Das nördliche »Wir« gibt es nicht

Debatte Imperiale Lebensweise meets Klasse

Thomas Sablowski hat in einem Beitrag in dieser Zeitschrift jüngst die weitgehende Abwesenheit klassentheoretischer Bezüge im Konzept der »imperialen Lebensweise« kritisiert (vgl. Sablowski 2018). Ich möchte diese Kritik aufgreifen und weiterführen, teilweise auch mit Blick auf eigene Forschungsarbeiten. Zur Disposition steht dabei nicht das grundlegende Anliegen von Uli Brand und Markus Wissen, auf einer weltweiten Transformationsperspektive zu insistieren, die eben nicht in der Wiederbelebung des »guten alten« industriellen Klassenkompromisses des Fordismus bestehen kann und soll (vgl. Brand/Wissen 2018). Ein progressives Projekt muss darüber hinausweisen, und es muss – wie Brand und Wissen verdeutlichen – transnational und kosmopolitisch sein. Aber ohne einen kategorialen Bezug zu den gegenwärtigen (kapitalistischneoliberalen) Produktions- und Arbeitsverhältnissen laufen Brand und Wissen Gefahr, mit einer mittelschichts-vorgestellten Durchschnittsexistenz zu operieren, die zudem aufgrund der gewählten Beispiele noch auf »Konsum« oder auch Lebensstil reduziert wird. Damit bleiben nicht nur die alltäglichen Lebenserfahrungen der Vielen außen vor, sondern auch bei ihnen durchaus anzutreffende widerständige Praxen und Denkweisen.

Transnationale Produktion und soziale Fragmentierung

Das Konzept »imperiale Lebensweise« reflektiert nicht, dass wir es mittlerweile auch im globalen Norden mit sozial und regional fragmentierten Wachstumsgesellschaften zu tun haben (vgl. Hürtgen 2015). Konnte man in den ›goldenen‹ wohlfahrtsstaatlichen Zeiten vielleicht noch eher an ein nördliches »Wir« glauben, das »dem« Süden gegenübersteht, so ist dies inzwischen vollends fraglich. Das gegenwärtige transnationale Produktionsregime basiert auf einer (weltweiten) Organisation von Arbeit, die systematisch – und zwar im Norden wie im Süden – Arbeitszusammenhänge fragmentiert und in jeweils viele verschiedene (etwas) bessergestellte und (hunds-)miserable aufspaltet. Sozialer Ausschluss und Armut bis hin zur Verelendung sind auch in den Gesellschaften des Nordens die Folge – auch aufgrund der Transformation von Welfare zu Workfare, also dem Abbau sozialer Infrastrukturen und der Rücknahme sozialer Rechte. Anders gesagt: die Nord-Süd-Spaltung ist nicht nur eine zwischen Kontinenten, sondern sie verläuft quer zu den Ländern und Regionen, der »globale Süden« ist längst auch im »globalen Norden« beheimatet (vgl. Sassen 1996, Phelps et al. 2018; vgl. zu den Formen internationaler Arbeitsteilung das gleichnamige Stichwort im HKWM Bd. 6/II).

Produktionsseitig betrachtet ist die zentrale Dynamik der permanent vorangetriebenen Aufspaltung von Arbeits- und Lebensweisen eine der Konkurrenz. Der Abbau von Wohlfahrtsstaatlichkeit im globalen Norden bedeutet die »Rekommodifizierung « von Arbeitskraft, sie also wieder stärker als Ware zu behandeln, bei wachsender Verletzung reproduktiv-leiblicher Bedürfnisse. Und diese Rekommodifizierung erfolgt in Bezug auf einen Weltmarkt von Arbeitskräften und Produktionsstandorten in Konkurrenz. Die transnationale Produktionsorganisation vergleicht – global, regional, lokal – soziale Kosten, und damit Arbeits- und Lebensstandards von Lohnabhängigen, um im Prozess der permanenten betriebswirtschaftlichen »Optimierung« einen Vorteil in der privatkapitalistischen Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu erlangen. Die Folge sind weithin prekarisierte, sozial entsicherte Arbeits- und Lebensverhältnisse in den Gesellschaften des Nordens – aber auch eine Rücknahme von den durchaus errungenen sozialen Rechten und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in vielen städtischen Zentren des globalen Südens. Ein Beispiel hierfür ist Tunesien, wo angesichts dieser gravierenden Verschlechterungen vor knapp zehn Jahren der sogenannte Arabische Frühling begann (vgl. Erdle 2010).

Angesichts dieses transnationalen, in Nord und Süd systematisch auf Fragmentierung und sozialer Exklusion fußenden Produktionsregimes nun von linker Seite von einem nationalen oder »nördlichen« Wir auszugehen, ist problematisch. Ich habe diese nationalen Konstruktionen in der Degrowth-Debatte als konzeptionellen »wachstumslogischen methodologischen Nationalismus« bezeichnet (Hürtgen 2015). Denn die statistische Verdichtung von Lebensweisen und Konsumnormen als nationale ist selbst Teil einer virulenten herrschenden Ideologie, der man sich nicht – wenn auch ungewollt – anschließen sollte. Ideologisch wird von den transnationalen Ausbeutungsverhältnissen und Zusammenhängen abgesehen, indem man die Frage der sozialen Spaltung permanent als nationale Frage thematisiert: Sei es in der Konstruktion von »Deutschland « als Exportweltmeister und »uns« als zugehörigen Deutschen, sei es in der herrschenden, derzeit geradezu hegemonialen Reinterpretation sozialer Bedrohung als »Migrationsfrage«. Beide Male gibt es in Deutschland angeblich keine reale Not und Unsicherheit, sie sei hierzulande nur »gefühlt«. Diese Ideologie des nationalen »Wir«, selbst wenn es kritisch gemeint ist wie im vorliegenden Fall, reproduziert nationale Spaltungslinien und lenkt ab von einem Produktionsmodell, das quer zu den Ländern systematischen Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe hervorbringt.

Es ist unbestritten, dass sozialer Ausschluss für die unterschiedlichen Kontinente, Länder oder sozialen Gruppen nie ›gleich‹, immer anders dramatisch aussieht. Aber das ist Teil der aktuellen Dynamik, die soziale Zusammenhänge immer weiter aufspaltet und immer neue Formen von Ungleichheit schafft. Gemeinsam ist die strukturelle Dynamik des sozialen Auseinanderdriftens. Konsumpraktiken können entsprechend gerade nicht als räumlich-gleiche (nationale, kontinentale usw.) unterstellt, sondern müssen umgekehrt als Bestandteil der – auch subjektiv-distinktiv – vorangetriebenen Fragmentierungslogik angesehen werden: Es wird immer entscheidender, wer sich was noch leisten kann! Der in der Tat groteske Run auf SUVs ließe sich beispielsweise thesenartig in einen analytischen Zusammenhang stellen zu den immer breiteren und massiveren sozialen Ausschlüssen: Er wäre dann Symbol keineswegs nur von männlicher, sondern auch von sozialer Stärke, die gerade nicht mehr selbstverständlich ist; oder auch Sinnbild eines kleinfamiliären Sicherheitsraumes angesichts von Gefährdungen aller Art. Es ist jedenfalls irreführend, SUV-Konsum einfach nur als exemplarisch für eine Lebensweise von »uns« oder »hierzulande« anzusehen.

Alltagspolitische Subjektivierungen zur Kenntnis nehmen

Meine zweite Kritik bezieht sich auf die Analyse der Subjektivierungsformen. Es ist in linken Theoriekreisen leider verbreitet (und auch Brand und Wissen verfahren so), von den herrschenden Strukturen und Normen auf alltägliche Praxis zu schließen, also deduktiv zu verfahren: Weil (viele) Menschen eine bestimmte Art von Konsum praktizieren, entwickeln sie auch einen entsprechenden Habitus, der auf diese Art von Konsum ausgerichtet ist und beispielsweise SUVs toll findet. Die kritische empirische Subjektwissenschaft zeigt, dass es so einfach nicht ist. Es gibt im (Arbeits-)Alltag verbreiteten Zweifel an »Wachstum«, es gibt unverhoffte Ausstiegsmodelle und Grenzsetzungen bei »ganz normalen« Leuten. In unserer eigenen Studie haben Stephan Voswinkel und ich – obwohl das nicht direkt Thema war – mit einigen dieser »normalen« Beschäftigten zu tun gehabt, die bewusst versuchen, aus dem Konsumhype auszusteigen, weil ihnen das zu stressig ist, weil sie es nicht gut finden, weil sie keine Lust haben, wegen mehr Geld noch länger zu arbeiten oder aus anderen Gründen (Hürtgen/Voswinkel 2014).

Ein weiteres Beispiel sind Vorgänge wie in Templin. Templin ist eine ostdeutsche Kleinstadt mit 16 000 Einwohnern und nicht wenigen Touristen, wo Mitte der 1990er-Jahre zur Vermeidung von Staus ein kostenloses Nahverkehrssystem erprobt wurde. Was war das Resultat? Die Fahrgastzahlen explodierten, nahezu alle nutzten das öffentliche System – woraufhin die Stadt erklärte, dass sie die nunmehr notwendigen Investitionen in Busse, Infrastruktur, Personal und so weiter nicht stemmen könne. Seither werden ähnliche Experimente im herrschenden Diskurs als »leider langfristig doch unrealistisch« dargestellt, während der Großteil der linken Ökologie-Debatte (Ausnahmen z. B. Brie 2009 oder PlanB konkret 2015) dazu schweigt oder schlimmer: weiter von den »verblendeten Normalos« ausgeht. Brand und Wissen setzen zwar für ein künftiges hegemoniales Projekt der solidarischen Lebensweise explizit auch auf »Bewegungen« zur Re-Kommunalisierung sozialer Infrastruktur – aber »Alltag« als zentraler Ort der Produktion von Sicht- und Handlungsweisen bleibt bei ihnen weitgehend gesetzt, auf den Habitus der imperialen Lebensweise ausgerichtet.

Der Witz an der (Alltags-)Praxis ist aber gerade, dass sie nie nur Abklatsch der herrschenden Verhältnisse ist, sondern diese in je eigener Weise variiert und transzendiert. Eben dieses Potenzial der Transzendenz (und seine konkrete Stärke und Ausrichtung) ist entscheidend für die Frage progressiver gesellschaftlicher Veränderung – und auch nach der Orientierung einer »Bewegung«. Wie weit dieses Potenzial real vorhanden ist, wie weit es reicht, ob und in welcher Weise es progressiv ist, wie genau widersprüchlich – das ist jeweils nur konkret historisch zu untersuchen und zu beantworten. Entsprechend sollten theoretische Verallgemeinerungen über Subjektivierungsformen nicht vorschnell von den herrschenden Normen und Strukturen auf die Alltagspraxis schließen. Denn eine theoretische Diskussion, die Alltagspraxis in ihrer Komplexität nicht zur Kenntnis nimmt und in den eigenen Konzepten aufgreift, macht alltägliche Widersprüchlichkeiten und Widerständigkeiten »kritisch« platt, statt den »bon sens« (Antonio Gramsci), also das Praktisch-Progressive im Alltagsverstand zu stärken und zu fördern.

Literatur

Brand, Ulrich/Wissen, Markus, 2018: »Nichts zu verlieren als ihre Ketten?« Neue Klassenpolitik und imperiale Lebensweise, in: LuXemburg 1/2018, 104–111

Brie, Michael, 2009: Entgeltfreier Öffentlicher Personennahverkehr statt »Abwrackprämie«!, rls-Standpunkte 8/2009, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/standpunkte_0908.pdf

Erdle, Steffen, 2010: Ben Ali’s ›New Tunisia«. A Case Study of Authoritarian Modernization in the Arab World, Berlin

HKWM – Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, 2004: Internationale Arbeitsteilung, v. M. Candeias, Bd. 6/II, hg. v. W.F. Haug, 1359–1372

Hürtgen, Stefanie, 2015: Das Konzept der strukturellen Heterogenität und die Analyse fragmentierter Wachstumsgesellschaften in Europa, Working Paper 2/2015 der DFG-KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften, www.kolleg-postwachstum.de/sozwgmedia/dokumente/WorkingPaper/wp2_2015.pdf

Dies./Voswinkel, Stephan, 2014: Nichtnormale Normalität? Anspruchslogiken aus der Arbeitnehmermitte, Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Bd. 164, Berlin

Phelps, Nicholas A./Atienza, Miguel/ Arias, Martin, 2018: An invitation to the dark side of economic geography., in: Environment and Planning A: Economy and Space, Vol. 50 (I), 236–244

PlanB konkret, 2015: Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr, hgg. v. Die LINKE im Bundestag, www.plan-bmitmachen.de/wp-content/uploads/2013/06/150521-plan-b-a5-mobil-web.pdf

Sablowski, Thomas, 2018: Warum die imperiale Lebensweise die Klassenfrage ausblenden muss, in: LuXemburg-Online, Mai, www.zeitschrift-luxemburg.de/warum-die-imperiale-lebensweise-dieklassenfrage-ausblenden-muss/

Sassen, Saskia, 1996: Metropolen des Weltmarktes. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt a. M./New York, Frankfurt a. M./New York

Dieser Artikel ist erschienen in Luxemburg 2/2018, S.124-129.

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Stefan Lessenich: Lebenslügen der Wohlstandsinseln

Bernd Rötger und Markus Wissen: Ökologische Klassenpolitik

Ulrich Brand und Markus Wissen: »Nichts zu verlieren als ihre Ketten?« Neue Klassenpolitik

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