Der neue deutsche Größenwahn ist kein Alleinstellungsmerkmal der FDP. Die Grünen jedenfalls wollen sich nicht lumpen lassen. Auch hier eine jüngere Frau vorneweg. Franziska Brantner, Jahrgang 1979, studierte Politikwissenschaften mit internationalem Schwerpunkt in Paris und New York, arbeitete dann am St Antony’s College der Universität Oxford sowie für die Bertelsmann-Stiftung in Brüssel und promovierte 2010 an der Universität Mannheim über die Reformfähigkeit oder -unfähigkeit der UNO. Mit der Europawahl 2009 wurde sie Abgeordnete im Europäischen Parlament, hielt es dort aber nicht lange aus und erlangte bereits 2013 ein Bundestagsmandat. Seither ist sie dort Sprecherin für Europapolitik der Grünen-Fraktion und zugleich im Auswärtigen Ausschuss.
So ausgestattet machte sie sich nun anheischig, einen Grundsatzbeitrag zum Themenfeld Außenpolitik für die Programmdebatte der Grünen zu liefern. Die Lagebeschreibung ist zunächst die in der derzeitigen politischen Klasse unseres Landes übliche: Es vollziehe sich „ein Epochenwechsel“, „politische Gewichte verschieben sich“, das „Recht des Stärkeren“ drohe „die Stärke des Rechts zu ersetzen“, Deutschland könne es sich „nicht erlauben, Zaungast der Weltpolitik zu sein“. In „einer Phase der internationalen Neuordnung“ gelte es, „eine außenpolitische Strategie fit für das 21. Jahrhundert zu entwerfen“. Dies wiederum könnten die Grünen am besten, denn: sie hätten den Anspruch, „die Welt zu verbessern“, und würden die internationale Lage realistischer einschätzen als andere.
Die SPD dagegen würde Nordstream 2 vorantreiben und dadurch „Russlands Gashebel“ stärken, mit dem es die „europäische Energiesolidarität“ unterminiere. Die CDU würde tatenlos zusehen, wie ausländische Staatskonzerne „sicherheitsrelevante Firmen“ aufkaufen. Die FDP sei für digitalen Ausbau, ohne sich um die sicherheitspolitischen Konsequenzen zu kümmern, und die Kanzlerin würde sich weigern, Huawei vom deutschen 5G-Netz auszuschließen und es damit der KP Chinas „möglicherweise“ erlauben, „an der Schaltzentrale des digitalen Nervensystems Deutschlands“ zu sitzen. Das „Möglicherweise“ ist der alte psychologische Trick: versucht man, die Autorin darauf festzulegen, kann sie sich damit rausreden, das sei ja keine Tatsachenfeststellung. Dennoch ist das Gesagte das Gemeinte und die Unterstellung frech in die Welt gesetzt.
Zur Lagedarstellung gehört weiter, der geopolitische Wettbewerb sei zurückgekehrt, China und Russland seien „revisionistische Kräfte“ – der übliche Standardbegriff von der EU-Kommission bis zur Bundeswehr – und die USA würden Deutschland und die EU nicht als Verbündeten, sondern wahlweise als Vasallen oder als Konkurrenten behandeln. Deshalb müsse die EU „als geopolitischer Akteur erwachsen werden“. Brantners Alternative heißt „vernetzte Geopolitik“, und die gehe „nur mit Europa“. Dabei verweist sie auf den berühmten Satz des einstigen Grünen-Außenministers Joschka Fischer, es gäbe keine grüne, sondern nur eine deutsche Außenpolitik, und das müsse heute eine europäische Außenpolitik sein. Spätestens an dieser Stelle kommt die Frage auf, ob Brantner „nur“ einen Beitrag zur außenpolitischen Debatte leisten will, oder sich zugleich als Minister-Kandidatin anpreisen möchte, sollte das Auswärtige Amt mal wieder in Reichweite der Grünen geraten.
So lohnt es, genauer auf die sicherheitspolitischen Aussagen im engeren Sinne zu schauen. Es beginnt mit Heuchelei: Die Grünen seien „Friedenspartei“ und „auf dem Höhepunkt der deutschen Friedensbewegung gegründet“. Deshalb stünden sie „der Anwendung militärischer Mittel ganz besonders skeptisch und kritisch“ gegenüber. Gleichzeitig hätten sie die Anwendung militärischer Mittel „nicht grundsätzlich“ ausgeschlossen. Richtig. Schließlich hatte der Minister Fischer 1999 alles getan, um Deutschland erstmals seit 1945 in einen Krieg zu führen, damals gegen Jugoslawien.
Europa müsse „in geopolitischen Zeiten souverän handeln können“, es brauche „europäische strategische Souveränität“ und „Weltpolitikfähigkeit“. Praktisch heißt das, gegen China, USA und Russland müsse dieses EU-Europa „technologisch, wirtschaftlich, finanzpolitisch, umweltpolitisch und in der Welt der Normung Taktgeber in der Welt sein und Netzwerker, damit wir die Welt nach den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte mitprägen können“. Wenn wir das Werte-Gerede kurzerhand weglassen, heißt das im Klartext: Dieses Europa soll unter maßgeblichem Zutun Deutschlands seine fünfhundertjährige Vorherrschaft über die Welt, die seit 75 Jahren auf einem submissiven, zum Teil kooperativen Verhältnis zu den USA beruhte, auch im 21. Jahrhundert mit Zähnen und Klauen verteidigen. Dazu gehören Energieunabhängigkeit auf der Grundlage eines „European Green Deal“, der Ausbau des Euro als „internationale Leitwährung“, eine Optimierung „unserer Militärfähigkeiten“, um mit den USA „auf Augenhöhe“ agieren zu können. Wie das praktisch gehen soll, bleibt offen. Hielte man das für einen ernsthaften Ansatz, wären weit mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nötig. Dazu sagt Franziska Brantner nichts, aber das wäre die Konsequenz.
Ganz offen dagegen fordert sie – wieder umschweifig, unter Verweis auf Frankreich – „eine andere Einstellung zu Militäreinsätzen“. Da das mit dem UNO-Sicherheitsrat angesichts des russischen Vetos nicht gehe, dann eben ohne UNO-Mandat. Darüber hinaus brauche es „Abschreckungsstrategien“ – und das in einem klar militärischen Sinne – und die Fähigkeit, „die Eskalationsspirale“ gegen Putin oder Xi Jinping „dominieren“ zu können. Dies wiederum ist eine Forderung, die bisher nur der rechtslastige frühere Politikprofessor Christian Hacke und einige besonders konservative Schreiber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufgestellt haben. Kurzum, Brantner startet links mit einem verlogenen Bezug auf die Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre und landet mit ihrem Konglomerat rechts von der heute realexistierenden CDU.
Dabei handelt es sich offensichtlich nicht um eine Einzelinitiative. Seit November 2019 existiert ein „Forum Neue Sicherheitspolitik“ der grünen Heinrich-Böll-Stiftung. Es „vereinigt grün-nahe Expert/innen der Außen- und Sicherheitspolitik, die das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht haben“. Also den ambitionierten Nachwuchs, der die künftige deutsche Außenpolitik auf dem Ticket der Grünen zu prägen beabsichtigt. Zunächst soll die außenpolitische Programmdebatte beeinflusst werden.
Diese Experten haben inzwischen mehrere kurze „Impulspapiere“ verfertigt, die man im Internet ansehen kann. Dabei wird durchaus diskutiert, werden zum Teil unterschiedliche Akzente gesetzt. Dennoch gibt es klare Positionierungen. Im ersten Papier zum Thema: „Die Zukunft von Auslandseinsätzen“ wird definitiv und explizit gefordert, die Grünen sollten darauf verzichten, im Grundsatzprogramm oder dem nächsten Wahlprogramm „die Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr von einem Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen abhängig zu machen“. Da die Wahrscheinlichkeit gesunken sei, dass sich die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates auf ein Mandat einigen, würde Deutschland seine Entscheidung so von „autokratischen Regimen“ wie Russland und China abhängig machen und damit „der eigenen Verantwortung für Frieden und Sicherheit aus dem Weg“ gehen.
In einem zweiten Papier dagegen wird betont, die Grünen sollten militärische Auslandseinsätze auch künftig von einem Mandat des Sicherheitsrates abhängig machen. Ein drittes fordert zwar eine Entspannung der Beziehungen zu Russland, zugleich aber „den Fortbestand der Bündnisverteidigung auch nach einem US-amerikanischen Rückzug“. Ein viertes Papier trägt – ganz im Sinne von Brantner – den Titel: „Für ein souveränes Europa!“ Hier wird gefordert, wenn Europa in Zukunft seine „Werte und Interessen durchsetzen“ wolle, müsse es „weltpolitikfähig werden“, mit einer Stimme sprechen und auf einem „Vorrang von Menschenrechten“ bestehen. Der brauche zwar zivile Krisenprävention. „Aber ohne gemeinsame militärische Kapazitäten ist jedes Machtwort gegen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen unglaubwürdig“. Wer wann dieses „Machtwort“ spricht, wird natürlich hier in Berlin entschieden.
Wenn das aber wieder gegen die Bösewichte in Moskau und Peking gesprochen werden soll, sind wir wieder in der Abteilung „Größenwahn“. Die Deutschen haben in den vergangenen fünf Vierteljahrhunderten ihre Grundideologie zweimal sichtbar gewechselt: vom „Platz an der Sonne“-Imperialismus unter Kaiser Wilhelm II. zum Rassenwahn der gescheiterten Welteroberer Hitlers und schließlich in der BRD zur bürgerlich-liberalen Ordnung. Deren Protagonisten wollen jetzt das deutsche Verständnis von Demokratie und Menschenrechten globalisieren. Die Ideologien wurden ausgewechselt, der Anspruch: „Am deutschen Wesen mag die Welt genesen!“ aber blieb. Und wird von Generation zu Generation weitergereicht.
Liest man solche Papiere gründlich, weiß man aber, was uns bevorsteht, sollten diese jungen Leute Zugriff auf die deutsche Außenpolitik erhalten.