Politische Ökonomie der Menschenrechte

Zur Kritik von Marx an den universalen Menschenrechten der bürgerlichen Revolutionen, Teil II – Von Rainer Roth*

in (30.07.2018)

In: express 7/2018

Im express 06/2018 haben wir begonnen, Rainer Roths Vortrag für die lea-Bildungsgesellschaft der GEW vom 25. April 2018 zu dokumentieren. Rainer Roth diskutiert die Marxsche Position zur vermeintlichen Universalität der Menschenrechte und ihre Einschränkung unter den real existierenden Klassenverhältnissen – die bereits im universellen Recht auf Eigentum angelegt sind. Im hier abgedruckten zweiten Teil der Dokumentation geht Rainer Roth auf die historischen Details der bürgerlichen Revolutionen, der Sklaverei und ihrer Abschaffung und Konsequenzen für eine heutige Menschenrechts- und Eigentumsdebatte ein.

Wie kommt es, dass Menschenrechte gegen Menschenrechte kämpfen?

Die amerikanische Revolution richtete sich gegen die englische Kolonialmacht. Hier kämpfte Menschenrecht gegen Menschenrecht. Denn der »Kampfruf ›liberty and property‹ (war auch) die zentrale Losung« (Schröder 1986, 251) der englischen Revolution in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Der Engländer John Locke gilt als »Vater der Menschenrechte« (König 1994, 118), als hätte er diese gezeugt. »Life, liberty, property, sagte der alte John Locke, der sie (die Menschenrechte) zum ersten Mal formuliert hat, Leben, Freiheit und Eigentum« (Uwe Wesel, Die Zeit, 14. Mai 1993). John Locke gilt deswegen auch als Inspirator der amerikanischen Verfassung.

Nebenbei war der Vater der Menschenrechte auch ein energischer Repräsentant englischer Sklavenhalter in Nordamerika und Aktionär der königlichen Sklavenhandelsgesellschaft.

Von 1793 bis 1815 führten auch England und Frankreich Krieg gegeneinander, beides Länder, die auf dem Boden der Menschenrechte standen. Wie ist das möglich?

Folgt man der materialistischen Anschauung von Marx, ist das Rätsel schnell gelöst.

Die Interessen der Privateigentümer verschiedener Nationen, die den Kern der jeweiligen Menschenrechte ihrer Länder bilden, konkurrieren national und international miteinander. »Die sogenannten Menschenrechte … sind nichts anderes als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen.« (Marx (1843), Zur Judenfrage, MEW 1, 364) Der Egoismus »des Menschen« setzt sich fort im Egoismus der Staaten dieses bürgerlichen Menschen, dem Nationalismus.

Und der ökonomische Konkurrenzkampf der bürgerlichen Nationen untereinander setzt sich in Kriegen fort. »Die französische Revolution gab ihm (dem britischen Bourgeois) eine herrliche Gelegenheit, mit Hilfe der kontinentalen Monarchien den französischen Seehandel zu ruinieren, französische Kolonien zu annektieren, und die letzten französischen Ansprüche auf Nebenbuhlerschaft zur See zu unterdrücken.« (Engels (1892), MEW 22, 304) Die universalen Menschenrechte und der universale Gott kämpfen auf jeder Seite mit. Gott und Menschenrechte bekämpfen sich selbst. Der jeweils ökonomisch und militärisch Stärkere siegt.

Noch einmal das »normative Projekt des Westens«

Wie kann man trotz allem an dem Dogma der Universalität der Menschenrechte festhalten? Auch hier weiß Heinrich August Winkler Rat. »Aber alle (auch die Sklaven, Indianer und Frauen) konnten sich auf diese Menschenrechte berufen«, fährt Winkler fort, »und sie haben es getan. Das Projekt war insofern klüger als seine … in rassistischen Vorurteilen befangenen Schöpfer. Das ist die eigentliche Dynamik des westlichen Projekts.« (Winkler 2015, 26) Wenn sich alle darauf berufen, gelten die Menschenrechte allein dadurch für alle, obwohl sie in der Realität des Privateigentums nicht für alle gelten können.

Leider aber war der Kampf der US-amerikanischen Sklaven um ihre Befreiung verfassungsfeindlich, d.h. ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Für Sklaven galten nämlich Slave Codes bzw. Negro Acts, die laut Verfassung Sache der jeweiligen Bundesstaaten waren. Sklaven, die dem Rat folgten, die Freiheit auf sich zu beziehen, waren dem Terror der herrschenden Menschenrechtler ausgesetzt. Sie wurden ausgepeitscht, verstümmelt oder bei lebendigem Leibe verbrannt. »Jede Handlung, unternommen, um Rebellionen zu unterdrücken und Schwarze zu töten, ›ist hiermit für rechtmäßig erklärt, mit welchen Vorsätzen und Zielen auch immer, und zwar in vollem Umfang, als ob solche rebellischen Schwarzen einem formalen Verfahren und einer formalen Verurteilung unterzogen worden seien‹«, hieß es im Negro Act von South Carolina, der bis 1865 galt (Roth 2017, 152).

Winkler glaubt, dass es rassistische Vorurteile waren, die zur Versklavung der Afrikaner führten. Das ist Unsinn. Für ihr Ziel, Zuckerrohr, Tabak, Baumwolle usw. in Plantagen für den Weltmarkt anzubauen, fanden die bürgerlichen Geschäftsleute keine geeigneten Arbeitskräfte in Nordamerika. Das brachte sie darauf, Afrikaner kidnappen zu lassen und zu versklaven. Das Vorurteil, dass Afrikaner minderwertige Wesen auf dem Stand von Kindern seien, die gar nicht fähig sind, in Freiheit zu leben, rechtfertigte ihre Versklavung (vgl. Roth 2017, 226-257). Es waren ökonomische Interessen, nicht Vorurteile, die amerikanische Sklavenhalter daran hinderten, ihre Sklaven zu befreien.

Die Abschaffung der Sklaverei in den Nationen der Menschenrechte, in England, Frankreich und den USA im Laufe des 19. Jahrhunderts war nicht Folge der Eigendynamik des »westlichen Projekts« der Menschenrechte. Das ist nichts weiter als Selbstbeweihräucherung. Die Sklavenbefreiung war teils Folge der Rebellionen der Sklaven selbst und teils der ökonomischen Interessen der industriellen Bourgeoisie, die mächtiger waren als die von Großgrundbesitzern (ausführlich dazu: Roth 2017, S. 264-391).

Sollen wir uns auf die universalen Menschenrechte berufen?

Marx rät der Arbeiterbewegung davon ab.

Er nannte es einen Irrtum, »den Sozialismus als Realisation der … historisch in Umlauf geworfnen bürgerlichen Ideen nachweisen (zu) wollen«, und bezeichnete es als »Utopismus, den notwendigen Unterschied zwischen der realen und der idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu begreifen, und daher das überflüssige Geschäft zu übernehmen, den idealen Ausdruck, das verklärte und von der Wirklichkeit selbst als solches aus sich geworfne reflektierte Lichtbild (d.h. die universalen Menschenrechte auf Freiheit, Gleichheit und Eigentum), selbst wieder verwirklichen zu wollen« (Marx (1858), Grundrisse, Berlin 1953, 916).

Er griff den doktrinären Sozialismus an, »der im Grunde nur die jetzige Gesellschaft idealisiert, ein schattenloses Bild von ihr aufnimmt (in Form der unveräußerlichen Menschenrechte) und sein Ideal gegen seine Wirklichkeit durchsetzen will«, und erklärt, das sei der Sozialismus des Kleinbürgertums (Marx (1850), Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 89).

Von daher nannte Engels »das alte ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ eine Vorstellung, die als Entwicklungsstufe ihrer Zeit und ihres Orte berechtigt war, die aber … jetzt überwunden sein sollte, da sie nur Verwirrung in den Köpfen anrichten« könne (Engels an Bebel, 18./28. März 1875, MEW 34, 129).

Ausführlich legte Engels in einer kleinen Abhandlung über den Juristen-Sozialismus dar, dass es bürgerlich sei, vor allem juristisch zu argumentieren und sich dabei noch ein eigenes Recht auszudenken, das es gegen das herrschende Recht durchzusetzen gelte:

»Wie ihrerzeit die Bourgeoisie im Kampf gegen den Adel die theologische Weltanschauung noch eine Zeitlang aus Überlieferung mitgeschleppt hatte, so übernahm das Proletariat anfangs vom Gegner die juristische Anschauungsweise und suchte hierin Waffen gegen die Bourgeoisie. Die ersten proletarischen Parteibildungen wie ihre theoretischen Vertreter blieben durchweg auf dem juristischen ›Rechtsboden‹, nur dass sie sich einen anderen Rechtsboden zusammenkonstruierten, als der der Bourgeoisie war«. … (Doch) diese Belassung der Frage auf dem bloßen juristischen ›Rechtsboden‹ (machte) keineswegs eine Beseitigung der durch die bürgerlich-kapitalistische und namentlich die modern-großindustrielle Produktionsweise geschaffenen Übelstände möglich« (Engels (1887), Juristen-Sozialismus, MEW 21, 493).

»Die Arbeiterklasse, die durch die Verwandlung der feudalen Produktionsweise in die kapitalistische alles Eigentums an den Produktionsmitteln entkleidet wurde und durch den Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise stets in diesem erblichen Zustand der Eigentumslosigkeit wieder erzeugt wird, kann in der juristischen Illusion der Bourgeoisie ihre Lebenslage nicht erschöpfend zum Ausdruck bringen. Sie kann diese Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die Dinge ohne juristisch gefärbte Brille in ihrer Wirklichkeit anschaut. (…) Hiermit war die der Lebens- und Kampfeslage des Proletariats entsprechende Weltanschauung gegeben; der Eigentumslosigkeit der Arbeiter konnte nur die Illusionslosigkeit ihrer Köpfe entsprechen. Und diese proletarische Weltanschauung macht jetzt die Reise um die Welt« (ebd., 494).

Davon, dass sie in größerem Maße Anklang findet, kann zur Zeit nicht die Rede sein. Aber aktuell bleibt, dass es der Lage der Arbeiterklasse angemessen ist, von kollektiven Interessen der Arbeiterklasse auszugehen, statt von der Einforderung von Rechten, denen in der abstrakten Form von »Werten« bürgerliche Interessen zugrunde liegen.

Ist die bürgerliche Gesellschaft das Endstadium der Geschichte?

Wenn das Menschenrecht auf freie Betätigung des Privateigentums natürlich, unveräußerlich und unantastbar ist, dann erst recht der Gesellschaftszustand, der es hervorgebracht hat, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft. Sie gilt als Endstadium der Geschichte, genauso unantastbar wie die Rechte, die ihr ideeller Ausdruck sind. Doch: »Die Kategorien sind genauso wenig ewig wie die Beziehungen, die sie ausdrücken. Sie sind historische und vorübergehende Produkte« (Marx an Annenkow, 28. Dezember 1846, MEW 27, 459). Die Menschenrechte drücken die bürgerlichen Verhältnisse in Form von Idealen aus und überschreiten diesen Horizont nicht. Die Generalversammlung der UNO nannte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 die Menschenrechte »als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal«. Die bürgerlich-egoistische Gesellschaft soll also das anzustrebende Ziel der Geschichte sein.

Die Menschenrechte wurden 1789 »in Gegenwart und unter dem Schutz des allerhöchsten Wesens« verkündet. Menschenrechte unter dem Schutz Gottes? Welch grandioser Unsinn! Für den damaligen Stellvertreter Gottes, den Papst, standen Gott und damit auch die Kirche über dem Recht. Menschenrechte galten als Anmaßung. Erst 1963 erkannte Papst Johannes XXIII. die Menschenrechte an, natürlich im Namen Gottes. Merkwürdig, da doch für alle wirklich gläubigen Christen Gott nach wie vor über allem Menschlichen stehen müsste, nicht nur für orthodoxe Muslime. Das Bürgertum setzte Rechte an die Stelle Gottes, nicht ohne sie als geheiligt zu verehren, so dass Marx von ihnen als »moderne Mythologie mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und fraternité« sprach (Marx an Friedrich Adolph Sorge, 19. Oktober 1877, MEW 34, 303).

Die französische Menschenrechtserklärung vom August 1789 gibt bis heute den Takt vor. »Die Unkenntnis, das Vergessen oder die Missachtung der Menschenrechte (sind) die alleinigen Ursachen für die öffentlichen Missstände«. Gibt es also öffentliche Missstände, kann es nur an Verstößen gegen die Menschenrechte liegen. Jeder Gedanke, dass die Umsetzung der bürgerlichen Menschenrechte, z.B. der freien Bewegung des Privateigentums, selbst Missstände hervorrufen könnte, wird damit für abwegig erklärt.

Was nun?

Marx nennt die Menschenrechte einen »prunkvollen Katalog« (Das Kapital, erster Band, MEW 23, 320). Sie schweben als verklärte Ideen oberhalb einer Realität, in der millionenfach Löhne gezahlt werden, die unterhalb des heutigen Existenzminimums liegen, und ebenso millionenfach Armutsrenten, einer Realität, in der nicht die Sicherheit, sondern die Unsicherheit von Beschäftigungsverhältnissen zunimmt. Gleichzeitig liegen gigantische Summen von Kapital brach und suchen verzweifelt nach Anlage. Kapital hat kein angeborenes, unantastbares und unveräußerliches Bedürfnis, Verhältnisse zu schaffen, die in erster Linie dazu dienen, die Bedürfnisse arbeitender Menschen zu befriedigen.

Für Lohnabhängige haben also konkrete Forderungen, die ihre Lage verbessern, große Bedeutung. Das Glück, das die Menschenrechte allen Menschen versprechen, besteht zum geringsten Teil aus ideellen Rechten und sogenannten Werten, zum allergrößten Teil aber aus materiellen Mitteln. »Und da sorgt die kapitalistische Produktion dafür, dass der großen Mehrzahl … nur das zum knappen Leben Notwendige zufällt« (Engels (1888), Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, 288). Wobei das, was zum Leben notwendig ist, sich natürlich mit dem Fortschritt der technischen Möglichkeiten verändert.

Für Forderungen zu kämpfen, die die Lebensverhältnisse verbessern, ist wirkungsvoller, als für juristische Illusionen einzutreten. Marx kommentiert den 1847 endlich erkämpften Zehnstundentag: »An die Stelle des prunkvollen Katalogs der ›unveräußerlichen Menschenrechte‹ tritt die bescheidene Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstags.« (Das Kapital, Erster Band, MEW 23, 320) Andere bescheidene Ziele sind heute ein erheblich höherer Mindestlohn von elf Euro, der nicht besteuert wird, eine Mindestrente von 1.050 Euro netto, eine Erhöhung des Eckregelsatzes von Hartz IV auf mindestens 600 Euro, der Sechs-Stundentag bzw. die 30-Stunden-Woche usw. usf.

Zwangsgesetze der Märkte und der Freien Konkurrenz von Privateigentümern

Der Kampf für Tagesforderungen stößt aber auf erhebliche Hindernisse. Denn die menschenrechtlich verbürgte »scheinbar vollendete Unabhängigkeit des Individuums« erzeugt Verhältnisse, die in der Unterwerfung unter »die Märkte« bestehen. Nicht die Befriedung von menschlichen Bedürfnissen steht im Mittelpunkt, sondern die Verwertung von Kapital. Fehlt es an rentabler Anlage, türmen sich Reichtümer in Geldform auf, die spekulativ ›angelegt‹ werden oder eben verfallen. Im Überfluss mangelt es folglich am nötigsten. Die Freiheit jedes Kapitalinhabers zu produzieren, was Aussicht auf Geschäftserfolg hat, führt am Ende unvermeidlich zu Überproduktion und Krisen, die niemand gewollt hat.

Die von »freien« Menschen geschaffenen Verhältnisse des Weltmarkts beherrschen die Menschen, nicht umgekehrt. Ein Zustand aber, in dem Menschen nicht Herren der von ihnen geschaffenen Verhältnisse sind, sondern diese als Zwangsgesetze die Menschen beherrschen, ist ein moderner Zustand der Sklaverei. »Eben das Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft ist dem Schein nach die größte Freiheit.« (Marx/Engels (1845), Die heilige Familie, MEW 2, 123)

Die Lohnabhängigen sind diesem Sklaventum der kapitalistischen Marktwirtschaft unterworfen. Die »sachliche Abhängigkeit … (schlägt) wieder in bestimmte, nur aller Illu­sion entkleidete, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (um)« (ebd., 82). Ob und inwieweit die Fähigkeiten von Menschen sich entwickeln können, entscheidet »der Markt« – ob man für seine Arbeitskraft überhaupt einen Käufer findet, ebenfalls.

Mit der bürgerlichen Revolution ist die Emanzipation des Menschen noch nicht vollendet. Sie ist auf dem Boden der Warenproduktion, auf dem Boden der Lohnabhängigkeit und im Rahmen der Menschenrechte für und von Egoisten nicht möglich.

Schluss

Wenn das Menschenrecht auf Eigentum, wenn schon nicht universal, aber immerhin ein Menschenrecht der Mehrheit statt einer Minderheit werden soll, kann es nur gesellschaftliches, nicht mehr privates Eigentum an Produktionsmitteln sein, Eigentum eben dieser Mehrheit, nicht nur einer Minderheit. Dass alle Menschen Privateigentümer werden, ist dank des Konkurrenzkampfes, der immer mehr Privateigentümer ruiniert, völlig illusorisch. Das Recht auf Privateigentum ist eine »juristische Illusion«.

Eigentum, das die wachsende Eigentumslosigkeit der großen Mehrheit zur Voraussetzung hat, kann nicht Grundlage der ökonomischen Verhältnisse im Interesse dieser Mehrheit sein. Eigentum, das auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht, kann nicht die Grundlage für die Freiheit der Mehrheit der Menschen sein.

Wenn das Menschenrecht auf Freiheit eine Freiheit für die große Mehrheit der Arbeitenden werden soll, kann sie nicht auf Lohnabhängigkeit beruhen. Wie schon John Locke, der Vater der Menschenrechte, sagte: »Ein freier Mensch macht sich dadurch zum Knecht eines anderen, wenn er ihm gegen Lohn … seine Dienste verkauft, die er dann verrichtet.« (John Locke (1690), Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt 1977 II, § 85, 251) Wer seine Arbeitskraft als Ware verkaufen muss, ist schon allein dadurch unfrei. Freiheit setzt Eigentum voraus. Die heute Lohnabhängigen können nur frei werden, wenn sie gesellschaftliche Eigentümer werden und aufhören, Lohnarbeiter zu sein, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft als Ware abhängen.

Dennoch: die heutige bürgerliche Gesellschaft und die von ihr entwickelten gewaltigen Produktivkräfte machen einen Gesellschaftszustand möglich, »worin es keine Klassenunterschiede, keine Sorgen um die individuellen Existenzmittel mehr gibt, und worin von wirklicher menschlicher Freiheit, von einer Existenz in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen zum erstenmal die Rede sein kann.« (Engels (1894), Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW 20, 107)

Typisch für alle bürgerlichen Revolutionen ist, dass sie das Menschenrechtsversprechen von universaler Freiheit nicht einlösen können. Doch die Proklamation von Freiheit kann bei den unterdrückten Schichten und den Völkern der Welt das Interesse beflügeln, dass Freiheit für sie nicht nur proklamiert, sondern verwirklicht wird. Diese Freiheit kann nicht durch die Universalisierung der Freiheit der Privateigentümer verwirklicht werden, die sich als das wichtigste Recht aller Menschen darstellt.

Den bürgerlich-beschränkten Charakter der Menschenrechte aufzudecken, ist eine Voraussetzung dafür, keine Illusionen in die Entwicklungsfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft zu hegen.

Die Beschränktheit der bürgerlichen Revolution verlangt ihrerseits selbst wieder nach einer revolutionären Auflösung.

* Rainer Roth ist emeritierter Professor der Sozialwissenschaften, Vorsitzender von Klartext e.V. (www.klartext-info.de), Mitarbeit im Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne und Kampagnen für sozialpolitische Forderungen

Ausgewählte Literatur:

König, Siegfried: »Zur Begründung der Menschenrechte: Hobbes, Locke, Kant« Freiburg 1994

Nicholson, Philip Yale: »Geschichte der Arbeiterbewegung in den USA« Berlin 2006

Roth, Rainer: »Sklaverei als Menschenrecht«, Frankfurt 2017 (Auszüge: http://www.klartext-info.de/buecher/sklaverei_als_menschenrecht.htm)

Schröder, Hans-Christoph: »Die Revolutionen Englands im 17. Jahrhundert« Frankfurt 1986

Winkler, Heinrich August: »Geschichte des Westens« München 2009

Winkler, Heinrich August: »Ein neuer Sonderweg«, in: Der Spiegel, Nr. 1/2015, 26-29

 

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