, hier mitzutun“. Und so betonte Heinrich gleich nach dem Hinweis auf sein eigenes Tun den brüderlichen Gleichklang: „Diesen Winter will ich alles, was nicht mein Roman ist, nach Möglichkeit einschränken.“ Tatsächlich trieb er „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ voran. Aber das war keineswegs alles.

Von dieser Versicherung bis zum Ende jenes Winters 1936/37 erschienen 34 seiner politischen Artikel. Eine Tagung des Volksfrontausschusses, dem er vorstand und der dort seinen wichtigsten Aufruf beschloss, war vorzubereiten und zu leiten. Am selben Abend stand eine Rede auf einer Kundgebung für die politischen Gefangenen in Deutschland auf dem Programm. Die gleichzeitigen Pläne für eine zweimonatige USA-Reise mit Vorträgen über die Kulturfeindlichkeit des Nationalsozialismus, den Kampf für die deutsche Demokratie und die Verfolgung der Juden scheiterten nicht an einer Absage des Romanciers. In Frankreich stellte er den Vorständen eines halben Dutzends weiterer Organisationen nicht nur seinen Namen zur Verfügung. Dort und (ab Oktober 1940) in den USA erschienen insgesamt gut 500 publizistische Texte (fast die Hälfte dieses Werkteils) und standen neben den fünf Romanen, die abgeschlossen wurden, fünf ganz oder in großen Teilen politische Bücher.

Dieses Miteinander war Heinrich Mann nicht grundsätzlich neu, den ersten politischen Artikel hatte er mit 21 verfasst. Das nicht-autonome Prinzip gewann für ihn aber immer dann besonderes Gewicht, wenn der gesellschaftliche Zusammenhang am Zerreißen war. Schon im Ersten Weltkrieg hatte er die Überzeugung festgehalten: „Literatur und Politik, die beide zum Gegenstand den Menschen haben, sind nicht zu trennen.“ So auch 1936: „Es gibt keinen einzigen Vorgang auf geistigen Gebieten, der nicht gleichzeitig politisch wäre.“ Die Erwartung war niedrig. Schon 1915 mündete die Darstellung des erfolgreichen Kampfes Zolas für Dreyfus in Skepsis: „Die Wirklichkeit ist bitter und dunkel […]. Wir können nichts tun, als kämpfen für die Ziele, die nie erreicht werden.“ Hinzugesetzt jedoch war ein konditionaler Imperativ: „ – aber von denen abzusehen schimpflich wäre.“ 1936 las die Schwägerin: „Man hat noch nie gesehen, dass eines der menschlichen Unternehmen infolge rechtzeitiger Besinnung abgestoppt worden wäre. Sondern jedes musste bis an sein mehr oder weniger blutiges Ende forttreiben.“ 1941 war zu aller Geschichte sarkastisch zu sagen: „Ein universaler Ausbruch schlechter Instinkte wäre niemals verwunderlich. Staunen darf man, daß sie nicht öfter ausbrechen.“ Zola, hatte Heinrich Mann festgehalten, brauchte „erbitterten Idealismus“, um seine Werte gegen seine Zeiten zu behaupten. Das ließ er sich auch selbst gesagt sein.

Den Bruder verschonte er nicht nur mit Bitten um dessen Namen unter Appellen. In den Briefen malte er mit breitem Pinsel vor allem aus, was er wie dieser tat: „Mein Roman ist ein Inhalt mehrerer Jahre, ich muss daran genug haben. […] Diese Geschichten Jaakobs haben die grosse Ruhe, die Zeit ist aufgehoben, für die handelnden Geschlechter wie für Den, der schreibt. Dies ist, was mich heute am meisten anzieht.“ Den kleinen Satz davor konnte der Adressat und kann der heutige Leser leicht übersehen: „Ich hatte immer viel Arbeit, auch einige Geschäfte, sonst aber gar nichts.“ Man muss die Briefe an andere beachten, das Miteinander und Durcheinander von literarischer und politischer Äußerung auf den Papieren im Nachlass mit Händen greifen oder die daraus geformte Publizistik lesen, um zu sehen, wieviel Arbeit, Geschäfte und angebliches Nichts hier für den Bruder in den Hintergrund gestellt wurden.

Dabei war die Differenz nichts weniger als absolut. Thomas Mann feierte nicht nur (mit leicht süffisantem Unterton) mehrfach die „hohe und reife moralische Einfalt […] Deiner politischen Essays“. Er war selbst keineswegs nichts als der vor dem aktuellen Geschehen in eine mythische Welt entrückte Unpolitische, dessen gelegentliche Stimmung er zu Beginn seines zweiten Exiljahrs beschrieb: „Deutschland – ich rücke ihm innerlich immer ferner, was auch im Grunde das Ziel meiner Wünsche war. Ich lese kaum noch die absurden Nachrichten, atme dankbar die Luft der westlichen Welt und bin froh, von der gehässigen Misere, die man daheim so lange zu tragen hatte, entbürdet zu sein.“ Kein halbes Jahr später berichtete er stattdessen von „ausladenden Vorbereitungen zu einer Kampf- und Bekenntnisschrift gegen das Dritte Reich“ – weil „das Nicht reagieren auf die Reize, die die politischen Dinge beständig auf das kritische Gewissen üben, einem auf die Dauer doch gegen die schriftstellerische Ehre geht“.

Noch ließ er das sein – mit Blick auf den entstehenden Roman, „den Viele selbst als Gegen-Werk und -Leistung empfinden“ (so, wie er ihn dann in der Widmung für den Bruder präsentierte). Aber der Weigerung im Februar 1936, des Bruders Aufruf zu unterschreiben, folgte unmittelbar eine politische Regung: „Im richtigen Augenblick, so denke ich oft, müßte ein mit Tausenden von Namen aus aller Welt bedeckter, in herzlichen, guten und großen Tönen abgefaßter Aufruf direkt an das deutsche Volk gerichtet werden.“ Und bei solchem bloßen Denken blieb es jetzt nicht mehr. Gerade hatte sich Thomas Mann, endlich, als Exilant bekannt (für den Brief an die Neue Zürcher Zeitung hatte er vier Tage lang den Vormittag verwendet, der sonst dem Roman vorbehalten war). Nun gewann das Engagement auch für ihn an Gewicht.

Die Differenz zu dem Bruder war allerdings sofort markiert. „Die organisierte und nicht organisierte Kulturwelt Europas und Amerikas müßte das unterschreiben,“ betonte Thomas, „nicht ein Dutzend Linkspolitiker, und es müßte in der Weltpresse erscheinen.“ Der Einschub galt Heinrich. Der hatte von 1933 an eine Erfahrung gemacht, die er vier Jahre später so resümierte: „Moralische Unternehmungen müssen von einer unbezweifelbaren materiellen Kraft unterstützt werden, sonst vermögen sie nichts.“

Der Nobelpreisträger setzte ganz auf seine Persönlichkeit und die Macht des Geistes. Der große Essay „Achtung, Europa!“ mit der Überlegung, dass dieser Erdteil einen „militanten Humanismus“ und die Einsicht brauche, „daß das Prinzip der Freiheit, der Duldsamkeit und des Zweifels sich nicht von einem Fanatismus, der ohne Scham und Zweifel ist, ausbeuten und überrennen lassen darf“, ging 1936 durch wichtige Teile der Weltpresse. Ab 1937 gab er die Zeitschrift Mass und Wert heraus, die ein „Sammelplatz freien deutschen Geisteslebens“ werden sollte. Als er 1938 in die USA kam und erklärte: „Wo ich bin, ist Deutschland“, fanden sich eine Ehrenprofessur an einer Elite-Universität, ab und an eine Einladung des Präsidenten zu einem (allerdings „mäßigen“) Essen, eine verehrungsvolle und beziehungsreiche Sponsorin und – vor allem – Zehntausende, die Vorträge wie „Vom zukünftigen Sieg der Demokratie“ oder „Das Problem der Freiheit“ hörten und feierten. Im Mai 1939 schrieb er aus Princeton seinem Bruder und anderen, es sei „notwendig, für die Deutschen drinnen und für uns Vertreter des geistigen Deutschland draußen, daß wir die Verbindung miteinander aufnehmen“. Deshalb wolle er in „etwa 12 Monaten […] etwa 24 Broschüren ins Land gehen lassen, die von Repräsentanten des deutschen Geistes für die Deutschen geschrieben werden sollen. Die Schriften-Reihe soll keineswegs durchwegs politischen Charakter haben, sie soll an die besseren Instinkte unserer Landleute appellieren.“ Aus dem Vorhaben wurde nichts mehr. Vom Oktober 1940 an ermöglichte es ihm immerhin die BBC, zu Hörern in Deutschland zu sprechen. Aber nur noch Verbindung war zu versuchen – der Zusammenhalt war längst zerstört.

Der (wie Exilzeitschriften ihn öfter vorstellten) „frühere Präsident der deutschen Dichterakademie“ hatte sich seit 1933 um diese Verbindung bemüht. Vom März 1936 an gab er, mit einem Kommunisten und zwei Sozialdemokraten, ebenfalls eine Zeitschrift heraus: die Deutschen Informationen, die der „Unterrichtung der Auslandspresse über die Verhältnisse im heutigen Deutschland“ dienten. 1939 versicherte er umgehend seine „Zustimmung und Mitwirkung“ bei der „Propaganda ins Land“ und führte Weniges von dem auf, das von ihm dazu bereits vorlag: „Zum Beispiel stehen die Artikel aus der Weltbühne zur Verfügung. Der Aufruf an die deutschen Soldaten ist schon mehrfach verbreitet, einige Male ist auch ein Aufruf an die Arbeiter gesendet worden. Es kann bei diesen Sachen niemals genug werden. Eine Antwort auf die Geburtstagsrede des Minderwertigen habe ich auf Platten gesprochen. Meine Dünndruck-Manifeste zähle ich nicht mehr.“ Das waren häufig ebenfalls Appelle „an die besseren Instinkte“ der Deutschen – aber kaum in der vom Bruder gewünschten Fassung: Sämtlich trugen sie „politischen Charakter“. Und mehr noch.

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Nachdem die Rechtskonservativen, um die Heinrich Mann sich 1932 noch bemüht hatte, gemeinsam mit Herren aus der Großindustrie Hitler zur Macht verholfen hatten, hatte er sich zunächst, wie nun sein Bruder, weiterhin „durchdrungen von der alles andere übertreffenden Bedeutung des geistigen Kampfes“ gezeigt und ihn begonnen. Schnell jedoch hatte er bemerkt, wie wenig der ausrichtete. So suchte er vom Januar 1934 an nach verbündeten Kräften im Bereich der Politik – traf aber vielfach auf Versagen, gerade in der Bürgerwelt, die ihm vertraut war. Die „alten Demokratieen“ im Westen, auch sein hochgeschätztes Frankreich, neigten dauerhaft dazu, „die Verständigung aufzunehmen mit jedem beliebigen Inhaber der deutschen Macht, keineswegs ausgeschlossen den, der die Nation in ihre bisher tiefste sittliche Erniedrigung geführt hat“, und hielten noch nach schweren Vertragsbrüchen nichts von den Sanktionen, zu denen er aufrief. Der Führung der deutschen Sozialdemokratie, in deren Exilzeitung er (trotz eigener langer Abneigung) die „unbedingte, restlose Einigung“ mit der anderen großen Arbeiterpartei empfahl, war weiterhin der Abstand von den Kommunisten wichtiger. Und bürgerliche Organisationen, geschweige denn Parteien, bildeten noch nach drei Jahren Exil keine „unbezweifelbare materielle Kraft“ des Widerstands.

Anders war das nur bei der KPD und bei der Sowjetunion. Ihnen rückte Heinrich Mann daher zunehmend näher. Damit verstrickte er sich in andere Verhältnisse als sein Bruder. Der zum Tode verurteilte Kommunist Etkar André war ihm „der Deutsche in neuer, herrlicher Gestalt“. Der Kommunist Willi Münzenberg initiierte und finanzierte den Anlauf zu einer gemeinsamen Organisation der Gegner des Regimes in Deutschland, sorgte auch für die Verbreitung ihrer antifaschistischen Artikel und Aufrufe. Die KPD legte das Bekenntnis zur „demokratischen Republik“ ab, an dem ihm lag („Ich weiss, dass Bekennen und Handeln zweierlei ist“, ließ er nur einen Vertrauten lesen). Die Sowjetunion nahm er „für den grössten Versuch der unbedingten Befreiung der Menschen“ seit 1789 – „trotz dem Blut und ungeachtet eines notgedrungenen Despotismus“. Ihre bis zu der Niederlage der Spanischen Republik und der Zerschlagung der Tschechoslowakei Anfang 1939 verfolgte Politik einer „kollektiven Sicherheit“ in Europa gegen die faschistischen Mächte war ihm Beleg für ihren Charakter als „Friedensmacht“.

Dass der Despotismus in der Stalinschen Sowjetunion keineswegs notgedrungen, sondern Terror war und das „vertrackte Polizeigehirn“ des Kommunisten Walter Ulbricht, der die angestrebte Volksfront sprengte, nicht einem Persönlichkeitsschaden, sondern Systemversagen entsprang – und dass beides nicht mit den Gestehungskosten aller bisherigen Geschichte verrechnet werden konnte, weil der Anspruch der einer radikalen Erneuerung der Menschlichkeit gewesen war –, gestand Heinrich Mann den Lesern seiner politischen Artikel und vielleicht auch sich selbst nicht ein. Ebensowenig, dass die allermeisten Deutschen nicht dem durch „die Kraft der Gesinnung und die Reinheit des Ausdrucks“ beispielhaften Etkar André, sondern ihrem sogenannten Führer folgten. Öffentlich setzte er, statt auf das Ausfalten der differenzierten Überlegung, auf die „einfache Vernunft“ und schrieb immer wieder Sätze wie diesen: „Möge die deutsche Revolution dem europäischen Krieg zuvorkommen und alles kann gerettet werden!“ Nichts war treffender. Und Weniges ging weiter an der Realität vorbei, als es Mitte August 1939 veröffentlicht wurde. Der Zeit war die Stirn geboten, und gesellschaftlichem Zusammenhalt waren Grundlagen gewiesen. Aber wie!

Thomas Mann schrieb dem Bruder 1935 über die Sowjetunion ebenfalls: „Es ist da eben doch eine bessere Welt, Klassenherrschaft her und hin.“ Nach den ersten beiden Moskauer Prozessen lehnte er die Bitte um einen Gruß an die Oktoberrevolution in einem sorgfältig bedachten Brief nach Moskau jedoch ab, bekannte „Schauder“ neben „Ehrfurcht vor dem gewaltigen sozialen Experiment“ und verwies auf „Freiheit, Rechtssicherheit, individuelle Würde“ als notwendige tragende Werte eines künftigen deutschen Staates. Öffentlich allerdings verurteilte auch er den Großen Terror nicht. Heinrich Mann seinerseits nannte wie sein Bruder „Freiheit“, „Menschenrechte“ und Verteidigung der „menschlichen Persönlichkeit“, als er Ende 1937 die Grundlagen eines „Bundes freiheitlicher Sozialisten“ bestimmte, mit dem er der deutschen Opposition neuen „geistigen Zusammenhalt“ geben wollte – mit dem noch nie und nirgends erfüllten Anspruch: „Das geistige Element muss stärker werden als die Parteien zusammen genommen.“ Aber nicht diese fundamentale Gemeinsamkeit ist im Gedächtnis geblieben.

Thomas Mann bewahrte und stärkte mit der Übersiedlung in die USA 1938/39 die „bürgerlich-konservative Reputation“, an der ihm Moskau gegenüber ausdrücklich lag. In der dortigen Bürgergesellschaft fand er Bedingungen, unter denen diese Reputation etwas galt und er sein antifaschistisches Engagement vertiefen konnte. Heinrich Mann dagegen sah Ende 1938 einem Freund gegenüber den Schritt über den Atlantik anders: „Wenn ich die Hoffnung aufgegeben hätte, wär’ ich schon in Amerika.“ Er setzte gegen das Versagen der zivilisierteren Mächte und Schichten in Europa und in Deutschland fort, was er unternommen hatte, bis der Krieg es ihm unmöglich machte. Dann fiel die „materielle Kraft“ der Sowjetunion und der deutschen Kommunisten weg, die Französische Republik und seine französische Zeitung wiesen die angebotenen propagandistischen Dienste zurück, und ein Brief aus Nizza berichtete nach Princeton: „Jetzt bin ich ein recht stiller Zuschauer.“ Die wegen seiner Radikalität schon immer wacklige Reputation in jener Bürgerwelt, aus der auch er kam und die sich größtenteils mit den deutschen Zuständen abgefunden wenn nicht zu ihnen beigetragen hatte, war für die Lebenszeit und darüber hinaus weitgehend verloren.

Weder der betont bürgerliche noch der ins Sozialistische ausgreifende Schriftsteller-Intellektuelle haben die Verwüstung ihrer Zivilisation und Kultur wesentlich behindern können, die mit der Machtübertragung an die Nazis begann und im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust gipfelte. Was bleibt dennoch?

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Sicher die Hochachtung vor der Intensität und dem Niveau des Widerstands dieser Brüder gegen den spaltenden Hass und den hässlichen Deutschen, die Feststellung, dass es in schlimmen Zeiten wichtiger sein kann, Intellektueller als Schriftsteller zu sein, sowie die Mahnung, mindestens in Krisen rechtzeitig auf die jeweils Wissenden zu hören.

Und vielleicht ein Prüfen der Möglichkeiten und der Gefahren für das Bewahren gesellschaftlichen Zusammenhalts, bevor der in die Brüche geht. Beide Mann-Brüder sind aus dem Land und an den Rand getrieben worden, konnten nur noch aus solcher Ferne äußern, was sie zu sagen hatten und wurden an ihren eigentlichen Orten kaum noch vernommen. Verwandtes gibt es anderswo bis heute. In Deutschland droht Deutschen Vertreibung nicht mehr, und jede oder auch jeder kann in Talkshow- und Twitterkanäle einspeisen, was sie möchten. Nicht nur wird es in deren Geplätscher jedoch immer wieder unhörbar und setzt häufig nur das Ekelhafte sich ab: Die Bereitschaft und die Fähigkeit, Einzelinteressen und -überzeugungen mit allen in der Vergangenheit ausgetragenen ideologischen und politischen Differenzen als unwesentlich zu erkennen, wenn es ums Ganze geht, sind in Öffentlichkeit und Politik unterentwickelt. Gerade galt wieder viel zu viel Kommentar nur der Durchsetzungskraft von Parteifunktionären und war viel zu viel Stolz darauf zu besichtigen, Parteiprogramme und -interessen so weit in Kompromissen bewahrt zu haben, dass die eigenen Dogmen beim Regieren mit anderen erkennbar bleiben. Dabei war und ist es völlig egal, ob Merkel den CDU-Kern verwässert hat, als sie Atomkraft und Wehrpflicht aufgab und flüchtenden Menschen Rechte zugestand, und wieviel FDP oder Die Linke sich jetzt in einem Koalitionsvertrag findet – zu prüfen wäre allein, wie angemessen getroffene Entscheidungen und vorgesehene Schritte den Problemen und dem Wohl der Menschen wie ihrer nationalen und globalen Gemeinwesen sind und wie der dafür erforderliche Zusammenhalt herzustellen ist.

In den extremen Gefährdungen, die Heinrich wie Thomas Mann bestanden, haben die wenigsten Betroffenen allein die Grundlagen gesitteten Lebens, auf die die Brüder hinwiesen und die ihnen wie den anderen zur Flucht aus Deutschland Gezwungenen verweigert waren, zum Kompass ihres Handelns gemacht. Die heutigen Bedrohungen sind inzwischen bekannt und groß genug, um selbstbezogene Reflexe als verantwortungsfrei, weil zerstörerisch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreifen zu können. Um das nackte Leben geht es für die Deutschen noch nicht. Aber Heinrich Manns 1937 konstatierter Befund muss nicht immer wieder zutreffen, bis es zu spät ist: Sie „denken leider zuerst an das, was sie zu trennen scheint, bevor sie ernsthaft gegen den Feind aller vorgehen“.

Dem Briefwechsel zwischen Heinrich und Thomas Mann lässt sich entnehmen, was eine auf Menschlichkeit gegründete Gesellschaft ausmacht. Aus ihrem Scheitern lässt sich begreifen, wie deren Zusammenhalt gegen seine Vernichtung behauptet werden kann.

Eine gekürzte Fassung des Beitrags erschien am 24. Dezember 2021 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Zustimmung der Redaktion.

Heinrich Mann. Thomas Mann. Briefwechsel. Herausgegeben von Katrin Bedenig und Hans Wißkirchen, S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 799 Seiten, 32,00 Euro.